Friedrich Kittler
Stefan Banz



Platz der Luftbrücke
Ein Gespräch

Herausgegeben von Iwan Wirth



Stefan Banz: Auf der Taxifahrt hierher zu Dir hat sich plötzlich ein riesiger Gebäudekomplex vor meinen Augen aufgerichtet ... ich kannte ihn nicht, und deshalb habe ich den Taxifahrer gefragt, ob diese Architektur noch aus dem Krieg stamme, und er meinte: «Ja, das ist der Flughafen Tempelhof, der ist noch von Adolf» ... und da war ich ein wenig verunsichert, wie das genau zu verstehen ist, wenn ein deutscher Taxifahrer von «Adolf» spricht. Hat das irgendwie eine Bedeutung?
Friedrich Kittler: Das habe ich mir noch nie überlegt, offenbar ist er dem Nachnamen ausgewichen ... Ich denke, dass man den Teufel lieber auch nicht beim Namen nennen will und eher Umschreibungen benutzt, weil’s eben heikel oder gefährlich ist. Andererseits ist der Tempelhofkomplex ganz passable Architektur, und dieses zwiespältige Gefühl drückt sich wahrscheinlich durch solche merkwürdigen Tricks mit dem Vornamen aus ... Die schöne Geschichte ist, dass diese Anlage nicht aus dem Krieg stammt, sondern kurz vor dem Krieg gebaut wurde. 33 war ja diese berühmte Mai-Demonstration der Nazis, die erste grosse Propaganda-Aktion ... eigentlich der Weltgeschichte, wo eine Million Menschen zum Tempelhof bestellt wurden (weil der Flughafen eben noch nicht existierte), und damit Beschreibungsanlagen, Riesen-Radio, Direktübertragung und die ersten Zeppeline in der Luft mit Übertragungsanlagen und Reportern. Das war ein totales, von Goebbels sehr streng geplantes Multimedia-Schauspiel. Und 35 ist dann die Luftwaffe gegründet worden und all die Strassen um den Tempelhof wurden nach deutschen Fliegern benannt – von Generalfeldmarschall Milch, dem einzigen Halbjuden in der Führung der NS oder der Wehrmacht. Dann kam der Flughafen und ab 35 muss dieses Tempelhof-Ding dann gebaut worden sein, das angeblich nach dem Pentagon der zweitgrösste umbaute Architekturkomplex der Welt ist. Nach dem Krieg war ja Besatzungszone und die Amerikaner wollten ihn sofort sprengen, weil Adolf eben ... und dann stellte sich heraus, dass das Ding nicht sprengbar ist ... schmunzelt und lacht ... Dann wurde es halt benutzt, und als plötzlich dann die Luftbrücke notwendig wurde und der Tegler-Flugplatz noch gar nicht gebaut war, da hiess es von einem Tag auf den andern, ab heute ist es funktionell. Das ist so eine Berliner Geschichte, dem Treuhandbau vergleichbar, der zuerst das Reichsluftfahrtministerium von Göring war, dann zur Zeit der DDR verschiedene Ministerien beherbergte, bis schliesslich zur Abwicklung der DDR die Treuhand reingekommen ist. Auf diese Weise pflanzt sich die Berliner Geschichte, die immer da ist, fort, und deshalb reagieren vielleicht auch die Taxifahrer ein wenig nervös.
B: Warum wurde der Komplex am Ende des Krieges von den Alliierten nicht zerbombt?
K: Es ist wundersam ... Das mindeste, was man sagen kann, ist, dass ja Feldmarschall Harris mit seiner Bombenplanung wirklich die Zivilbevölkerung meinte und die Engländer die Industrieanlagen in den Städten nicht gross bombardierten. Und dann ab der Konferenz von Casablanca ... denkwürdiger Film ... übernahmen dann die Amerikaner die Aufgabe, mit ihrer Luftwaffe Industrieziele anzugreifen (die Engländer dagegen blieben weiter bei zivilen Zielen). Aber die Amerikaner flogen, soweit ich weiss, kaum nach Berlin, deshalb steht’s. Dagegen zerbombten sie vollkommen die Kugellagerfabriken in Schweinfurt. Das war ein halbes Jahr für die Panzerproduktion der Wehrmacht ziemlich übel. Ohne Kugellager kann man offenbar keine Panzer zum Laufen bringen. Das ist vielleicht das mindeste, was man sagen kann. Und wenn man böse ist, dann sagt man halt wie Pynchon in «Gravity’s Rainbow», dass sich die grossen Konzerne auf beiden Seiten der Front mit einem Augenzwinkern dahingehend verständigten, dass sie einander die Industrieanlagen oder die Infrastrukturanlagen nicht all zu arg zerstören. Das riesige IG-Farben Hauptgebäude in Frankfurt ist zum Beispiel auch völlig unversehrt geblieben.
