Stefan Banz: Realitätsverschiebung, Suspense und Interaktion

Noch einmal über Kriterien (1)


Minimal Art
In den sechziger Jahren beginnen Künstler wie Donald Judd oder Robert Morris nach elementaren Ausdrucksformen zu suchen, die ästhetisch und formal ein Verhältnis zu ihrer Umgebung eingehen und dabei die Wahrnehmung sensibilisieren. Sie machen vom traditionellen Spektrum plastischer Werte wie Licht, Schatten, Proportionen, Rhythmen, Pulsierungen, Negativ-Raum oder Positiv-Form Gebrauch. Dabei ist ihnen die Anordnung ihrer Werke besonders wichtig: Donald Judd zum Beispiel bringt seine Reliefs an der Wand in einer Höhe an, die es dem Betrachter mühelos ermöglicht, nicht nur die Vorderseite, sondern auch die Deckplatte und die Unterseite der Boxen zu sehen, also unmittelbar ihre Dreidimensionalität und Proportion zu erkennen. Und Robert Morris macht in seinen späteren Arbeiten sogar explizit darauf aufmerksam, dass die Werte, die einem Kunstwerk zugeschrieben werden, nicht eigentlich allein in ihm selbst zugrunde liegen, sondern wesentlich durch die Perspektive des Betrachters bestimmt werden. Leider aber beschränkt sich sein Interesse letztlich auf die Form und die Proportion, oder anders formuliert, auf die ästhetische Erscheinung seiner Arbeiten. (2)

Für die Künstler der Minimal Art ist das Werk etwas faktisch Gegebenes der objektiven Realität, und weil es in diesem Sinne einfach da ist, wollen sie es auf sich beruhen lassen. Ihre Absicht - für Wahrnehmungsvorgänge zu sensibilisieren, statt Inhalte zu vermitteln - aber bedeutet eine Einschränkung unserer sinnlichen und geistigen Möglichkeiten. Sobald nämlich die Rezeption eines Werkes sich an ihrer Oberfläche erschöpft, verliert es seine Imaginationskraft und wird langweilig, öde oder trostlos. Wir brauchen die konzentrierte Form, wir brauchen aber ebenso emotionale und inhaltliche Aspekte, auch wenn sie sich letztlich - wie zum Beispiel bei Manet oder Antonioni - darauf beschränken, die einzigartige Leere als eine Folge von Beziehungslosigkeit nachzuzeichnen. Vor diesem Hintergrund erschöpft sich ein Werk von Donald Judd nicht in der Rezeption seiner Form und seiner Proportionen. Jacques Derrida sagt, «die Form fesselt, wenn man nicht mehr die Kraft hat, die Kraft in ihrem Innern zu verstehen» (3). Donald Judds Intention, seine «Spezifischen Objekte» als ein Ganzes zu konzipieren, das eine unmittelbare Gegenwärtigkeit markiert, ist im Nachhinein - in welches sie nachwirken - nicht aufrechtzuerhalten. Seine Arbeiten in Marfa (4) zum Beispiel vermitteln im Zusammenhang mit der dortigen Architektur sogar einen Touch von mysteriöser Verklärung, die durchaus mit der Erscheinung des Holzes in David Lynchs Filmen vergleichbar ist. Diese Eigenschaft der doppelten Kodierung aber ist keine Schwäche, wie es der Künstler möglicherweise empfunden hätte, sondern die Voraussetzung für ein kreatives und für den Betrachter interaktives Werk.

