ECHOS
Interview von und mit Stefan Banz.
Ein Selbstporträt

Stefan Banz (S): Meinst du nicht, dass die Leserinnen und Leser dieses Interviews eventuell gewisse Vorbehalte entwickeln könnten, wenn sie realisieren, dass ich, indem ich dich interviewe, in Wirklichkeit mich selbst interviewe, und dass die quasi naturgegebene Dualität eines Interviews im Grunde hier gar keine ist? Denn nicht nur ich bin ich, sondern auch du bist ich. Ist das vielleicht nicht zu kompliziert?
Stefan Banz (B): Ich kann mir gut vorstellen, dass es Leute gibt, die gewisse Bedenken haben könnten. Ich bin mir allerdings nicht ganz sicher, ob ich tatsächlich nichts anderes bin als du selbst. Zumindest sind wir beide nicht in derselben Position. Während du fragst, versuche ich Antworten zu geben. Eine Art doppelter Standpunkt also. Meine gesamte Arbeit kreist im eigentlichen Sinne um diesen «doppelten Standpunkt», wo man gleichzeitig innerhalb und ausserhalb von etwas sein kann. Jacques Derrida nannte dies die Auflösung oder die Verschiebung der Metaphysik. Wir befinden uns also mit unserem Interview bereits inmitten einer grossen, reflektierten Tradition.
S: Mir kommt auch Friedrich Dürrenmatt in den Sinn. In seinem letzten, 1991 erschienenen Stück «Midas oder Die schwarze Leinwand» – eine Art Film zum Lesen – zum Beispiel sitzt der Autor sich selbst gegenüber und spricht mit sich, als ob er sowohl derselbe als auch ein anderer wäre.
B: Es gibt viele Beispiele.
S: Auch Arnold Schwarzenegger hat in seinem Film «Last Action Hero» mit sich selbst gespielt: Als Actionheld und als Schauspieler Arnold Schwarzenegger. Die Amerikaner empfanden den Film als zu kompliziert, weshalb er kommerziell bisher sein einziger Flop gewesen ist.
B: Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Idee eines Gesprächs mit sich selbst etwas Kompliziertes sein kann.
S: So wird es aber vielleicht empfunden. So ist das Leben!
B: Man könnte fast sagen, eine einfache Welt!
S: Könntest du mir etwas über dich und dein Leben erzählen? Wo bist du geboren? Wie bist du aufgewachsen?
B: Meinst du jetzt mein Leben oder dein Leben? (Lacht und hält kurz inne, während sein Alter Ego für einen Moment verunsichert ist). Ich wurde am 11. September 1961 im Kreisspital Sursee als achtes und letztes Kind von Sophie und Bernhard Banz-Mahnig geboren. Ich habe fünf Schwestern und zwei Brüder. Mein jüngstes Geschwister, eine Schwester, war damals bereits 61/2 Jahre alt. Mein Vater, geboren 1916, war 46. Meine Mutter, geboren 1920, 411/2. Aufgewachsen bin ich in Menznau, einem kleinen, tausend Einwohner zählenden Dorf am Fusse des Napf im Luzerner Hinterland, ungefähr dreissig Kilometer entfernt von Luzern. Mein Vater betrieb ein kleines Malergeschäft und wurde kurz vor meiner Geburt zum Gemeindeammann gewählt. In diesem Amt blieb er bis einige Monate vor seinem unerwarteten Tod. Er brach am 16. Juni 1984 vor der Rezeption eines Hotels in Warschau, Polen, tot zusammen. Herzstillstand.
In Menznau bin ich im Kreise meiner Familie mehr oder weniger behütet aufgewachsen, obwohl mein Vater damals unter einer schweren Alkoholsucht litt, die er glücklicherweise später mit medizinischer Hilfe vollständig überwand. In jüngeren Jahren war er ein aktiver Kunstturner und in den 30er Jahren an den Gründungen der Turnvereine Willisau und Menznau beteiligt. Mein ältester Bruder Bernhard jun. hat diese Tradition weitergeführt und wurde in den 60er Jahren Mitglied der Schweizer Kunstturn-Nationalmannschaft und mit dem BTV Luzern dreimal Schweizer Mannschaftsmeister. 1974 starb mein Bruder Alexander, knapp 22-jährig, an den Folgen eines Autounfalls. Er war Beifahrer einer Jungfernfahrt mit einem weissen Alfa Romeo Sport-Coupé und verunglückte am Tag meiner Gymnasiums-Aufnahmeprüfung. Die ersten vier Jahre besuchte ich das Gymnasium in Willisau, einem kleinen historischen Städtchen sechs Kilometer von meinem Wohnort entfernt. Den Rest bis zur Matura (Typus C) absolvierte ich anschliessend im fünfzehn Kilometer weiter entfernten Geburtsort Sursee.
S: Wie bist du zum ersten Mal mit bildender Kunst in Berührung gekommen?
B: Eigentlich bin ich mit Musik aufgewachsen. Ich war im Gymnasium auch Sänger in einer Rockband namens «Food for Fools». Aber das vielleicht später. Das erste Erlebnis mit Kunstwerken hatte ich durch meinen Vater. Ich war vielleicht zehn Jahre alt, als er mir eine Zeit lang regelmässig kleine Kartonbilder mit nach Hause brachte, die er damals bei bestimmten Benzin-Tankstellen kaufen konnte. Diese ca. A4 grossen Kartonbilder waren Reproduktionen von Kunstwerken. Ich erinnere mich an «Boote am Strand», «Zigeunerwagen» oder «Sonnenblumen» von van Gogh, das «Mohnblumenfeld» von Monet und an verschiedene Seestücke von niederländischen Malern des 17. Jahrhunderts. Mit zwölf Jahren war ich dann einmal für einige Tage bei meiner Schwester Cécile in Basel zu Besuch. Sie nahm mich mit ins Kunstmuseum, wo ich zum ersten Mal mit echten grossen Malereien und Skulpturen konfrontiert wurde. Besonders von Arnold Böcklins «Pest» war ich tief beeindruckt. Malerei interessierte mich von da an sehr. Dennoch glaubte ich damals nicht, einmal selbst Künstler zu werden. Niemand attestierte mir eine künstlerische Begabung, im Gegenteil, die Lehrer empfanden mich eher als unbegabt, besonders im Vergleich mit meinem früh verstorbenen Bruder Alexander, der schon als Teenager wunderbare Bilder malte und selbst nicht in die Schule für Gestaltung aufgenommen wurde. So wollte ich eigentlich von Anfang an Filmregisseur werden.
S: Was waren die Gründe dafür?