B: «Gravitiy’s Rainbow» scheint für Deine publizistische Tätigkeit nach der Zeit von «Aufschreibesysteme» ziemlich wichtig (gewesen) zu sein.
K: Ja, das war wie ein Schock, das Buch. Und es kam dazu, dass ich es wirklich sozusagen unter Schockbedingungen gelesen hatte. Ich war zum allerersten Mal in Amerika und ich wusste gar nicht, wie kalt Kalifornien im Winter sein kann. Im Januar hatte ich dort mein erstes Seminar zu geben und sonst hatte ich eigentlich nichts zu tun. Draussen aber war es eiskalt und ich musste in der Wohnung hocken. Ein Freund, der vor der Ankunft noch ein Brieffreund gewesen war, drückte mir drei Tage nach meinem Einfliegen dieses Buch in die Hand und ich hatte so endlos viel Zeit, lag auf dem Bett und verstand fast gar nichts, weil er mir das Buch natürlich auf Englisch gegeben hatte; und in meinem Gefühl von damals benutzte Pynchon in diesem Roman allein für Rost und Dreck vielleicht 99 Wörter, Substantive, und ich kannte vielleicht zwei. Ich las das Buch wie hinter Schleiern, denn um Englisch zu lernen, hatte ich immer nur Chandler verschlungen. Und dann nahm ich die deutsche Fassung immer wieder ins Flugzeug mit, las so zehn bis zwölf Stunden durch und lernte das Buch dabei fast ein wenig auswendig. Und es war halt auch ein seltsamer Effekt, mitten in Kalifornien, in Berkeley, die deutsche Geschichte auf diese Weise nacherzählt zu bekommen. Und alles, was wir dann danach recherchiert haben, hat gezeigt, dass Pynchon im grossen und ganzen überall recht hat. Dazu kam auch diese Kindheitserinnerung: Mit Mamma und Bruderherz war ich jedes Jahr in Usedom in den Ferien, also auf der Insel, wo diese Raketen getestet wurden. Und es gab ja Anfang der 50er Jahre in der DDR keine Asphaltstrasse, die in Ordnung war, nur in Usedom war der kleinste Dorfweg wie eine Autobahn ausgebaut, und mitten auf der Autobahn waren überall riesige Sprenglöcher vom Angriff der Royal Air Force im August 1943 – wir kommen wieder auf das Thema – und wir durften nicht im Wald spielen, weil die Blindgänger sozusagen übereinanderlagen. Und trotzdem sprach niemand davon, niemand sagte, das hat uns Adolf ... nicht mal dieser Satz fiel. Als Kind ging man genauso verschleiert, wie ich diesen Roman las. Es gab die DDR, aber man sprach nicht darüber, und es war alles sichtlich eine wilde, grosse Vergangenheit. Die Gegenwart dagegen wirkte so klein, auch auf mich als Kind, diese bescheidene DDR-Datschen-Mentalität, und das war eben so ein Kontra, so ein Rätselraten, so ein Fragezeichen in meinem Kopf, und der Roman hat die Fragezeichen schlicht beantwortet.
B: Hast du diesen Roman einiges später gelesen als Marshall McLuhan?
K: Ich hatte McLuhan gelesen, ich weiss nicht, ob das so folgenreich beim ersten Mal war ... Für mich kam das alles ziemlich gleichzeitig. Leute in Berkeley erzählten mir von McLuhan, wie verrückt das gewesen sei, als die Hippies ihn nach San Francisco eingeladen hatten, als ihren grossen Guru, und alle trugen Federboas und Popkleidung, Edelmannstyling, und dann kam dieser Mensch mit einem chicen Anzug eingeflogen und wirkte so orthodox kanadisch und redete trotzdem ziemlich gut zu denen. Solche Geschichten erzählten mir die Leute in Berkeley zur selben Zeit als ich Pynchon las. Und gleichzeitig fand ich ganz zufällig heraus, dass in Berkeley eine Mark Twain Library existierte, obwohl der Kerl, soweit ich weiss, gar nie in Kalifornien gewesen war. Und weil dieser Mensch einer der ersten unter Amerikas Schriftstellern war, der Schreibmaschinen benutzte, standen sämtliche Bücher über Schreibmaschinen und deren Geschichte in dieser Bibliothek, und so hat sich’s dann gekoppelt, da bin ich dann rein und hab mir nicht Mark Twain rausgeholt, sondern die Bücher über Schreibmaschinen, und so entstand also ziemlich gleichzeitig mit dem Amerika-Schock das massive Interesse an den Medien: Wo kommen die her und warum erzählt niemand deren Geschichte. In der Zwischenzeit ist es total üblich, ich werde heute überschwemmt von medienhistorischen Büchern, ich brauche ja selbst keine mehr zu schreiben, die Welt schreibt überall.