E.T.A. Hoffmann
Bereits in den literarischen Werken von E.T.A. Hoffmann begegnen wir immer wieder Figuren, die das kreative Wechselverhältnis zwischen Kunst und Leben thematisieren und durch ein ungewöhnliches Erschauen der Wirklichkeit Werke hervorbringen, die sich weder vom Autor noch vom Rezipienten loslösen lassen. Denken wir an den Einsiedler Serapion in den «Serapions-Brüdern» oder an den Vetter in «Des Vetters Eckfenster». Der Vetter zum Beispiel ist ein ausgezeichneter Beobachter, der sich beim Anblick des Marktplatzes von seinem Eckfenster aus die wundervollsten Geschichten erschaut. Inspiriert von dem Vorgefundenen, dem Alltäglichen und Beiläufigen, verleiht er im Gespräch mit seinem Vetter jeder einzelnen Figur und jedem einzelnen Ding, jedem einzelnen Ereignis, das er sieht, eine wunderbare Aura. Sobald er aber seine Wahrnehmungen aufschreiben will, versagen ihm nicht nur die Finger, sondern der Gedanke selbst verflüchtigt sich. Diese Darstellung macht deutlich, dass wenn sich seine Geschichten auf dem Papier festsetzen würden, die interaktive Rolle seines Zuhörers verloren ginge. Denn das Werk realisiert sich nicht nur über die Erzählungen des Vetters, sondern ebenso über die Rolle seines Zuhörers, der dieselben Szenen vom Fenster aus erblicken kann und dadurch mit zwei verschiedenen Realitätsebenen konfrontiert ist. Das heisst, die Entscheidung, was letztlich das Werk des Vetters ist, ist abhängig von dem, was sein Zuhörer (der Vetter des Vetters) im Verhältnis zu seinem eigenen Erschauten interpretiert. Wobei wir uns als Leser der Geschichte wiederum auf einer anderen Realitätsebene befinden und deshalb doppelt herausgefordert sind.

Auch Godofredus Bercklinger, der alte Maler in «Der Artushof», der seine Bilder in Gegenwart von Traugott mit vertieftem Blick und grosser Einbildungskraft auf die nackte, grau-grundierte Leinwand projiziert (ohne dabei einen einzigen Pinselstrich zu malen), lebt diese Idee des inneren Schauens und der äusseren Wirklichkeit als eine entmaterialisierte Form der Interaktion. Er könnte sogar ein Vorläufer der heutigen Konzept-Kunst sein. Er spricht gleichzeitig davon, keine allegorischen Gemälde, die bedeuten, zu erschaffen, sondern Werke, die sind: Grau-grundierte Leinwände, durchtränkt vom wunderbaren Einklang unterschiedlichster Elemente des Lebens. Bercklinger erschaut sich Bilder «mit reichen Gruppen von Menschen, Tieren, Früchten, Blumen, Steinen, die sich zu einem harmonischen Ganzen verbinden, dessen laut und herrlich tönende Musik der himmlisch reine Akkord ewiger Verklärung ist.» Dabei verweist er mit glühenden Augen «auf die geheimnisvolle Verteilung des Lichts und des Schattens», «auf das Funkeln der Blumen und Metalle, auf die wunderbaren Gestalten, die aus Lilienkelchen steigend sich in die klingenden Reigen himmlisch schöner Jünglinge und Mädchen» verschlingen. (5)

Hoffmanns Figuren kritisieren im Grunde sämtliche strukturalisierten Versuche der Kunst und versuchen die Untrennbarkeit des Ganzen als ein existentielles Wechselverhältnis zwischen Innen und Aussen, Form und Inhalt, Produzent und Rezipient vorzuführen. Und er meint damit, dass solange wir nicht über das hinausdenken, was wir sehen, die Welt so ist, wie sie sich zeigt. Vertrauen wir aber auf unsere eigene Phantasie und unser eigenes Vorstellungsvermögen, dann verändern sich die Dinge und wir tauchen ein in eine andere Welt, die gleichsam die unsere ist. Kunst hat in diesem Sinne die Chance, etwas so zu zeigen, dass es uns dasjenige ins Bewusstsein bringt, was auf der Oberfläche nicht sichtbar ist, nämlich die Tatsache, dass wir in einer Vielfalt von Wirklichkeiten leben, die es gilt, miteinander in Beziehung zu bringen und gleichzeitig voneinander zu differenzieren, um den Reichtum unserer Erlebnisfähigkeit zu erweitern.