B: Einerseits war ich fasziniert vom Kino, seiner Illusionsfähigkeit, seiner Suggestivität und seiner Monumentalität. Anderseits hatte mein Vater zwei grosse Hobbies. Sofern das Geld reichte, reiste er in der ganzen Welt herum. Immer dokumentierte er seine Reisen mit einer Super-8- und einer Spiegelreflex-Kamera. Wir hatten viele Kameras zu Hause. Ich bin unmittelbar mit ihnen aufgewachsen. Das spontane, hobbyistische Filmen und Knipsen ist mir quasi in die Wiege gelegt worden. Mit ungefähr sechzehn Jahren drehte ich dann meinen ersten von insgesamt fünf kleinen Super-8-Spielfilmen. Obwohl ich filmtechnisch ein Mauerblümchen war und über fast keine Tricks verfügte, schrieb ich doch ein genaues Drehbuch und inszenierte anschliessend alles mit Hilfe meiner Freunde an unterschiedlichen Schauplätzen. Ich begann zu dieser Zeit – wie fast alle Teenager – auch Gedichte zu schreiben. Ausserdem war ich ein Organisationstalent. Bereits mit zehn Jahren veranstaltete ich für die Kinder im Quartier Olympiaden mit selbst erfundenen Disziplinen und Bewertungssystemen. Die Sieger erhielten Preise aus meinem persönlichen Spielzeugpark. Diese Olympiaden gab es bis 1973 zwei bis dreimal jährlich, immer während den Schulferien. Auch organisierte ich damals einen Zirkus, bei welchem alle Kinder, die ein Kunststück konnten, auftreten durften. Um einen grossen Apfelbaum herum bauten wir ein Zelt. Die Äste dienten als Turn- und Akrobatikstangen. Der Zirkus fand ein grosses Interesse im Dorf, und wir verdienten dabei einen ganzen Batzen Sackgeld. Im gleichen Jahr fand in Menznau – zur Finanzierung eines Kindergartens – ein grosser Bazar statt. Ein Kunstschmied fertigte dafür ein abstraktes, eisernes Objekt an. Ich habe mich damals spontan für eine Laudatio zur Verfügung gestellt. Dies war das erste Mal, dass ich mich bewusst inhaltlich mit einem «so genannten Kunstwerk» auseinandersetzte.
S: Warum bist du dann letztlich doch nicht Filmregisseur geworden?
B: Weil ich damals – während der Gymnasialzeit – noch zu naiv und zu wenig versiert war. Ich verstand die Sprache des Films nicht wirklich und zeigte dadurch technisch gesehen zu schlechtes, zu dilettantisches Material und blitzte ab. Ich habe mich dann für Kunstgeschichte und Germanistik entschieden und musste zu meinem Unglück, weil ich ein Absolvent mit Schwergewicht Mathematik war, das gesamte grosse Latinum nachholen, was mir viel Zeit raubte und grosse Sorgen machte. Dennoch entschloss ich mich 1984 zusammen mit Sabine Mey, meiner heutigen Frau, in Luzern einen Ausstellungsraum zu eröffnen, was dann 1989 indirekt zur Gründung der Kunsthalle Luzern führte, die ich bis 1993 künstlerisch leitete. Der Rest ist Legende.
S: Ich möchte trotzdem noch etwas länger bei deiner Biografie bleiben. War es nicht so, dass du, und das bestätigen mir eigentlich auch deine bereits gemachten Ausführungen, immer versucht hast, verschiedene Dinge gleichzeitig zu tun. Es scheint mir, dass in gewissem Sinne «Die Gleichzeitigkeit des Anderen» eine Art roten Faden in deinem Leben und in deiner Arbeit darstellt.
B: Das habe ich mir bisher eigentlich noch nie so überlegt. Aber da könntest du nicht Unrecht haben. Ich bin am Anfang der 60er Jahre geboren, also eine Art Kind einer Zwischengeneration. Ich bin mitten hineingeboren in den technischen und kulturellen Optimismus der späteren Nachkriegszeit und war noch zu klein für die 68er Bewegung. Ich bin ein Kind der 70er Jahre. Durch meine älteren Geschwister aber war ich dennoch stark von den späten 60er Jahren geprägt. Ich bin mit den Rolling Stones, den Beatles, den Beach Boys, den CCR u.a. aufgewachsen. John Lennon, Mick Jagger und Muhammad Ali waren meine ersten Helden. Die eigentliche Auseinandersetzung mit Musik aber begann erst in den 70er Jahren. Einerseits beeinflusst von den unmittelbaren Erlebnissen des bekannten, alljährlich stattfindenden Jazzfestivals in Willisau, glaubte ich dennoch nie wirklich, dass dies meine Musik sein würde. Ich suchte immer nach etwas, das sich zwischen den Rolling Stones und der eher bauchbetonten Improvisation abspielte. Mein erstes künstlerisch wirklich entscheidendes Idol war Frank Zappa! Er hat sich zeitlebens über alle Ismen und Stile hinweggesetzt und war dennoch tief im Zeitgeist verankert. Seine Interessen waren breit gefächert und wiedersprachen allen puristischen Ideologien, die mich damals (und zum Teil noch heute) persönlich umgaben. Entweder gehörte man damals zur Freejazz-Szene in Willisau und verabscheute gleichzeitig die konventionellen und «banalen» Niederungen des Pop, oder man gehörte eben zu dieser mehrheitlich unterhaltungsorientierten Populärkultur. Vermischung war damals absolut tabu.
S: Aber wenn du dich ganz auf Frank Zappa fokussiertest, hast du ja auch gleichzeitig eine (wenn auch vielleicht einsame) Form von Purismus betrieben. Die Stilvielfalt von Frank Zappa entfaltet doch auf einer zweiten Ebene auch so etwas wie einen immer wiederkehrenden Stil, oder nicht?
B: Das ist sicher richtig! Aber das ist nicht so sehr das Entscheidende. Jeder, der sich als Individuum offenbart, hat letztlich ein eingeschränktes und immer wiederkehrendes Vokabular. Das ist auch bei Frank Zappa der Fall. Im Unterschied zu vielen anderen Künstlern aber ist Zappa nicht nur Synonym für Stilvielfalt, sondern er ist auch eine der grossen Figuren, die es verstanden haben, eine Art Symbiose von Geist und Körper und von Tradition und Bruch zu wagen, ohne dabei das Paradoxe oder das Differente einzuebnen. Zappa ist – und darin Muhammad Ali nicht unähnlich – Synonym für Unkonventionalität, Paradoxie, Direktheit, Nonchalance, Disziplin, handwerkliches Können, Entfunktionalisierung, gesellschaftspolitisches Engagement und «Genialität». Frank Zappa war für mich damals ein Vorbild in seiner Freiheit – im Antibürgerlichen. Er machte klar, dass der Künstler ein totales Selbstbestimmungsrecht haben muss, will er wirklich das tun können, was er ist und was er will. Frank Zappa ist auch ein gutes Beispiel dafür, wie das gleichzeitige Innerhalb- und Ausserhalbsein zu kreativen und produktiven Ergebnissen führt. Es ist ja nicht so, dass er bloss sämtliche Stilrichtungen ineinander verschmolzen oder collagiert hätte, sondern er hat vielmehr durch die Freiheit der Adaption und der Verschmelzung von unterschiedlichsten musikalischen Phänomenen neue Ausdrucksformen gefunden. Er war einer der ersten, die die Avantgarde konsequent und kreativ aufgelöst haen. Gleichzeitig hat er uns gezeigt, dass unkonventionelle Musik, Musik, die nicht bloss dem Mainstream frönt, durchaus erfolgreich und einflussreich sein kann, sofern man auch, was das Marketing für diese Musik betrifft, kreativ ist und auch dort Wege beschreitet, die nicht unbedingt schon vorgeebnet sind. Frank Zappa war für mich in vieler Hinsicht eine absolut wegweisende und unabhängige Persönlichkeit. Ich habe mich aber nicht nur auf ihn beschränkt, obwohl gerade auch seine frühen Musikfilme – wie etwa «200 Motels» – grossen Eindruck auf mich gemacht haben. Von den Doors bis Jethro Tull, von Pink Floyd bis Roxy Music, von Carla Bley bis John Zorn, von den Clash bis zu den Stranglers, von Nirvana bis Everlast, von Orson Welles bis Michelangelo Antonioni, von Roman Polanski bis Francis Ford Coppola, von John Cassavetes und Dennis Hopper bis David Lynch etc. haben mich die unterschiedlichsten Ausdrucksformen interessiert und beeinflusst.