B: Als ich in Zürich studierte, galt noch immer das ungeschriebene Gesetz vom letzten Jahrhundert, als die Geisteswissenschaften versuchten hinter vorgehaltener Hand den Naturwissenschaften nachzueifern. Es wurde nie direkt thematisiert, aber es gab dann eine Phase, wo viele sich von den Naturwissenschaften zu lösen versuchten. Bei Dir nun stelle ich eine Art Rückführung dieses Gedankens fest. Die erneute Kopplung zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, aber in einem ganz anderen Sinn: du benennst oder thematisierst vielmehr direkt diese Kopplung oder Synergie. Dabei fällt mir eines besonders auf, was ganz anders ist als in der Tradition der Geisteswissenschaften, nämlich dass du so über Phänomene sprichst, als würde der Begriff der Interpretation nicht existieren.
K: ... schmunzelt ... lacht ...
B: Mich würde interessieren, was das auf sich hat. Gibt es für Dich diesen Begriff der Interpretation überhaupt noch und wenn ja, was für eine Bedeutung hat er für Dich?
K: Das sind jetzt, glaube ich, viele Fragen auf einmal, Stefan, da muss ich langsam beginnen. Also das mit den Geistes- und Naturwissenschaften, das kann man so beschreiben, auch historisch. Es macht ja auch Spass, das nochmals ein bisschen nachzurecherchieren, das machen wir öfters in Seminaren bis und mit Nietzsche, wie sehr sich sozusagen die Philosophen an den Physiologen, Helmholtz meinetwegen, orientiert haben und wie dann so ab Dilthey, und auch bei Husserl, diese schreckliche Trennung vorgenommen wurde. Sie klauten natürlich weiterhin von irgendwelchen psychologischen, physiologischen oder naturwissenschaftlichen Befunden, auch Husserl, auch Dilthey, aber sie wollten es selbständiger als jene machen, sie haben es auch ziemlich politisch damals gemacht. In den Gründererklärungen, warum das gemacht wird, geht es darum, dass die Philosophen nicht aussterben möchten. Aber die Enkel und Kinder von Dilthey haben dies bereits vergessen und/oder so verinnerlicht, dass sie überhaupt keine politische Absicht mehr dahinter sahen. Und dagegen machten wir dann schon eine Kehrtwendung – vor allem unter dem Druck der amerikanischen Technologie und dessen, was der zweite Weltkrieg technisch, nicht so sehr Ausschwitztheoretisch, gewesen ist. Ich denke aber, dass es keine Rückkehr zu diesen Leuten ist, zu einer guten alten Zeit, wo Geistes- und Naturwissenschaften Hand in Hand gegangen wären, so wie einst meinetwegen Kant es noch gedacht hatte, sondern ich denke, der Unterschied ist, dass sich inzwischen die Naturwissenschaften in Technikwissenschaften gewandelt haben, und die Technikwissenschaften oder Ingenieurswissenschaften die Modelle sind, mit denen ich am liebsten arbeite. Das ist der Grund, warum ich mich nicht wie zahllose Vorgänger auf Heisenbergs Unschärferelation beziehe, wo Positionen und Spins unscharf und angeblich das Geistige sind. Das waren ja so mühsame Annäherungen damals. Seitdem die theoretische Physik oder auch die Mathematik kaum mehr bespielt wird, dringt ja das Technische oder Ingenieursmässige in die Naturwissenschaften ein, und ich habe in der letzten Zeit gedacht, ob das vielleicht die Plattform ist, die Technik oder die Regularitäten von Technik, die Programmierbarkeit von Geistessachen oder von Ingenieurssachen oder von naturwissenschaftlichen Sachen, dass das den gemeinsamen neuen Boden herstellt. Oder anders, polemisch gesagt, wenn Heidegger oder Husserl sich von den Naturwissenschaften abgrenzen wollen, dann meinen sie analytische Naturwissenschaften, Naturwissenschaften, die die Schönheit der Farben in Spektren zerlegen. Wenn wir aber heute von Naturwissenschaften reden, dann meinen wir Technologien, die Bilder generieren, also technisch-synthetische Verfahren und dann macht’s nicht mehr so schreckliche Schwierigkeiten, die