Dennis Hopper’s The Last Movie
Dennis Hopper hat zu Beginn der 70er Jahre in seinem Film The Last Movie (1971) die Bedeutung von Interaktion und Realitätsverschiebung für unser Wahrnehmungsvermögen auf besonders ungewöhnliche Art und Weise sichtbar gemacht. Der Film verwebt ganz unterschiedliche Handlungsebenen, spielt mit Brüchen, Paradoxien und der Verschmelzung von realen, dokumentarischen und gespielten Szenen: Eine religiöse Prozession mit einer Statue von Jesus Christus in einem Dorf in den peruanischen Bergen vermischt sich u.a. mit einem amerikanischen Filmteam aus Hollywood, das in derselben Gegend einen aktionsreichen Western unter der Regie von Samuel Fuller dreht. Die Prozession wird von den Gläubigen mit grossem Ernst begangen, obwohl Jesus Christus bloss symbolisch in Form einer tragbaren Statue präsent ist. Die Szenen, die für den Film gedreht werden, sind sehr spektakulär und mit vielen Stunts bestückt: Es werden massenhaft Schlägereien und Schiessereien auf Pferden und Häusern inszeniert. Die Szenen wirken übertrieben und nur wenig glaubwürdig. Nach Beendigung der Dreharbeiten kehrt das Filmteam mit Ausnahme eines Stuntman nach Hollywood zurück. Die Einheimischen, die die Aufnahmen mit grossem Interesse mitverfolgt haben, bauen nun aus Holz eine Kamera- und eine Mikrofonattrappe, die sie wie die Statue von Jesus behandeln. Inspiriert von den beobachteten Ereignissen, beginnen sie nun selbst einen Film zu drehen. Im Unterschied zur Hollywoodcrew aber täuschen sie ihre Handlungen nicht vor, sondern inszenieren sie real. Sie verprügeln sich unter den Anweisungen eines selbsternannten Regisseurs und veranstalten Schiessereien mit scharfer Munition. Als ihnen der Stuntman auf Bitten des Dorfpfarrers klar zu machen versucht, wie gefährlich ihre Vorgehensweise ist und wie einfach sie im Grunde Stunts inszenieren könnten, verwandelt sich die anfängliche Verehrung für ihn in Wut und Aggression: er wird zusammengeschlagen, fortgejagt und am Ende sogar angeschossen.

Dennis Hoppers Film ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie unsere standardisierten Wahrnehmungsmechanismen funktionieren. Im Film wird nicht eindeutig klar, ob die Peruaner die Dreharbeiten tatsächlich falsch verstehen und sie als eine neue und echte Form der Mutprobe oder des Kampfes interpretieren - denn die religiöse Prozession der katholischen Kirche im Dorf ist ja auch nicht inszeniert sondern ernst gemeint, obwohl Jesus bloss eine Statue ist - oder ob sie sie mit Absicht missverstehen, um ein neues Ritual zu etablieren, in welchem sie auf legitime Weise Gewalt ausüben können.

Die erste Variante würde darauf hinweisen, dass jede Ausdrucks- und Verhaltensform, jede Sprache, wenn sie neu in eine Kultur einbricht, zuerst erlernt werden muss, damit sie verstanden werden kann. Wenn diese Peruaner aus den Bergen tatsächlich nicht begreifen, was eine Filminszenierung bedeutet, dann verstehen sie auch die Funktion nicht, die die Kamera und Mikrofone haben: Alles, was passiert, sind abstrakte Ereignisse, die individuell aus dem persönlichen Fundus ihres Wissens heraus interpretiert werden müssen. Bei genauerem Nachdenken über diesen Umstand werden wir allerdings den Verdacht nicht los, dass die Peruaner die Funktion und den Sinn der Dreharbeiten eher bewusst nicht verstehen, weil sie die Absicht verfolgen, reale Gewalt in einer neuen, rituell-religiösen Form auszuleben. Die Verkürzung und die Umkehrung der Realitäten wäre dann nicht zufällig, sondern ein perfides Mittel zum Zweck.

Mit anderen Worten, stets verkürzen wir das Geschehen oder das Gesehene auf diejenigen Elemente, die uns persönlich am besten nützen, die uns das Gefühl geben, uns unmittelbar zu bereichern. Dann legen wir sie uns in unseren Köpfen so zurecht, dass wir sie problemlos neu interpretieren und zusammensetzten können. Diese Tatsache werden wir nicht ändern können, sie ist eines unserer archetypischen Verhaltensmuster. Wir können sie aber - wie zum Beispiel im Bad auf der Messe - immer wieder thematisieren, damit sämtliche Formen der Verkürzung und deren Konsequenzen fortwährend reflektiert und mitberücksichtigt werden.