S: In diesem Sinne könnte man sagen, dass dein Hang oder deine Vorliebe, dich in unterschiedlichsten Medien auszudrücken und auch immer wieder die Rolle zwischen Produktion und Reflexion zu wechseln aus einer ganz bestimmten künstlerischen Tradition heraus motiviert ist und kein Ablenkungsmanöver darstellt.
B: Mit Ablenkungsmanöver hat das gar nichts zu tun. Erkenntnisgewinn ist das, was mich interessiert. Erkenntnisgewinn und emotionale Betroffenheit. Ich gebe zu, es hat in den letzten Jahren einige Menschen im schweizerischen Kunstbetrieb gegeben, die eine hartnäckig ablehnende Haltung gegenüber meinen Hervorbringungen und Aktivitäten eingenommen und mir oft stilistische Uneinheitlichkeit, einen zu grossen reflektorischen Anteil in den Arbeiten oder Kompetenzüberschreitung vorgeworfen haben. Ich bin bisher sicher einen längeren Weg als andere gegangen, um zu einem gewissen Erfolg zu kommen, aber das ist nicht entscheidend.
Es gibt übrigens auch in der Tradition der bildenden Kunst grosse Vorbilder, die grandiose Wege der Unterschiedlichkeit, der konzentrierten und verdichteten Zersplitterung gegangen sind. Ich erinnere nur an den Erfinder, Zeichner, Maler und Hofdesigner Leonardo da Vinci. Im zwanzigsten Jahrhundert war es vielleicht Marcel Duchamp, der hier Pionierarbeit geleistet hat. In der Malerei gab es Francis Picabia. Dann ist vor allem Bruce Nauman zu nennen, der ähnlich wie Frank Zappa eine eigene Ästhetik der medialen Vielfalt entwickelt hat. Auch Donald Judd oder Barnett Newman wären zu nennen. Es gibt viel mehr Beispiele, als man gemeinhin annimmt.
S: Ich möchte nun noch einmal auf deine Biografie zurückkommen und fragen, ob nicht deine persönlichen Lebensumstände auch einen wesentlichen Einfluss auf deine unterschiedlichen Tätigkeiten gehabt haben?
B: Das stimmt! Da ich von Haus aus nicht reich und bereits während meines Studiums Vater geworden bin – Jonathan ist 1987 geboren, Lena 1989 – war ich immer auch intensiv damit beschäftigt, meinen Lebensunterhalt möglichst ökonomisch zu bestreiten. So hat alles einander bedingt: Erziehung, Spass, Kunst, Kunstwissenschaft, Kunstvermittlung, Schreiben, Bücher gestalten, Geldverdienen. Die Kunstvermittlung hatte für mich nur ganz am Anfang den Status einer wirklichen Lebensaufgabe. Ich habe schon bald gemerkt, dass ich zwar ein Organisationstalent bin, mir aber die Vermittlung im Grunde eher widerstrebt. Zu viel Politik und Kompromiss. Gleichzeitig aber war sie lebenswichtig für mein materielles Überleben. Als ich mich 1993 entschied, das Kuratieren von Ausstellungen und die Leitung der Kunsthalle Luzern aufzugeben, um meine eigenen Projekte weiterzuverfolgen, hiess das aber nicht, nie mehr etwas Organisatorisches in Angriff zu nehmen, sondern es hiess bloss, den künstlerischen Schwerpunkt zu verlagern und die Vermittlung als Instrument der finanziellen Absicherung zu verbessern. Das hat mich zuerst zu einer international tätigen Elektrotechnik-Firma geführt, für die ich den gesamten visuellen Auftritt neu konzipierte. Kurz darauf fragte mich der junge Iwan Wirth der damaligen Sammlung (und heutigen Galerie) Hauser & Wirth, ob ich mir vorstellen könnte, für ihn beratend tätig zu sein, was ich dann bis 1997 getan habe. Ich organisierte seine Ausstellungen, gestaltete seine Kataloge, schrieb für ihn Texte und erarbeitete Konzepte.
S: War das alles für dein finanzielles Überleben als Künstler?
B: Ja!
S: Und wie ist es heute?
B: Seit 1997 hat sich meine Situation als Künstler wesentlich verbessert, und ich musste seither keine vermittelnden Jobs mehr annehmen. Ich kann mich seither ganz meinen Arbeiten widmen. Ich habe seit zwei Jahren auch bei weitem meine bisher produktivste und künstlerisch fruchtbarste Zeit.
S: Womit wir nun endlich bei deinen Werken angelangt sind! Würdest du die Ausstellung «Der Anbau des Museums», die du 1992 mit Jacques Derrida, Wada Jossen, Theo Kneubühler und Harald Szeemann realisiert hast, auch als eine künstlerische Arbeit bezeichnen?
B: Die Ausstellung «Der Anbau des Museums» habe ich damals als Kurator und Leiter der Kunsthalle Luzern organisiert, dennoch steht sie für mich am Anfang meiner künstlerisch entscheidenden Setzungen. Für mich spielt dabei eigentlich keine Rolle, ob ich damals Kurator war, weil das Konzept die Idee war, mit kreativen Menschen aus und um den Kunstbetrieb, die sich gerade nicht Künstler nannten, eine Ausstellung zu realisieren, die als Ganzes zum Kunstwerk würde. Wada Jossen ist Gärtner und war damals auch in der Luzerner Kunstszene anzutreffen. Theo Kneubühler war in den 70er Jahren der vielleicht einflussreichste Kunstkritiker und -theoretiker in der Schweiz. Jacques Derrida und Harald Szeemann muss ich nicht weiter vorstellen. Sie alle haben sich nach meinen Anweisungen als sie selbst in die Ausstellung eingebracht und mit mir zusammen sowohl architektonisch als auch inhaltlich und biologisch die Idee, das Konzept Museum angebaut. Für mich ist diese Ausstellung eine Art Paradigma und wegweisend für meine späteren Aktivitäten, die sehr oft um die Metapher des Gartens kreisten. Die Frage, was es bedeutet, die einzelnen oft behutsam und bieder abgesteckten Gärtchen der Kunst zu übertreten und die konventionalisierten Kompetenzen in Frage zu stellen, hat mich immer wieder beschäftigt, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie in gewisser Weise auch meine persönliche Situation wiederspiegelte.
