Stefan Banz: Das Missverständnis der Fotografie
... Haben Sie die Leiche denn auch selbst gesehen? Waren Sie am Tatort,
als man sie gefunden hatte?»
«Nein.»
«Was heisst, nein? Sie untersuchen einen Fall und haben die Leiche
nicht gesehen?
Und Sie waren bei der Spurensicherung nicht einmal am Tatort?»
«Nein.»
«Warum nicht?»
«Als die Leiche am letzten Donnerstag aufgefunden wurde, war es nicht
mein Fall.
Es war der Fall von Henk Steiner. Wie schon gesagt, er hatte an diesem Tag
eine Leberzirrhose. ...
Die Leiche ist in der Gerichtsmedizin. Ich fand es nicht notwendig, dort
persönlich vorbeizugehen,
bevor der Obduktionsbericht vorliegt. Ich habe ja die Fotos, die die Leiche
am Tatort zeigen.»
«Das ist, wenn Sie mich fragen, eine heikle Angelegenheit.»
Jan zog die Stirne hoch
und wirkte fast ein wenig verständnislos. «Fotografie ist oft
der Grund für grosse Missverständnisse ...»
«Was heisst Missverständnisse? Das verstehe ich nicht.»
Wein wirkte überfordert.
Er kaute an den Fingernägeln, obwohl es dort eigentlich schon länger
nichts mehr zu kauen gab.
Die Nägel waren bis aufs Fleisch zurückgekaut.
Ein tolles Sujet!, dachte Jan und fragte selbstbewusst: «Darf ich
ihre Finger fotografieren?»
«Was möchten Sie?» Für Wein kam diese Frage vollkommen
unvorbereitet.
«Ich würde gerne ihre Finger fotografieren», wiederholte
Jan.
«Hat das eine bestimmte Bedeutung?» Wein war eitel und auch
ängstlich. Er wollte
nicht kompromittiert werden.
«Es hat keine spezifische Bedeutung. Ich fotografiere alles, was ich
interessant finde.»
«Finden Sie meine Finger interessant?»
«Ja, sehr!»
«Warum?»
«Weil ihre Nägel so stark abgekaut sind.»
«Ach so. ... Ja. Aber man sollte mein Gesicht nicht sehen.»
«Sehen Sie Herr Wein. Sie glauben, Fotografie könne die Wahrheit
wiedergeben. Sie
könne von Ihnen etwas offenlegen, was Sie zu sein glauben, aber was
Sie so, wie
es scheint, nicht preisgeben möchten. Ist das nicht ein Missverständnis?
Ich
persönlich glaube nicht an diese Form von Wahrheit in der Fotografie.
Ich
persönlich glaube, dass Fotografie gerade umgekehrt die Phantasie beflügelt
und
dass sie in uns Dinge weckt, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben.»
«Wie meinen Sie das. Sie überraschen mich.»
«Sehen Sie», fuhr nun Jan mit ruhiger Stimme fort, «ich
gebe Ihnen ein
einfaches Beispiel: Ein kleines Mädchen spielt mit seiner Lieblingspuppe.
Plötzlich fällt sie in
ein Bassin und füllt sich vollkommen mit Wasser auf. Sie geht unter.
Schnell ergreift das kleine
Mädchen seine Puppe, trennt den Kopf vom Rumpf, um sie des Wassers
zu entledigen.
Anschliessend führt sie Kopf und Rumpf wieder zusammen. Nun, exakt
in dem Moment,
als das Mädchen den Kopf vom Rumpf der Puppe trennt, machen Sie einen
Schnappschuss. Sie drücken sogar dreimal ab: Auf den Fotos sieht man
einmal wie
das Mädchen die Puppe köpft, einmal wie das Wasser aus dem Kopf
und einmal aus
dem Rumpf fliesst. Als unbeteiligter Betrachter scheinen diese Fotos nun
eine
ganz andere Geschichte zu erzählen. Man glaubt, dieses kleine Kind
hätte eine
markant ausgeprägte, sadistische Ader und malträtiere ihre Puppe;
das Wasser ist
plötzlich Metapher für Blut, und die rücksichtsvolle Episode
wird auf den Fotos
eine 'rücksichtslose' und 'blutrünstige' Tat.»
«Was wollen Sie damit sagen», fragte Wein vorsichtig.
«Eine Fotografie ist immer eine Extraktion, zum Beispiel einer 1/125-Sekunde,
aus
dem Leben. Es ist ein Jetzt, es gibt kein Davor und kein Danach. Dies begünstigt
Phantasie
und Spekulation in alle Richtungen. Fotografie hat deshalb im engeren Sinne
nichts mit
dem Leben zu tun. Das Leben, die Wirklichkeit, ereignet sich in Zeit und
Raum.
Eine Fotografie aber ist weder Raum noch Zeit. Sie ist eben dieses Jetzt
oder dieses War
und sagt deshalb nichts über das Leben, so wie es sich ereignet(e).