Hans Emmenegger
Der Schweizer Maler Hans Emmenegger (1866 - 1940) hat ausgehend von impressionistischen Ueberlegungen immer wieder versucht, ganz unscheinbare Grenzerfahrungen des täglichen Lebens so unmittelbar und so präzise und unverkürzt wie möglich auf die Leinwand zu bannen. Er hat zum Beispiel zwei Laternen des Vordergrundes vom fahrenden Zug aus festgehalten oder Blumen, Insekten und Vögel bei Mondschein, bei nur minimalem künstlichem Licht oder bei Dämmerung gemalt. Die grossen, grünen Blätter der Roten Cinerarien (1922, Privatbesitz) zum Beispiel erscheinen in Emmeneggers Darstellung derart steif und unwirklich, dass wir sie dem mangelnden Können des Künstlers zuschreiben und spontan nicht auf die Idee kommen, genau dies könnte bei Nacht in der Nähe einer Lampe das unmittelbar Gesehene sein, das nun in der Dauer präzise verbildlicht festgehalten ist.

Eines seiner überzeugendsten und zeitlosesten Werke, das späte Bild Spielhahn im Gleitflug (1935, Kunstmuseum Luzern) zeigt in Nahansicht ein Birkhuhn bei Dämmerung mit grosser Geschwindigkeit über einen Tannenwipfel fliegen. Das gedämpfte Licht und die Geschwindigkeit des Fluges hinterlassen auf der Netzhaut ein seltsam steifes Nachbild seiner Flugbahn. Dieses Nachbild aber ist durch das malerische Festhalten nun derart unverrückbar präsent im Bild, dass wir es spontan als ein abstraktes Kompositionselement lesen. Spielhähne sind bei Dämmerung am aktivsten, gleichzeitig ist das die Zeit, wo wir Dinge und Ereignisse am wenigsten bewusst wahrnehmen, sofern wir sie nicht mit dem Gedanken der anbrechenden Nacht und der darin lauernden Gefahr oder des Suspense in Verbindung bringen. Emmenegger ist in diesem Bild sowohl vom Ausschnitt, von der Komposition als auch von der farblichen Umsetzung her betrachtet mit besonderer Beobachtungsgabe und Genauigkeit vorgegangen. Gerade aber sein absoluter Wille zur Präzision, zur Nichtverkürzung, provoziert in uns umso stärker die Ueberzeugung, es handle sich hier eher um eine ungewöhnliche und seltsam kuriose Stilisierung eines bewegten Naturmoments, als um eine Verbildlichung von akribisch erschauten Beobachtungen. Und obwohl wir zu Beginn ein wenig leichtfertig versucht sind, diese Verkürzung als plausibel zu erachten, sind wir andererseits - wenn wir die Differenziertheit der Darstellung einmal wahrgenommen haben - wiederum verunsichert, weil es letztlich doch nicht ganz falsch ist zu behaupten, das Bild sei dennoch eine Interpretation und durch die Transformation in Malerei eine Verkürzung des Tatsächlichen.

Gerade das Beispiel von Hans Emmenegger zeigt uns sehr schön, wie die Thematisierung von Realitätsverschiebungen die Wechselwirkung zwischen Differenzierung und Verkürzung sowohl klärt als auch verunsichert und der Rezipient sich dabei nicht mehr einfach ausserhalb des Werkes positionieren kann. Hans Emmenegger wird vielleicht gerade deshalb heute noch immer weitgehend missverstanden und in der Kunstgeschichte nur marginal rezipiert. Dabei wäre doch gerade diese faktische und sequenzartige Wiedergabe eines Bewegungsmoments bei sternklarem Nachthimmel - im Zeitalter von Transformation, virtueller Realität und Interaktion - eine Problemstellung von grosser Aktualität. Denn sie ist nichts anderes als die «Ikonisierung des reinen Sehens als Bildwirklichkeit. Reale Begebenheiten offenbaren durch die malerische Transformation ihre irreale Konstitution. Ein an sich optisches Problem mutiert zum Bildproblem und entwickelt ein neues (paradoxes) Verhältnis zwischen Konkretion und Abstraktion.» (6)