S: Könnte man deine bekannte Videoarbeit «Door to Door. Break on Through to the Other Side» aus dem Jahre 1997 auch in diesem Kontext sehen?
B: Ja, durchaus. Das ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie sich meine grundsätzlichen Interessen in unterschiedlichen Medien immer wieder neu und verändert visualisieren. «Door to Door» ist ein Prototyp, eine perfekte Metapher für die Schwierigkeiten bei der Durchbrechung von Grenzen, und dies wiederum im doppelten Sinne: Als Künstler bin ich in diesem bieder-bürgerlichen Umfeld, wo ich wohne, auffällig und suspekt, weil ich mich (ohne es zu wissen) nicht bürgerkonform verhalte: Ich gehe morgens nicht um sieben Uhr aus dem Haus und kehre nicht um 18 Uhr zurück. Und ich probiere (nach Ansicht des Nachbars) komische, «sinnlose» Dinge im Garten aus, die ihn reizen. Dann bricht er plötzlich aus seinen eigenen (bisher für heilig gehaltenen) Grenzen aus, beschimpft mich aufs Gröbste und dringt schliesslich wie ein wilder Stier in meinen Garten ein, um mich zu verprügeln. Beim Betrachten der Arbeit wiederum stellt sich die Frage: Ist das echt oder inszeniert, und die Auseinandersetzung beginnt wieder von neuem, verschoben. «Door to Door» ist für mich in gewissem Sinne auch ein Synonym für den Kunstbetrieb!
S: Abgesehen von «Door to Door» kennt man deine Fotografien bei weitem am besten. Bei diesen hat man dir lange Zeit «Voyeurismus» und «Privatismus» vorgeworfen.
B: Kennt man die Fotos wirklich am besten?
S: Sie scheinen zumindest der am breitesten rezipierte Teil deines Oeuvres zu sein. Wie kam es zu diesem sehr wichtigen und tragenden Teil deiner künstlerischen Arbeit, und warum ist die Rezeption oft mit den Begriffen des «Voyeuristischen» und «Privatistischen» verbunden?
B: Wie schon zu Beginn unseres Interviews einmal kurz erwähnt, bin ich quasi als kleiner Knipser aufgewachsen, weil mein Vater ein leidenschaftlicher Hobbyfotograf war. Dass ich dann mit der Zeit angefangen habe, Fotografie unter künstlerischen Aspekten zu betreiben, hatte mehrere Gründe. Ich suchte einerseits (und möglicherweise unbewusst) nach einer visuellen Ausdrucksform, die vor allem über die Sinnlichkeit und das Sichtbare funktionierte, quasi als eine Art Gegenpol zur eher rationalen Tätigkeit des Vermittelns. In Wirklichkeit aber war die Ökonomie der eigentlich erste Grund. Die Möglichkeit, als erziehender Vater gleichzeitig auch künstlerisch tätig zu sein, spielte eine entscheidende Rolle. Dann war die Fotografie auch eine Art Fortsetzung des Kuratorischen und Reflektorischen. Denn das Fokussieren und Abdrücken, das Finden des bestimmten Sujets ist das eine, das andere ist das Auswählen und Zusammenstellen der Fotos, so wie ich das kürzlich in meinem Buch «i built this garden for us», das in der Edition Patrick Frey, Zürich erschienen ist, gemacht habe. Darüber hinaus wurde meine Art des Fotografierens nicht auf Anhieb als primär künstlerisch interpretiert ... Fotografie aber ist – und das habe ich nicht zuletzt über diesen Umstand realisiert – das abstrakteste Medium, das es gibt.
S: Wie kommst du darauf?
B: Weil sich Fotografie nicht wie zum Beispiel das Leben (oder die Bildhauerei und die Malerei) in der Zeit ereignet. Fotografie – und damit meine ich bewusst den fotografischen Schnappschuss (weil jede bearbeitete Fotografie eher Malerei als Fotografie ist) – ist meist eine 1/125 oder eine 1/60 Sekunde aus der sogenannten Wirklichkeit. Es ist ein Jetzt, und es gibt kein Davor, kein Danach. Dieser Umstand macht die Fotografie gegenüber der Realität vollkommen abstrakt und fördert das Missverständnis. Meine Intention nun war (und ist es noch immer), fotografische Schnappschüsse zu realisieren, die auf vielfältigste Weise dieses Missverständnis sowohl provozieren als auch implizieren und thematisieren. Meine Fotos werden zum Beispiel oft als ausgesprochen malerisch oder gar als «Malerei» bezeichnet, was vollkommen richtig ist und dennoch in Bezug auf das Produkt falsch, weil ein Schnappschuss – wie schon gesagt – nicht Malerei sein kann: Er vermag aber durchaus malerische Komponenten zu vermitteln. Ich versuche den Moment meiner Aufnahme darüber hinaus so zu präzisieren oder zu verdichten, dass er stets präzise die Scheidelinie von ungewöhnlichen Dualitäten oder Polyvalenzen trifft: idyllisch-beunruhigend, liebreizend-brutal, harmlos-gefährlich, sentimental-schal-abstossend, inhaltlich-ästhetisch-sinnlich, etc.
S: Die Fotografie gibt deiner Meinung nach also nie das Leben wieder, sondern das Leben ist das, was wir selbst ins Bild hineindeuten oder proiizieren?
B: Genau! Ich mache oft den Vergleich mit einem Text. Wenn ich zum Beispiel behaupte, ein beliebiges Wort aus einem Text repräsentiere exakt die Realität, den Inhalt, die Intention dieses Texts, dann würdest du mir mit Sicherheit widersprechen. Eine Fotografie aber macht in gewisser Weise dasselbe, und doch glauben wir, sie sei etwas anderes. Klar, es gibt immer Nuancen. Es gibt die nahezu unendlich verknüpfbaren Wörter wie und, oder, dass, um, etc. Es gibt aber auch andere Wörter wie Idylle, Abgrenzung, unheimlich, frieren etc., deren Radius viel konzentrierter ist und dennoch in ihrer Bedeutung vieldeutig bleiben. Ich suche bei meinen Bildern eher solche Momente, die wie ganz bestimmte Wörter bereits eine konzentrierte oder verdichtete Doppelheit in sich tragen, damit sich unterschiedlichste Bedeutungsebenen verdichten, ohne sie in ihrer inhaltlichen Konsistenz festzuhalten.
S: Welche Rolle spielt dabei das Format deiner Fotos? Meistens sehen wir von dir sehr grossformatige Werke. Hast du ein Standard-Format?