Kultur oder kulturelle Phänomene auch als eine Kulturtechnik zu beschreiben, wie das Marcel Mauss glaube ich zum ersten Mal begonnen hat. Oder anders ausgedrückt, das Schwimmen nicht mehr als eine Gottesgabe bei einem dreijährigen Kind anzunehmen, sondern zu beschreiben, wie den Leuten im Zuge der Entstehung von Nationalehren und von nationalen Marinen Schwimmen beigebracht worden ist. Und prompt hat man ein technisches Verhältnis zum Phänomen Sport oder Schwimmen oder Lesen oder Hören. Wenn dies alles Kulturtechniken sind, die an Medien und an historischen Begründungen hängen, dann kann man darüber reden. Solche Programmierungen sind halt ein wenig strikter als etwa Sinngebilde oder bedeutende Gebilde, und deshalb braucht man sie nicht so schrecklich zu interpretieren: Manchmal reicht das Handbuch, sofern es aufzutreiben ist. Wenn ich einmal richtig interpretiert und mich dabei wohlgefühlt habe (das ist mir nicht immer passiert, ich hatte auch Aversionen gegen die Interpretierwut meiner Vorgänger), dann war das so etwas wie ein ungeschriebenes Handbuch, zumindest ein konstruiertes, wenn man keines findet. Aber manchmal ging’s eben, fast ein Handbuch zu finden. Meine persönliche Lieblingsinterpretation ist zum Beispiel ein Text über Don Carlos (überhaupt über Schillers frühe Dramen). Don Carlos wurde immer als ein freiheitspathetisches Produkt gegen den tyrannischen Herzog, unter dem er gross geworden war, gelesen, und ich habe mir einfach die Akten oder die Bücher über die Akten kommen lassen, in denen aufgeführt ist, wie der Herzog seine Schule, in der Schiller Schüler war, konzipiert hat. Es gab ein Programm für diese neue Schule, die 1770 als Reformschule gegründet wurde, da stand wie sie geplant wurde, welche alten und neuen Pflichten die Schüler hatten, welche Wissensformen ihnen beigebracht werden sollten etc. All das ist wie ein Computerprogramm, und wenn man es zusammen mit dem Text von Don Carlos liest, dann stellt sich heraus, dass Carlos natürlich die Karlsschule meint, wo Schiller selbst war, und dass Schiller einfach den Herzog abschreibt, statt gegen ihn zu protestieren. Mit anderen Worten, wenn mir das glückt, dass ein Text, der anscheinend eine Interpretation braucht, kombiniert werden kann mit einem Text, der die Regeln des Textes A angibt, dann implodiert das so schön und bildet sich aufeinander ab, und dann muss ich mich nicht mehr fragen, was fühlte Don Carlos, dann sage ich einfach, Don Carlos ist Schiller oder Don Carlos ist der Schüler sowieso in der Karlsschule.
B: Wenn man sich nun vergegenwärtigt, dass die gesamte Menschheit fortwährend und immer intensiver mit dem Computer lebt und arbeitet, stellt sich doch immer wieder die Frage, was mit unseren Ideen und mit unserem Leben tatsächlich passiert. Zum Beispiel: du hast bestimmte Vorstellungen und hockst am Computer. Die erste Erfahrung, die du nun machst, ist, dass deine Vorstellungen im Computer sofort systematisiert werden. Das hat, wenn du so willst, mit dieser digitalen Idee, diesem Zweiersystem, zu tun, und das heisst ja eigentlich auch, dass dieses Zweiersystem unendlich viele Vereinfachungen vornimmt. Könntest du dir in diesem Sinne vorstellen, dass man in einigen Jahren die Erkenntnis hat, dass der Weg, den wir mit dem Computer gegangen sind, zwar richtig und unheimlich bereichernd, erkenntnisbereichernd war und ist, aber dass das System als solches vielleicht eine Fehlüberlegung war, und dass man dann möglicherweise wieder zurückkehrt zum Dezimalsystem – ich weiss es nicht, oder zu einem ganz anderen System, wo man Informationen formalisieren kann? Es hat ja immer eine Linearisierung zur Folge. Wenn du zum Beispiel eine komplizierte Kurve nimmst, dann wird die immer zu einer einfachen Geraden linearisiert, wenn du so willst ...