Marcel Duchamp
Die Beteiligung des Betrachters an der Verwirklichung eines Werkes wurde in der Kunst möglicherweise zum ersten Mal explizit von Marcel Duchamp in «La Mariée mise à nu par ses Célibataires, même (Das grosse Glas, 1915/23) thematisiert. Duchamp gibt in diesem Werk «die vom Künstler definierte Ansichtsseite des Werkes auf und erzwingt die Stellungnahme und Mitverantwortung des Betrachters. Dieser muss seine eigene Perspektive einnehmen oder finden, wie er das Objekt wahrnehmen will.» (7) Im Unterschied zur späteren Minimal Art vertritt aber Duchamp die Position, dass Kunst nicht nur eine abstrakte oder reale «Konstruktion von Form und Farben, Raum und Volumen, Massen und Oberflächen» ist, sondern ebenso Ideen ausdrückt. (8) Die Gegenstände sind nie nur als sie selbst zu betrachten, sondern zugleich als Möglichkeit eines anderen, das nicht unmittelbar sichtbar ist. Alles, was in der dreidimensionalen Welt existiert, ist seiner Ansicht nach «nur die ‘Projektion’, die ‘Abbildung’, der ‘Reflex’ von unsichtbaren, in einer anderen Welt mit einer höheren Dimension existierenden Dingen. Da unsere Wahrnehmungsorgane auf drei Dimensionen beschränkt sind, ist dieses höher dimensionierte Kontinuum nur der Imagination zugänglich, also eine künstlerische Welt par excellence». Alle Gegenstände sind Bilder von anderen, unsichtbaren Gegenständen, die selbst wieder Bilder sind. Für ihn «ist die Welt ein endloser Tunnel aus Spiegeln, Projektionen und Trugbildern», wo unser Verstand stets «nur mit dem Schein der Dinge, nie mit den wirklichen Gegenständen selbst konfrontiert ist» und wo das, «was manche Philosophen objektive Wirklichkeit nennen», im Prinzip unerkennbar ist. (9) Um uns Betrachtern diese ungewöhnliche Sicht auch im Anblick eines realen Objekts unmittelbar zu vergegenwärtigen, hat Duchamp zum Beispiel vorgeschlagen, den Flaschentrockner (1914) bei Ausstellungen aufgehängt, im Raum schwebend, zu präsentieren. Durch diese Realitätsverschiebung würde sich das einfache Haushaltsgerät in ein transparentes geometrisches Raum-Modell verwandeln. (10) Es ist sicher nicht zu leugnen, dass er mit solchen Gesten die Ernsthaftigkeit seines Postulats auch gleichzeitig selbst ein bisschen unterwandert, damit die Lust am Humor und an der Ironie nicht einfach ausgegrenzt bleibt.

Trotzdem können wir davon ausgehen, dass sobald wir - wie bei Emmenegger - gewöhnliche Dinge darstellen oder sie - wie bei Duchamp - funktionsentbunden präsentieren, ihre Erscheinung irreal und abstrakt zu wirken beginnt. Im Unterschied zu mythologischen Darstellungen oder zeitgenössischen Dokumenten aus der Subkultur, der Pornographie oder Szenen von offener Gewalt werden wir hier als Betrachter nicht in die Rolle des Aussenstehenden gedrängt (weil wir das Gefühl haben, die Darstellungen und Präsentationen hätten unmittelbar nichts mit uns zu tun), sondern sie fordern uns auf, uns in ihr Verhältnis zu stellen. Das ist ein wichtiger Grund, warum Darstellungen aus dem alltäglichen, ja bürgerlichen Leben meist überraschend oder gar erschreckend wirken, weil sie uns unmittelbar betreffen und Dinge ans Tageslicht bringen, die wir gewöhnlich geneigt sind, an die Extremflanken des Lebens zu verdrängen.