B: Die meisten meiner Fotos sind 150 x 225 cm gross. Sie sind so gross, weil mich das Phänomen der Realitätsverschiebung interessiert, etwas, das auch im Leben allgegenwärtig ist. Wir alle kennen die wunderbare Geschichte «Des Vetters Eckfenster» von E.T.A. Hoffmann, wo der Vetter von einem Erker herab auf den Marktplatz schaut, und das Geschaute seinem Vetter weitererzählt, der seinerseits dasitzt und hinunterschaut. Die Interpretation, die Reflexion oder die Wahrnehmung wird hier in vielfacher Weise als Realitätsverschiebung vorgeführt und in ihrer Relativität enthüllt. Meine Fotos handeln ja – um zurück zu unserer Ausgangsfrage zu kommen, warum mir oft der Vorwurf des «Voyeuristischen» oder des «Privatistischen» gemacht wurde – von meiner persönlichen, unmittelbaren Umgebung. Oft sind es unprätentiöse Sujets, Bilder meiner Kinder, meiner Frau, von mir selbst, von meiner Wohnung, meinem Garten, Bilder von Ausflügen, aus den Ferien etc.
Fotografien setzen wir grundsätzlich immer – und das hat wiederum mit der Tradition der Fotografie zu tun – mit uns selbst in Beziehung. Und dieses Sich-selbst-in-Beziehung-Setzen mache ich mir bei meinen Arbeiten nun nutzbar. Meine Kinder in Bezug zur «Realität» übergross dargestellt, erzeugt beim Betrachter eine Realitätsverschiebung mit vergrösserter physischer Präsenz des Objekts «Fotografie» und dadurch eine Intensivierung des Dargestellten und deren Inhalte. Auch ein ganz kleines Foto trägt den Effekt der Realitätsverschiebung in sich. Da die Tradition des Erinnerungsfotos immer mit dem Kleinformat zusammenhängt, ist Kleinheit per se ein weniger geeignetes Instrument. Bei Landschaftsdarstellungen ist es grundsätzlich eher schwieriger, da eine Landschaft in unserer Vorstellung weniger eine bestimmte Grösse hat. Aber selbst das Format ist in seinem Ausdruck relativ, weil es immer auch mit dem Ort zusammenhängt, wo es platziert, inszeniert oder wahrgenommen wird. Bei sehr grossen Fotos in sehr grossen Räumen wirken festgehaltene Personen viel weniger monumental als etwa in kleinen Räumen. Umgekehrt wirken da kleine Fotos sehr schnell winzig und verloren etc. Das alles aber kennen wir schon.
S: Und was ist nun explizit «voyeuristisch» oder «privatistisch» an deinen Fotografien?
B: Das Missverständnis!
S: Was bedeutet das?
B: Die allgemeine Vorstellung von Voyeurismus ist die, etwas zu offenbaren, was nicht unbedingt an die Öffentlichkeit gehört. Das erste Missverständnis ist die weit verbreitete Annahme, es handle sich bei meinen Arbeiten um Ausschnitte aus der Realität und hier explizit um Erinnerungsbilder. Tatsache aber ist, dass es sich bei meinen Fotos um Kunst handelt, und dass ich mich dafür lediglich des Mittels oder der Technik des Schnappschusses bediene, der auch bei Erinnerungsfotos angewendet wird. Dass aber Fotografie generell nicht Abbild der Realität sein kann, habe ich schon zu erläutern versucht.
Der Umstand, dass ich meine Kinder und meine Frau fotografiere, provoziert das zweite Missverständnis. Es ist zwar meine persönliche Umgebung, die ich da festhalte. Faktisch aber ist nichts Privates zu sehen! Vielmehr sind es archetypische Bilder, die jeder kennt und die jeden betreffen. Und hier sind wir wieder bei der Doppelheit der Wahrnehmung. Meine Fotos gehen jeden an, dadurch kann man sich selbst als Rezipient nicht herausnehmen und ist stets mit ihnen verknüpft. Das macht die Wahrnehmung so schwierig. Wir können nie Abstand nehmen. Man ist als Betrachter nie nur ausserhalb der Bilder, und man ist auch nie nur innerhalb von ihnen, sondern man ist beides gleichzeitig oder keines von beiden. Auch bei der Realisation der Fotos ist der Vorgang komplex. Die Sujets – also meine Kinder, meine Frau – wussten und wissen immer ganz genau, ob und wann ich sie fotografiere. Und sie haben stets die Möglichkeit, sich selbst im Moment der Aufnahme nach ausserhalb zu begeben, wie auch ich in gewissem Sinne stets Teil dieser Szenen bin.
«Voyeurismus» nun ist etwas anderes. Ein Voyeur im klassischen Sinne ist derjenige, der ohne Wissen des Beobachteten beobachtet: Jemand also, der beispielsweise durch ein Schlüsselloch guckt. Marcel Duchamp hat dieses Phänomen auf unübertroffene Weise in seinem letzten Werk «Etant donné ...» thematisiert, indem er uns Betrachter explizit und immer wieder zu Voyeuren macht. Ein Voyeur ist auch ein Astronaut, der aus dem All auf die Erde schaut, ohne Teil von ihr zu sein. Ein Voyeur ist auch der, welcher wie ein Heckenschütze mit einem Teleobjektiv hinter einem Haus spannt und ohne das Wissen der Fokussierten fotografiert.
S: Du würdest also sagen, deine Bilder sind weder «privatistisch» noch «voyeuristisch»?
B: Ich würde nicht nur, sondern ich sage es. Im klassischen Sinne sind sie es definitiv nicht! Nimmt man aber auch hier differenziertere Überlegungen zu Hilfe und analysiert die Produktion der Werke und deren Rezeption mit Überlegungen des gleichzeitigen Innerhalb- und Ausserhalbseins etc., so tragen sie gewiss Elemente oder Spuren des Privaten oder Voyeuristischen in sich. Im übrigen steht die Visualisierung des Alltäglichen und der unmittelbaren Umgebung in einer tiefen kunsthistorischen Tradition. Ich erinnere nur an die grossartigen Genrebilder der Niederländer aus dem 17. Jahrhundert, alltägliche Werke mit gleichzeitig raffinierter symbolischer Aufgeladenheit.
S: Sind dann explizit hier die Wurzeln deiner künstlerischen Arbeiten zu suchen?
B: Wenn ich diese Beispiele erwähne, heisst das nicht, dass ich davon unmittelbar beeinflusst bin, obwohl gerade Jan Vermeers Werke immer eine grosse Faszination auf mich ausgeübt haben. Ich denke aber, dass Maler wie Diego Velazquez und Edouard Manet einen weit grösseren Einfluss auf mich ausgeübt haben. Auch das Werk von Caspar David Friedrich stand am Anfang im Zentrum der Reflexion. Und nicht zu vergessen ist Caravaggio, der grosse Erfinder von Licht und Schatten. Ein Maler mit grandioser Illusionsfähigkeit, die beim Betrachter heute noch oft zu grossen Missverständnissen führt. Im 20. Jahrhundert habe ich mich vor allem für Marcel Duchamp, Hans Emmenegger und Francis Bacon interessiert. Aber auch Bruce Nauman, Aldo Walker oder Georg Baselitz standen im Zentrum des Interesses.