K: Genau bei den Kurven weigert sich die Computergraphik immer, schöne geschwungene Funktionen zu benutzen und lässt stets nur ganz bestimmte zu ... Dieses Phänomen ist eines, das mich am tiefsten beschäftigt, ohne dass ich immer die richtigen, neusten Bücher dazu bekäme, das heisst, dass ich nicht immer exakt auf dem neuesten Stand bin. In Yale habe ich erst kürzlich versucht, die Endlichkeit des Computermodells ein bisschen zu recherchieren und darüber entsprechende Literatur zu finden. Aber ich habe nichts gefunden in diesen blöden Bibliotheken ... Man ist mit ein paar Physikern, aber nicht so vielen Menschen auf der Welt, einig, dass die Digitalisierung ein Prokrustesbett ist in das die Phänomene der Natur hineingestopft werden. Die digitale Maschine ist insofern kein Prokrustesbett, keine Zwangsjacke, wenn es meinetwegen um Texte geht. Texte sind strukturell, eckige Entitäten aus Buchstaben gemacht, und es gibt keinen Übergang zwischen A und B, sondern dazwischen ist dasselbe Loch wie zwischen Null und Eins, aber bei dritten oder bei fraktalen Gebilden gilt das ja bei Gott nicht, dass die mit Null und Einsen gemacht sind, und jeder, der behauptet, die Natur selbst sei ein grosser Computer, der hat wohl nicht mehr alle, obwohl diese Behauptung implizit immer gemacht oder oft gemacht wird. Ich denke, das ist Leibniz: Natur ist, wenn Gott rechnet ... lacht ... Und die Physiker überlegen sich genauso, wie du die Frage jetzt gestellt hast, ob diese digitale Sache nicht vielleicht für bestimmte hochkomplexe Gebilde in der Welt oder in der Natur eine Sackgasse ist. Sie versuchen dann, was ich nicht kann, sich vorzustellen, wie man analoge programmierbare Maschinen bauen könnte. Diese wären dann vielleicht nicht in dem Sinne wie Turing (auf die er auch stolz war) universal programmierbar. Um den Preis, alles zu digitalisieren, alles, was rechenbar ist, auf die digitalen Maschinen zu bringen, braucht es unendlich viel Zeit. Das Problem lässt sich nicht lösen.
B: Auf das Problem der Zeit möchte ich sowieso noch zu sprechen kommen.
K: Es scheint mir ganz wichtig, es ist auch keine Depression, dass wir danach fragen, ob die digitale Technologie vielleicht einfach eine historische Etappe ist. Sondern es ist eher eine Hoffnung, denn wenn die digitale Technologie jetzt wirklich das Gelbe vom Ei wäre, dann wäre die Weltgeschichte irgendwie zu Ende und zwar absehbar zu Ende. Es könnte vielleicht sein, dass die Chinesen in den nächsten 150 Jahren noch ein besseres Computersystem bauen als die Amerikaner, und dadurch das amerikanische Imperium, wenn es dann immer noch gilt, umstülpen. Es würde sich allerdings bloss bei den Namen der Herrscher etwas ändern, aber nicht mehr an der Struktur.
B: Du siehst es eigentlich in dem Sinne positiv, oder erachtest es als äusserst spannend, weil wir eben wissen, (noch) nicht das Ei des Kolumbus sondern höchstens eine unglaubliche Illusion kreiert zu haben, eine Illusion, die uns aufgrund ihrer Eigenschaft riesige Inspiration und Möglichkeiten eröffnet?
K: Ja, weil es was zu Suchen gibt.
B: Wenn man sich überlegt, wie diese digitale Formalisierung funktioniert, ist es doch interessant, wie gerade der Begriff der Interpretation, über den wir gesprochen haben, unheimlich aufgewertet wird, weil letztlich, wenn man codiert oder decodiert, also gewisse Phänomene einspeist und sie dann wieder in andere Systeme überträgt, immer dieses Moment der Interpretation da ist. Man hat ja immer nur die Information von Null und Eins, und das muss dann irgendwie uminterpretiert werden, wenn es in einem anderen System auch funktionieren soll. Das ist, wie wenn du eine Kurve linearisierst und danach wieder eine Kurve machen willst, dann ist diese Kurve die Interpretation der linearisierten Daten. Also das ist doch eigentlich ein verrücktes Ding, ein Paradox, oder?