Bruce Nauman und Jacques Derrida
Ich glaube, dass wir heute an einem Ort angelangt sind, wo unser Bewusstsein über die direkte Erscheinung von Dingen und deren metaphorischen, symbolischen oder referentiellen Kräften viel ausgeprägter ist. Dieses Bewusstsein setzt neue Energien frei, um die selbstverständliche Frage nach dem inneren Sinn eines Kunstwerkes wieder stärker zu befragen. Realitätsverschiebung und Interaktion spielen dabei eine ganz wichtige Rolle, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie durch die rasante Entwicklung der Medien wie Fernsehen, Video, Computer zu einem alltäglichen Faktum in unserem Leben geworden sind. Bruce Nauman hat uns in seinen Arbeiten schon sehr früh auf diese Bedeutung aufmerksam gemacht. Seine Korridorinstallationen zum Beispiel können überhaupt erst durch die Interaktion des Betrachters wahrgenommen werden. Dabei machen sie deutlich, dass jede Form von Wirklichkeit eine allegorische Realität generiert, die einerseits den schöpferischen Prozess der Verdichtung beschreibt andererseits die Tatsächlichkeit der Dinge in ihrer fortwährenden Ungewissheit anspricht. Seine Durchgänge entpuppen sich oft als Fehlkalkulationen, die Umkehrungen und blinde Flecken in sich bergen. Es liegt deshalb an uns, ihre wirkliche Funktionsweise zu bestimmen. Jacques Derrida hat in seinen Schriften immer wieder mit grosser Selbstverständlichkeit darauf hingewiesen, dass eine offenere und präzisere Wahrnehmung nur dann eintreten kann, wenn wir die Grenzen, die wir markieren, im gleichen Moment auflösen, weil wir nur unter dieser Voraussetzung imstande sind, uns gleichzeitig innerhalb und ausserhalb dieser Grenzen aufzuhalten. Diese doppelte Standortbestimmung ist für ihn die Voraussetzung, um sich sowohl als Produzent als auch als Rezipient ein konzentriertes und differenziertes Bild zu machen, ein Bild, das zum Beispiel die suggestive Dramaturgie der Demagogie entlarvt und relativiert.

Cindy Sherman und Arnold Schwarzenegger
Dies ist eine nicht unwesentliche Voraussetzung, wenn wir bedenken, dass heute vor allem Werke, die den Betrachter unterhalten, amüsieren oder schockieren im Zentrum stehen. Das hat vor allem damit zu tun, dass die Bildende Kunst ein Geschäft geworden ist, in welchem dieselben Mechanismen wie im Film- und im Popgeschäft dominieren. Ich will damit nicht sagen, dass es zum Beispiel keinen Unterschied gibt zwischen Cindy Shermans Photographien und Arnold Schwarzeneggers Filmen. Der Unterschied liegt - nebst der Verschiedenheit der Medien - vielleicht darin, dass bei Schwarzenegger alle Tricks, die zur Verfügung stehen, ausgenutzt werden, um den Realitätsunterschied zur Wirklichkeit zu verwischen und die Effekte möglichst echt erscheinen zu lassen. Bei Cindy Sherman dagegen geht es gerade um das Hervorheben von Künstlichkeit. Wie künstlich aber muss eine Horror- oder Verbrecherszene dargestellt sein, damit sie nicht mehr als brutal empfunden wird? Oder umgekehrt, wie künstlich müssen Darstellungen sein, damit die Künstlichkeit kippt? Fest steht, dass bei diesen Formen der Darstellung sich niemand weder beleidigt noch angespornt fühlt, sie wirklich ernst zu nehmen. Weder die Künstlerin (obwohl sie in ihren Werken stets selbst die Akteurin ist), noch der Betrachter ist gefordert, sich mit dem Hervorgebrachten zu identifizieren, weil es sich schon vorher von beiden abstrahiert hat: Wir sind und bleiben letztlich nichts anderes als einfache Voyeure in einem unterhaltenden Spiel des Suspense. Demgegenüber ist Arnold Schwarzenegger in seinem Film The Last Action Hero (1993) sehr weit gegangen. Er hat sogar versucht, das Problem der Realitätsverschiebung und der Interaktion zu thematisieren und den Betrachter (im Film) in die Verantwortlichkeit miteinzubeziehen. Dies aber hat zumindest die Betrachter (des Films) derart verunsichert, dass der Film sang und klanglos floppte.