S: Wie kam es dazu, dass du in den ersten Monaten des Jahres 1999 unter dem Titel «Baby Bacons» über fünfzig Werke von Francis Bacon im Kleinstformat kopiert hast?
B: Da gab es einige Gründe. Es hat zuerst einmal Spass gemacht, dies zu wagen, um herauszufinden, ob ich dazu tatsächlich auch in der Lage bin. Es war eine Herausforderung gegenüber mir selbst. Der Entscheid aber, Bacon und nicht Richter oder Monet zu kopieren, hat wiederum mit meiner Biografie zu tun. Francis Bacon war für mich als Teenager der Einstieg in die zeitgenössische Kunst. Er hat mir damals den Weg zur Kunst der Gegenwart eröffnet.
S: Aber warum Bacon kopieren? Wir kennen doch alle die Werke von Sturtevant oder Mike Bidlo!
B: Mich interessiert vor allem die Idee der Coverversion aus der Musik, obwohl es auch in der Kunst Beispiele von interessanten Appropriationen gibt, wie zum Beispiel «Le déjeuner sur l’herbe» von Edouard Manet nach Marcantonio Raimondis Stich, den er seinerseits nach einem Werk von Raphael gemacht hat. Hier finden Verschiebungen statt, aus denen immer wieder neue Originale entstehen. Noch spannender aber scheint mir die Frage zu sein, was es ist, wenn die Rolling Stones präzise ein Stück von Chuck Berry nachspielen und alle von einem typischen Stones-Stück sprechen, obwohl jeder weiss, dass es von Chuck Berry ist. Ich wollte wissen, was passiert, wenn ich, ausgehend von meinem Bedürfnis der Realitätsverschiebung, die Werke von Francis Bacon im Kleinformat exakt nachmale. Mir gefiel auch die Idee, eine grosse Retrospektive just in einem einzigen kleinen Raum realisieren zu können. Francis Bacon hat sich im übrigen selbst beinahe alles, was er malte, angeeignet. Ich verweise hier nur auf die kleinformatigen Eadweard-Muybridge-Vorlagen, die er teilweise fast eins zu eins zu grossformatigen Bacon-Malereien transformierte (vgl. zum Beispiel «Two Figures», 1953). Bacon malte weitgehend nach Reproduktionen aus Büchern und Zeitschriften. Seine Originalbilder wiederum liess er anschliessend fotografieren, um die Abbildungen wiederum als Vorlagen für neue Werke zu verwenden. Francis Bacon hat auf ganz eigene Weise appropriiert.
Meine «Baby Bacons» wiederum entstanden nach Abbildungen seiner Bilder. Dabei achtete ich darauf, dass mein gewähltes Format kleiner ist als die Standardabbildungen der grossen Bacon-Monografien.
S: Du scheinst also mit den «Baby Bacons» zu untersuchen, unter welchen veränderten Bedingungen neue originale Werke entstehen können. Du schielst auf das Original, indem du über den Umweg der Kopie oder der Coverversion gehst. Das ist ein interessanter Aspekt und tangiert auch Fragen, die wir teilweise bereits angesprochen haben – Fragen wie echt oder fiktiv, real oder eingebildet etc. Hat dich bei Bacon auch Inhaltliches interessiert?
B: Viele Leute sind schockiert, wenn sie Bacons Werke sehen. Sie glauben, sie seien die ungeschminkte Spiegelung von seelischen Abgründen und grässlichen Horrorvisionen. Für mich dagegen ist dieser Künstler ein Ästhet im besten Sinne: Er bannt das Missverständnis, das die Menschen zu unüberlegten Handlungen und unnötigen Emotionen drängt. Bacon nimmt alles zurück, was er vorgibt zu zeigen, um es beim Zurücknehmen zu steigern, zu verunklären und in Schönheit überzuführen. Francis Bacon steht eigentlich Künstlern wie Barnett Newman oder Mark Rothko viel näher als etwa den Expressionisten. Er war ein konzeptueller Künstler, und ich habe versucht, seine Vorstellung von Konzeption mit meiner zu verschmelzen, um die Frage des Originals wieder neu zu denken.
S: Die Frage des Originals ist bei dir, wie mir scheint, immer auch die Frage der Realität oder der Realitätsverschiebung. Insofern gibt es da auch unmittelbare Parallelen zu deinen grossen Wasserinstallationen, zum Beispiel derjenigen, die du 1996 im Offenen Kulturhaus (heute OK-Centrum für zeitgenössische Kunst) in Linz realisiert hast.
B: Ja, da besteht in gewissem Sinne ein unmittelbarer Zusammenhang. In Linz durfte ich diesen wunderbaren, 220 m2 grossen und ca. acht Meter hohen Raum knöcheltief unter Wasser setzen. Solange man den Raum nicht betrat, nicht selbst Teil der Arbeit wurde, hatte die Installation etwas unheimlich Meditatives. Das Wasser war so sanft wie Samt. Gleichzeitig entstand diese Spiegelung, die den Raum architektonisch verdoppelte. Diese Verdoppelung kam nun als Metapher für verschiedene Momente zum Tragen. Sobald man nämlich selbst ins Wasser stieg und Teil der Arbeit wurde, verschwand die Spiegelung. An ihre Stelle traten Wellen, die das Licht brachen und es an die Wände reflektierten. Selbst Teil der Installation geworden, wurde man gleichzeitig zum Sujet für diejenigen, die den Raum noch nicht betreten hatten.
Wenn man nun weit genug in den Raum hineingewatet war, stand man plötzlich vor einer riesigen Fotografie (180 x 260 cm), die auf dem Boden lag und ein Kind zeigte, das mit Kopf nach unten im Wasser eines wiederum mit Wasser gefüllten Bassins lag. Und wiederum entstand hier das Moment einer Realitätsverschiebung. Richtiges, fühlbares Wasser lag über einem gegenständlichen, zweidimensionalen Sujet, und man war versucht, die beiden Elemente unmittelbar miteinander zu verknüpfen, um sich eine «sinnfällige» Geschichte zu konstruieren, etc. ... Ich könnte hier jetzt unendlich weiter argumentieren, um immer wieder die Paradigmen des gleichzeitigen Innerhalb- und Ausserhalbseins, der Realitätsverschiebung, des Missverständnisses oder auch des visuellen Betroffenseins, der Interaktion, des Suspense, etc. zu bestätigen oder zu verdichten. Ich kann nur sagen, der mentale Ausdruck der Arbeit ist unmittelbar mit den «Baby Bacons» zu vergleichen, auch wenn dafür vollkommen andere Mittel angewendet wurden.
S: Könnte man hier auch eine Verbindung zu deiner 1998 realisierten Kunst-am-Bau-Arbeit «Echos» im Haft- und Untersuchungsgefängnis Grosshof in Kriens bei Luzern herstellen?