K: Ja, das gelingt immer nur mit endlicher Genauigkeit und es entstehen immer Fehler, Verluste, bei solchen Übertragungen oder Umcodierungen. Es ist ein verrücktes Ding und gilt halt vor allem für die Schnittstellen. Um ein ganz triviales Beispiel zu nehmen, man sieht es am besten bei heutigen Audioanlagen: Fast alles ist digitalisiert, nur der digitale Lautsprecher ist noch immer nicht erfunden, weil das digitale Ohr noch nicht erfunden ist. Es gibt deshalb irgendwo eine analoge Schnittstelle zum System Mensch, und so ähnlich funktioniert es beim Auge und beim Bildschirm. Ich glaube aber nicht, dass bei diesen Schnittstellen, also bei Linien oder Audiosignalen nun ernsthafte oder tödliche Verluste auftreten, wir sind ja ganz zufrieden mit der CD-Qualität oder mit 21 Zoll Monitoren, und mit 16,7 Millionen Farben können wir so ungefähr leben. Natürlich sind 16,7 Millionen Farben noch nicht das gesamte Spektrum, und einige haben ja auch gezeigt, dass mit 3 Farbkanonen (Rot, Grün, Blau) nicht alle in der Welt vorkommenden Farben dargestellt werden können. Es liegt also nicht nur an der Digitalisierung in 16,7 Millionen Farben, sondern es liegt auch an der Reduktion auf drei Farbkanonen. Mit 9 Farbkanonen sähe es auch schon viel besser aus, aber die Industrie baut uns das nicht, aus Geiz oder aus Unlust.
B: Die Ebene der Interpretation existiert für Dich demnach nur noch deshalb, weil es neben den digitalen Systemen auch noch analoge gibt?
K: Ich denke schon, ja. In digitalen Systemen selber, wenn man von einem Code in den anderen übergeht, würde ich nicht so gerne von Interpretationen reden, weil die Interpretationen immer so eindeutig sind, so eineindeutig, vorwärts und rückwärts. Es gibt selten einmal Fälle, wo ernsthaft etwas verlorengeht. Die Menge bildet sich (zwar) in andere Mengen von Zeichen ab, aber nicht so, dass jetzt etwas Tragisches wegfällt. Und um nochmals auf die Vorvorfrage zurückzukommen, die ganze Entwicklung seit Turing (oder weg von Turing, von diesen digitalen Maschinen), zeigt, dass diese binären Zahlen immer breiter werden. Die 16 Bit-Maschinen sind so gut wie ausgestorben, die 32-Bit-Maschinen sind aktuell, die 64-Bit- Maschinen stehen aber schon da. Unix zum Beispiel wird im Moment auf 64-Bit umgestrickt, de facto heisst das, eine binäre Zahl mit 64 Stellen hat eben schon mehr Ähnlichkeit mit einer Dezimalzahl, einer reellen Zahl, als eine Binärzahl mit 8 oder 16 Stellen. Insofern schleicht sich heimlich durch die Verbreiterung der Register und der Datenvolumina sowas Analoges schon wieder ins Digitale ein, weil die Genauigkeit zunimmt und das Raster feiner wird, sehr fein, die 16,7 Millionen Farben sind ja ein Beispiel dafür.
B: Glaubst du, dass es da Grenzen gibt, weil der Zeitfaktor eine unheimliche Rolle spielt? Und ich frage mich, ob dieses ganze Problem mit der Zeit, das wir heute haben, mit dem digitalen System in Zusammenhang steht, denn die primäre Frage ist doch: Wie kann man das System so entwickeln, dass man Zeit gewinnt? Am Anfang, wenn du ein Bild in den Computer eigelesen hattest, musstest du unendlich lange warten, in einer bestimmten Auflösung vielleicht bis zu einer Woche. Dann hat man diese Sachen so entwickelt, dass die Zeit immer kürzer wurde. Trotzdem bleibt die Zeit ein unheimlich wichtiger Faktor, obwohl uns der Computer glaubhaft machen will, dass wir mit ihm unheimlich viel Zeit sparen.
K: Ich glaube ja nicht, dass wir soviel Zeit sparen, er zieht uns derart in seine Fesseln, dass wir fortwährend Zeit an ihm verlieren. Um es mit einem Witz zu sagen, es ist ja eigentlich gar kein Witz: Es gibt Leute, die 48 Stunden ohne Schlafen dafür verwenden, um die Laufzeit eines Programms um 0,3 Sekunden zu verkürzen. Das gibt’s, und es macht auch Spass!
B: ... lacht ...