Wenn Sie zum Beispiel
einen Text schreiben und ich pflücke ein einziges Wort aus ihm heraus
und behaupte, dieses
Wort sage alles über dessen Inhalt, dann würden Sie unwiderruflich
entgegnen: Dieses Wort
sagt nichts über den Inhalt dieses Texts, dieses Wort sagt einzig etwas
über sich
selbst, über seine eigene Bedeutung, und über die Möglichkeiten,
wo und wie es
konnotiert. Wähle ich ein IST, ein HAT, ein DAS, ein WO etc., dann
wähle ich
Wörter, die unendlich verknüpfbar sind und deshalb unendlich viele
Bedeutungen
generieren können. Wähle ich ein Wort wie GEFÄNGNIS, MORD
oder WEIN, dann bin ich
zwar etwas eingeschränkter, bewege mich aber trotzdem noch immer auf
beinahe
unendlich vieldeutigem Terrain. Weil ich Sie zum Beispiel als Polizeibeamten
kenne, bedeutet Wein für mich nicht nur alle mir bekannten Weinsorten,
sondern
auch Polizeibeamter Wein, der für diese und jene Eigenschaften steht.
Kenne ich
Sie aber nicht, dann gibt es auch die Bedeutungsebene Wein = Polizeibeamter
nicht. Fotografie ist in diesem Sinne das abstrakteste Medium, das existiert,
weil es im Grunde nichts mit dem Ereignis des Lebens zu tun hat. Das heisst
aber
nicht, dass sie tatsächlich nichts mit dem Leben zu tun hat, es heisst
nur, dass
sie nicht das Leben ist und es auch nicht repräsentiert. Ihre Bedeutung
hängt
alleine von uns Rezipienten ab. Wir bestimmen, welche Form von Leben wir
der
Fotografie einhauchen - im Unterschied etwa zu Malerei, Bildhauerei oder
Video,
wo der Autor durch Komposition, Gestaltung, Erfindung oder Verfremdung dieses
Davor oder Danach, wie bei einem Text, stets einhaucht oder mitimpliziert.
Das
heisst aber auch nicht, dass ein Künstler dieses spezifisch Fotografische
in
einem malerischen, skulpturalen oder videastischen Werk nicht auch bewusst
implizieren oder ausdrücken könnte. Das aber wäre eine andere
Geschichte.»
Wein war ratlos vor Begeisterung: «Wie glauben Sie, kann ich diese
Erkenntnis für
meine Arbeit nutzbar machen?»
«Sie könnten bei den Tatortfotos beginnen, eine
Bestandsaufnahme des Sichtbaren machen und ihnen dann Ihr eigenes Leben
einhauchen. Wenn es ihnen gelingt, dabei die Wirklichkeit, die sich beim
Tathergang ereignete, interpretatorisch zu rekonstruieren, dann wissen Sie,
was
sich ereignete und Sie finden ihren Täter. Gelingt es Ihnen nicht -
ist Ihre
Phantasie zu abstrakt, zu radikal - dann klärt sich der Fall mit Hilfe
der Fotos
nicht auf, im Gegenteil, Sie werden von ihnen aufs Glatteis geführt,
und der
Täter lacht sich insgeheim ins Fäustchen. Die Frage also ist:
Was offenbaren
ihnen diese Fotos? In diesem Zusammenhang ist vielleicht auch hilfreich,
sich
zuerst noch stärker verschiedene Möglichkeiten der Fotografie
vor Augen zu
führen. Etwa die Unterschiede zwischen den Arbeiten von Andres Serrano,
Cindy
Sherman und Larry Clark.»
«Wer sind Andres Serrano und Larry Clark?»
«Andres Serrano ist ein Fotograf aus New York, der vor allem mit ungewöhnlichen
Close-up's von Ermordeten, Selbstmördern und Unfallopfern bekannt geworden
ist.
Er fotografierte Menschen, die erschossen, erschlagen, vergiftet, verbrannt,
erstochen wurden, Menschen, die auf ungewöhnliche Weise ums Leben kamen
und deren
Leichen zum Teil sehr unansehnlich sind. Larry Clark auf der anderen Seite
fotografierte Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre die jugendliche Drogenszene,
sich und seine Freunde in Tulsa, später die Stricherszene der 42nd
Street in New
York. Es sind Schnappschüsse von unprätentiöser aber kompromissloser
Direktheit,
unbeschönigt, dekadent und brutal. Cindy Shermans Fotografien wiederum
sind
inszeniert, sie handeln von Glamour, sexueller Perversion und von extremen
Horrorvisionen. Immer wird dabei die Frage des Betrachters und seinem Verhältnis
zu Authentizität, Fälschung, Künstlichkeit, Einbildung, Täuschung,
Imagination
ins Zentrum gestellt ... Grundsätzlich lässt sich sagen: Es ist
letzlich nicht
eigentlich am Foto selbst ablesbar, was echt, was gestellt, was inszeniert,
was
voyeuristisch und was anders ist, als das, was wirklich ist oder war. Immer
hängt
es von uns Betrachtern ab, das Mitkommentierte zu glauben oder ihm zu misstrauen
und die Fotos so zu lesen, damit sie uns etwas vermitteln, eine Erkenntnis,
ein
Gefühl, eine emotionelle Wallung, ein Aha-Erlebnis etc. Wir müssen
in der Lage
sein, Fotos zu interpretieren in bezug auf den Sachverhalt, in bezug auf
das, was
wir tatsächlich sehen und suchen. Diese Interpretationen müssen
eine gewisse
Selbstverständlichkeit vermitteln, ansonsten kommen wir zu keiner Erkenntnis,
zu
keinem Ergebnis, und die Fotos führen sowohl emotional als auch inhaltlich
in die
Irre - sie bleiben Missverständnis.»
Dieser Text ist ein Auszug aus Stefan Banz' bisher unveröffentlichtem
Roman «Mord. Die
gesammelten Werke von Jan Eide».