B: Bei dieser Arbeit waren genau dieselben Überlegungen ausschlaggebend, nur dass die mediale Umsetzung wiederum ein anderes Instrument gebraucht hat. Ich habe hier Schrift gewählt, weil die Behörden die Auflagen machten, Kunst am Bau dürfe keine Hilfe bieten, um aus dem Gefängnis zu flüchten, und sie dürfe weder zur Waffe umfunktioniert werden können, noch die Möglichkeit für ein Versteck bieten.
Die Arbeit aber thematisiert auf metaphorischer Ebene genau diese Aspekte stets in einem doppelten Sinne: Die insgesamt 84 Namen von bekannten Menschen, die einmal im Gefängnis waren oder sich für einen humaneren Strafvollzug eingesetzt haben, mit einem ihrer Werke (oder einer ihrer Leistungen), führen bei den Gefangenen (aber auch beim Personal) zu ganz bestimmten Identifikationen. «Muhammad Ali / When We Were Kings», «Nelson Mandela / Long Walk to Freedom» oder «Mata Hari / Das Auge der Morgenröte» beispielsweise aber bieten nicht nur Indentifikationsmuster an, sondern wirken auch systemkritisch. Sie sind sowohl Hoffnungsträger als auch Gefühlsbeschleuniger. Dies alles führt zu einer Identifikation im Sinne einer Setzung des «Hier». Gleichzeitig aber öffnen sie einen geistigen Raum weit über das Gefängnis hinaus. Die Arbeit wird sozusagen zu einem imaginären oder metaphorischen Fluchtweg. Und ohne dass wir es uns wirklich bewusst werden, sind wir beim Lesen bereits selbst Teil dieser Arbeit. Der geistige Raum, der hier eröffnet wird, ist aber auch eine Art Versteck, weil er den eigenen Rechtsverstoss in unserem Kopf vielleicht verschleiert, überspielt oder entmaterialisiert. Die Arbeit aber kann auch Waffe sein gegen die Depression, das Gefühl der Wertlosigkeit oder des Begrabenseins. Sie ist letztlich sowohl ein Mutmacher, ein Plädoyer für die Kreativität, als auch eine imaginäre Kritik an den unumstösslichen Gesetzen des Rechts, die stets bloss standpunktabhängig sind. Ich habe dieses Moment auch in meinem (bisher unveröffentlichten) Kriminalroman umzusetzen versucht, und es ist zum Beispiel auch in der zweiteiligen Skulptur «Zwei Brüder» (1999) angeschnitten, wo zwei weisse, puppenartige Polyesterfiguren Jesus und Dracula darstellen. Ihre Körper und ihre Physiognomien sind vollkommen gleich. Dracula ist einzig an seinen verlängerten Eckzähnen zu erkennen, Jesus überhaupt nur durch die Bezeichnung «Jesus». Während nun Jesus am Hals die Bissmale von Dracula aufweist, hat sich Dracula die Stigmata von Jesus «angeeignet». Gut und Böse haben sich ausgetauscht und doch nicht. Es sind zwei Brüder, deren Ausdruck sowohl verliebt als auch melancholisch wirkt. Sie sind blendend weiss und kennen keinen Makel, sie sind blutleer und starr.
S: In den letzten beiden Jahren hat sich deine Arbeit insofern medial verschoben, als dass du nun neu auch zahlreiche Videoarbeiten gemacht hast. Wie kam es dazu?
B: Der Film war ursprünglich ja mein liebstes Kind. Lange Zeit aber war die Produktion von filmischen Arbeiten sehr teuer oder zu teuer, wenn man nicht über das nötige Equipment verfügte. So habe ich aus ökonomischen Gründen lange Zeit auf die Produktion von Videoarbeiten verzichtet, obwohl ich schon seit Jahren über eine Hi8-Kamera verfügte. Nach dem Door-to-Door-Ereignis aber kaufte ich eine digitale Mini-DV-Kamera, und es war an der Zeit, dass ich mir mein nötiges Schneide-Equipment beschaffte. Ich erwarb mir ein «Casablanca», und so konnte ich endlich viele meiner Ideen umsetzen. Ich habe daraufhin immer explizit für den Ausstellungsraum gearbeitet und «endlos» geloopte Videoarbeiten produziert, die im Wesentlichen an die Fotografie anknüpfen. Es gibt inzwischen ungefähr 150 kleine und kleinste «Episoden» oder «Loops», oder wie immer man sie nennen soll. Die «Realitätsverschiebung» von klein zu gross ist bei einer Videoprojektion noch imposanter als bei einem Blow-up. Die Bilder an sich hingegen sind bei einem Video realistischer, weil sie bewegt sind und sich in der Zeit abspielen. Die Abstraktion aber passiert in meinen Arbeiten vor allem mit Hilfe des Tons und der Geräusche und der Art und Weise, wie ich die endlosen Loops gestalte und zusammensetze. Viele meiner Videoarbeiten laufen sowohl vorwärts als auch rückwärts, sind mehrteilig und benötigen mehrere Beams. Der Ton ist oft wesentlich verlangsamt, um die Suggestion, die Melancholie, das Unheimliche und das Vieldeutige der Bilder zu unterstützen. Die Bilder selbst sind, wie die Fotografien, aus meinem unmittelbaren Alltag festgehalten und im Wesentlichen Schnappschüsse; konzentrierte, alltägliche Momente der Absurdität oder absurde, ungewöhnliche Momente des Konventionellen.
S: Ich möchte nun zum Schluss unseres Gesprächs auf deine neue Arbeit «Gulliver», die du speziell für die Ausstellung im Migros Museum für Gegenwartskunst geschaffen hast, zu sprechen kommen. Es scheint, als ob du hier den Versuch unternommen hättest, alle diese Fragen und Phänomene, die wir im Interview angeschnitten haben, in einer Arbeit zu vereinigen.
B: Wie du ja weisst, heisst nicht nur diese neue Installation, sondern die gesamte Ausstellung im Migros Museum vom 22. Januar bis 19. März 2000, die sich insgesamt über elf Räume erstreckt, «Gulliver». Diese Ausstellung ist tatsächlich der Versuch, wichtige Arbeiten, die in unterschiedlichen Medien wie Fotografie, Video, Installation und Malerei existieren, zusammenzubringen, um sichtbar zu machen, dass sämtliche Werke ähnlichen oder vergleichbaren Anliegen folgen, und dass sie sich im Wesentlichen nur durch ihre unterschiedliche mediale Realisation unterscheiden. In diesem Sinne ist es für mich bei «Gulliver» unbewusst vielleicht tatsächlich der Versuch, diese mentale «Gleichstimmigkeit» in unterschiedlichen medialen Ausdrucksformen innerhalb einer Arbeit zu vereinigen.
S: Warum heisst die Arbeit «Gulliver»?