K: Das ist natürlich auf der primitivsten Ebene geantwortet. Man kann aber wirklich sagen, alle Komplexität, die früher unter Nicht-Computer-Bedingungen irgendwie im Geist stattfand oder durch Intuition gelöst wurde, durch vage, aber relativ gute statistische Einsicht, wird umgewälzt auf den Parameter Zeit, und deshalb muss er heute so systematisch verkürzt werden. Das Ganze ist im wesentlichen eine riesige Beschleunigungsgeschichte, für die weitgehend das Pentagon verantwortlich ist, weil es keine 4,7 MHz-Computer mehr wollte, sondern 100 MHz- oder 200 MHz-Computer. Damit hat sich alles auf den Faktor Zeit umgewälzt, und aus der zunehmenden Registerbreite entstehen natürlich hübsche Paradoxien: Wenn wir zum Beispiel 64-Bit-Maschinen bauen und annehmen, dass alle Adressen im Speicher irgendwo repräsentiert sind (also keine Leerstellen haben, was natürlich normalerweise nicht der Fall ist), dann braucht der Alpha Dec ein paar Millionen Jahre, um seinen gesamten Speicher einmal ganz auszulesen: Der gesamte Speicher entspricht 264, und das ist eine verdammt grosse Zahl, um nur einmal durch den Speicher zu laufen. Man kann nun durch technische Beschleunigung den Zeitaufwand des Rechners stetig verfeinern und verkleinern, doch zwei grundsätzliche Zeitprobleme sind auf diese Weise nicht lösbar. Erstens gibt es Probleme, weil die Beschleunigung der Rechenzeit um den Faktor 2 gar nichts bringt gegenüber der eigenen Anwachsrate des Problems. Das banalste Beispiel sind Fakultäten der Mathematik, die wachsen überexponentiell, 1 Fakultät ist 1, 2 Fakultät ist 2, 3 Fakultät ist 6, 4 Fakultät ist bereits 24, 5 Fakultät ist 120, 6 Fakultät ist 720, es geht wahnsinnig schnell hoch und der Schritt von n nach n+1 braucht soviel mehr Rechenzeit, dass eine Verdopplung der Maschinengeschwindigkeit gar nichts dagegen ausrichtet. Zweitens muss man sich fragen, ob es der einzige denkbare Weg ist, alles auf diese Sequenzialität oder Linearität der Zeit als Problem umzuwälzen. Und da glaube ich verstanden zu haben, dass die Leute, die jetzt so leidenschaftlich vom Übergang von elektrischen zu optischen Computern träumen, dass die nicht nur die grosse Geschwindigkeit des Lichts im Verhältnis zur Langsamkeit von Strom in Leitern (der fliesst ja nicht mit Lichtgeschwindigkeit) im Auge haben, also nicht bloss eine weitere Beschleunigung erzielen möchten, sondern auch denken, dass die optischen Computer vieles parallel abwickeln könnten, weil das Licht nicht wie eine Linie ist, sondern immer parallel auftritt. Eine der Lieblingsbeschäftigungen von Numbercanischer Reihe, also von Zahlenknackerei in sequenziellen Maschinen ist zum Beispiel die Vorheranalyse: Jeder Lichtstrahl macht oder ist bereits eine Voranalyse dessen, auf das er trifft. Aus diesem Grunde könnte man mit einem optischen Konzept und dem Modell der Parallelisierung viele Fliegen auf einen Streich schlagen.
B: Diese Idee hat im übertragenen Sinne zu Beginn dieses Jahrhunderts bereits den Film unheimlich weitergebracht ...
K: ... ja ...
B: ... wo man von der Schaukastenidee, der Idee, Theater aufzuzeichnen, weggekommen ist und dadurch plötzlich Zeit raffen konnte, weil man dadurch verschiedene Handlungen parallel montieren kann.
K: Ich denke, da stehen uns noch einige Entwicklungen bevor.
B: Ein anderes Phänomen ist, dass diese Aufschreibsysteme von der Schreibmaschine bis zum Computer immer gerichtet, weil für die Massen gedacht sind. In diesem Sinne müssen sie für die Menschen stets wie Werkzeuge funktionieren. Du hast aber einmal in einem Vortrag1 gesagt, Computer seien keine Werkzeuge, denn nur die wenigsten Werkzeuge hätten mit Kulturtechniken und folglich mit Verarbeitung, Speicherung und Übertragung von Information zu tun. Werkzeuge und Maschinen dienten vielmehr überwiegend der Verarbeitung, Speicherung und Übertragung von Naturenergien. Aber hat der Mensch nicht gerade davor Angst, weil sich dann die Hierarchie umstülpt? Denn was würde passieren, wenn die digitalisierte Maschine nun plötzlich tatsächlich den Menschen bedienen würde?
K: Na ja ...
B: In der Kunst zum Beispiel bedient sich der Künstler oft irgendwelchen Materialien, Begriffen, Kontexten etc., um Kunst zu produzieren. Was würde also zum Beispiel passieren, wenn die digitalisierte Maschine Kunst produziert und dabei den Menschen als Material benützt?