Werke, die unterhaltend sind, gleichzeitig aber verunsichern, haben es prinzipiell schwer, das zeigt zum Beispiel der Vergleich zwischen einer Marlboro- und einer Benetton-Werbung. Sobald wir uns selbst als ein zwiespältiges Element im Ganzen empfinden, als das uns die anderen Betrachter sogar entlarven könnten, werden wir misstrauisch: Es entsteht eine moralische Komponente, die uns aus der distanzierten Rolle des Voyeurs hinauskatapultiert und uns das Gefühl gibt, wir selbst seien ein Teil von dem, was wir sehen.

Es scheint mir deshalb im Moment sehr einfach zu sein, Kunst als Entertainment, als Voyeurismus oder als Abstraktion zu produzieren. Die Möglichkeiten, die uns der Computer und der Cyber Space zur Verfügung stellen, vereinfachen auch das Problem der Interaktion, weil sich die Hervorbringungen in erster Linie auf das Bewusstmachen und Erleben des Phänomens (also auf eine passive Form des Interagierens) konzentrieren. Was nützen aber neue Techniken der Darstellung, wenn damit nur die elementarsten und linearsten Mechanismen und traditionellsten Wahrnehmungsprobleme thematisiert und veranschaulicht werden. Auch hier könnten wir Duchamp als Korrektiv heranziehen. Entgegen den damals neuen Medien Photographie und Film (die in gewisser Weise abgebildete, transformierte Ready-mades hervorbringen), hat er versucht, das Problem und die Bedeutung einer Wahrnehmungsverschiebung durch die Interaktion des Betrachters im Raum bewusst zu machen, ohne dabei, wie schon einmal erwähnt, die Aspekte des Humors und der Ironie und in diesem Sinne des Entertainments auszuklammern.

Luzern, 31. Dezember 1995


Anmerkungen:
1 Vgl. Stefan Banz, Das Dilemma der Kriterien, in: Artis, Zeitschrift für neue Kunst, Oktober-November 1994, S. 52 - 55.
2 Jutta Held, Minimal Art - eine amerikanische Ideologie (1972), in: Gregor Stemmrich (Hg.), Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden-Basel 1995, S. 444 - 470, S. 448/451
3 Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1985 (2. Aufl.), S. 11. Der ganze Satz heisst: «Die Form fesselt, wenn man nicht mehr die Kraft hat, die Kraft in ihrem Innern zu verstehen, das heisst, wenn man nicht mehr die Kraft hat zu schaffen.» Das Wort Form ist von Jacques Derrida hervorgehoben.
4 In Marfa, New Mexico ist Donald Judds Chinati-Foundation, eine ganze Siedlung, die er restaurieren liess und anschliessend mit Werken von sich und von Künstlerfreunden bestückt hat. Vgl. z.B. Donald Judd, Architektur, Münster 1989, S. 40-91.
5 E.T.A. Hoffmann, Die Serapions-Brüder, Gesammelte Erzählungen und Märchen in vier Bänden, Frankfurt am Main 1983, Band 1, S. 209
6 Stefan Banz, Ein trockenes Brechen der Regentropfen. Ueber die immer wieder davoneilenden Bedeutungsstrukturen und das Paradoxe im Bild, in: Lettre d’image par Aldo Walker, Zürich 1989, S. 34 - 67, S. 57.
7 Gerhard Graulich, Weder visuell noch zerebral. Duchamp als Anreger eines konzeptuellen Kunstbegriffs, in: Marcel Duchamp, Respirateur, Ostfildern, Stuttgart 1995, S. 79-86, S. 84.
8 Herbert Molderings, Fahrrad-Rad und Flaschentrockner. Marcel Duchamp als Bildhauer, in: a.a. O., S. 119 - 144, S. 130.
9 a.a.O., S. 140
10 a.a.O., S. 141/142