B: Weil sie von Jonathan Swifts «Gullivers Reisen» inspiriert ist. Dieses grandiose Buch hat sowohl für die Installation als auch die Ausstellung als Ganzes, Pate gestanden.
S: Ist es der Versuch, das literarische Werk künstlerisch umzusetzen, vergleichbar mit einer Literaturverfilmung?
B: Nein, überhaupt nicht!
S: Warum heisst sie aber «Gulliver»?
B: Sie heisst «Gulliver», weil das Buch von Jonathan Swift dasjenige ist, welches mich in den letzten zwei Jahren am meisten beeindruckt hat und welches heute vielleicht mehr denn je eine ungewöhnliche Aktualität besitzt: Das Buch ist kindlich, scharfsinnig, gesellschaftskritisch, kurios, komödiantisch, absurd, realistisch, prospektiv, sarkastisch, abenteuerlich, erfinderisch und in tiefster Weise menschlich. Das hat mich sehr bewegt und motiviert, selber eine eigene, «gulliverische» Arbeit zu realisieren.
S: Wie sieht die Arbeit konkret aus?
B: Die Arbeit besteht eigentlich aus zwei Räumen. Im ersten Rahmen, direkt beim Eingang zur Ausstellung, stehen drei riesige Fotografien; gigantisch vergrösserte, freistehende, Rahmen (280 x 355 cm), wie sie vielerorts zu Hause auf den Kommoden stehen, mit sogenannten «Erinnerungsfotos» (150 x 225 cm). Im ersten sehen wir ein Kind mit geöffnetem Mund, in welchem unter dem Gaumen eine massive Zahnspange zum Vorschein kommt. Das Bild wirkt auf den ersten Blick schockierend, auf den zweiten aber entpuppt es sich als harmlose Ansicht eines modernen medizinischen High-Tech-Geräts. Im zweiten sehen wir einen älteren, roten, zusammengeklappten und etwas demolierten Kinderwagen auf einem türkisblauen Plastik stehen. Die Arbeit ist knallig und wirkt sehr malerisch. Im dritten Bild sehen wir aus der Ameisenperspektive zwei Schafe mit dunklen Gesichtern, die aussehen, als seien sie wundersame, gigantische Riesen.
Im zweiten Raum ist auf 110 m2 ein echter Rasen ausgelegt, auf welchem 15 stark verkleinerte, weisse Nashörner aus Polyester weiden. Einige glotzen in einen Fernsehmonitor, in welchem sie ein gleiches, allerdings dunkles Nashorn – wie ein Standbild – im Gras stehen sehen. Man hört Geräusche, die an Nashörner erinnern, aber letzlich doch nicht definierbar sind. Nashörner besitzen nicht die besten Sehorgane, deshalb sind wir auch nicht ganz sicher, was im Video tatsächlich sichtbar ist: Ist es derselbe Rasen, auf dem wir im Moment stehen? Ist das dunkle Nashorn im Video lebendig im Unterschied zu den Polyester-Tieren auf dem frisch duftenden Rasen? Können wir das Wachsen des Rasens auch im Video erleben etc. Bei jedem Gedanken, den wir fassen, sind wir mit einer Realitätsverschiebung konfrontiert.
Zuerst habe ich auch daran gedacht, zwei grosse Malereien (Acryl auf Baumwolle, je 320 x 200 cm) innerhalb des Rasengevierts an die Wand zu hängen. Auf dem ersten steht auf roter Erde ein stark von der Sonne beschienener Feigenbaum. Auf dem zweiten – ebenfalls vor roter Erde – ein riesiges Kind, das in scheinbar zerebralgelähmter Haltung die Zunge herausstreckt. Wir wissen nicht, ob sie dies wegen des Feigenbaums tut (denn Feigen sind keine zu sehen) oder ob sie sich einfach züngelnd ins Leere tastet. Ich habe beim Aufbau allerdings entschieden, dass diese Bilder gemeinsam ein autonomes Werk bleiben*, wie auch der – wiederum aus Polyester bestehende – massstabsgetreue, weisse, scheinbar gefüllte Rucksack, der zuerst im Gras auf einer kleinen Anhöhe lag und nun am Ende der Ausstellung unter der Treppe zum Bureau der Administration steht. Bei Gullivers Reisen ist der Rucksack ein Symbol für grosse Sprach- und Kommunikationsfähigkeit ...
S: Am Ende der Ausstellung ist auch ein grosser, innen und aussen schwarz ausgemalter, 350 x 400 x 500 cm grosser Kubus zu sehen, der knöcheltief mit Wasser gefüllt und betretbar ist.
B: Das schwarze Haus ist in der Ausstellung gewissermassen komplementär zu meiner 300 x 150 x 950 cm grossen, fünfteiligen, Installation «How many nights I prayed for this» aus dem Jahre 1996/98, bei welcher an dünnwandigen Glaskästen Turngeräte befestigt sind, die unter anderem die Frage der Benützbarkeit thematisieren. Der minimalistische Eingriff in die attraktiv wirkenden, filigranen und transparenten Glaskuben verunsichert uns sowohl physisch als auch gedanklich. Die Turngeräte motivieren uns zur Interaktion. Sie zu benützen aber ist nicht unbedingt empfehlenswert. Es ist die Vereinigung von Kraft (des Kunstturnens) und Zerbrechlichkeit (des Glases), die eine permanente Ambivalenz provoziert zwischen Vertrautheit und Befremdung, Attraktion und Gefährlichkeit oder Adrenalinschub und Paradoxie.
Das betretbare schwarze Haus nun ist auf den ersten Blick die Verkörperung des Dunkeln und im Innern nur an einer Stelle mit einem kleinen Licht versehen. Wir gehen zuerst durch eine enge Schleuse und haben grossen Respekt, in die ungewisse Dunkelheit einzutreten, wo wir plötzlich inmitten von Wasser stehen. Wenn wir nun das unheimliche Gefühl überwinden und Musse finden, einige Minuten im Raum und im Wasser zu bleiben, entdecken wir – nachdem sich das Auge langsam an die Dunkelheit gewöhnt hat –, wie sich wellenartige Lichtreflexe, die wir selbst durch die Bewegung des Wassers fortwährend erzeugen, an die Wände projizieren. Der dunkle Raum erscheint plötzlich als hell und bewegt, ohne tatsächlich erhellt oder bewegt zu sein. Die Lichtwellen bringen in regelmässig unregelmässigen Rhythmen die Wände virtuell in Bewegung, und es entsteht ein ganz neues, unerwartetes Raumgefühl.
Eine – in Erwartung der Dunkelheit – vorerst unheimliche Szenerie entpuppt sich uns also nach einiger Zeit als ein vielsinniges, tranceartiges, seltsam beruhigendes und uns am Ende sanft stimmendes Erlebnis, sofern man durch die Aufregung nicht schon vorher über eine Stufe gestolpert und mit sämtlichen Kleidern ins Wasser gefallen ist (lacht) ...

Januar 2000


1 Die beiden grossen Leinwände wurden letztlich in der Ausstellung nicht aufgehängt.