K: Das wäre so wie bei Nietzsche, der nach dem Krieg von 1871 in der «Geburt der Tragödie» beschreibt, dass unser Dasein nur insofern gerechtfertigt ist, als wir Figuren auf dem Gemälde sind, das Dionysos gemacht hat. Aber wir wissen es nicht, und wenn wir uns anschauen könnten, würden wir erkennen, dass wir von Dionysos einfach gemalt sind. Das sind schon Überlegungen, die seit dieser Zeit üblich sind, diese Umkehrung von Mensch und seinen Bedingungen. Der Mensch hat sich ja eigentlich erst seit der Kant-Hegel-Zeit so in diese Position gebracht, wo früher Gott gestanden hat, und alles gehörte ihm, die Sprache hatte er erfunden, die Arbeit, die Kunst, alles war sein Werk. Und seit der Gegenaufklärung von Nietzsche oder Heidegger (obwohl sie eigentlich ziemlich aufgeklärt ist) wird wiederum versucht, es umzudrehen. Vor allem anhand des Phänomens «Sprache» hat man schon seit langem versucht, klar zu machen, dass sie niemand erfunden haben kann, weil die Geburt sie jeweils bereits mitreflektiert. Und ich habe eigentlich im wesentlichen nur Heideggers Technik-Begriff auf die Medien übertragen. Heute ist es doch leider fast so, dass man leicht drastische Beispiele nachliefern kann, die Heidegger sozusagen erst jetzt im Grabe legitimieren. Die berühmten Airbus-Abstürze zeigen sehr drastisch, dass nicht der Pilot das Werkzeug Computer im Airbus bedient, sondern dass der Pilot mehr oder weniger ein kleines Servo-Werkzeug des Bordcomputers ist. Und dies gilt ja für die trivialsten Sachen von der Welt: Was mich immer am meisten nervt, ist unser Wochenendverhalten. Verzweifelt verfolgen wir im Fernsehen, was die Wettervorhersage bringt. Wenn es heisst, am Wochenende wird es schön, dann fahren wir alle an die Ostsee oder nach Italien. Wir verlassen uns also auf die Computersimulation von höchster Präzision. Aber selbst auf den grössten Computermaschinen der Welt kann das Wetter nicht mehr als für vier bis fünf Tage vorberechnet werden, weil die Mathematik so komplex ist. Vom Hammer sind wir in dem Sinne nicht abhängig, wir können ihn problemlos weiterhin als Werkzeug definieren. Aber von dem System, das unsere Sicherheit, unser Zukunftswissen etc. trägt, von dem hängen wir so buchstäblich ab, dass wir nicht mehr einfach sagen können, wir sind die Herren.
B: Die Umkehrung ist ja nur problematisch, weil sie als perfekte Form eine Illusion ist. Wenn die totale Umkehrung, die perfekte Simulation gelingen würde, spielte es keine Rolle mehr, ob man jetzt ein konstruiertes oder ein organisches Wesen ist. Aber wir haben vorher davon gesprochen, dass die Digitalisierung aufgrund ihrer Linearisierungsmechanismen keine absolute Perfektion hervorbringen kann. Und unser Problem ist vielleicht die Angst vor solchen Gedanken, dass die angestrebte Perfektion nie stattfinden wird ...
K: ... dass wir uns dadurch mit schlechten Simulationen abspeisen lassen, oder was meinst du jetzt? Ich habe die Frage nicht richtig verstanden.
B: Nein, dass dadurch eben Gebilde kreiert werden könnten, die nicht so wie wir sind, die aber trotzdem dann die Hierarchisierung umstülpen könnten.
K: Zum Beispiel die computergenerierten Roboter, die angeblich immer menschenähnlicher würden, aufgrund der Grenzen des Digitalen aber bestimmte Laster aufwiesen ... Ich muss offen gestehen, dass ich perverserweise nicht so sehr in dieser Moraweck- oder Minsky-Logik denke, die das Verhältnis zwischen den Menschen und den Computern als das Fundamentale ansieht. Das ist durchaus ein mögliches Zukunftsszenario, dass sozusagen die ganze Geschichte sich Richtung Gentechnologie, Biochips und Ankopplung von anorganischen Silizium- oder Was-auch-immer-Schaltungen an Gehirne und organische Systeme wie Menschen entwickelt. Ich will das nicht in Abrede stellen, ich finde, das ist eine Sache, um die gekämpft werden wird und muss, und ich wäre eigentlich ein bisschen dagegen, dass das der Hauptstrom der Zukunftsentwicklung sein könnte. Meine Einschätzung ist eher, dass die Computer inzwischen eine derartige Selbstläuferfunktion entwickelt haben: Alle 18 Monate wird die Leistung verdoppelt, und sie verdoppelt sich nicht etwa, weil sie im Moment schneller werden, sondern weil die Technologie sich selber wieder rückkoppelt. Auf den Computern der Generation 5 werden die Computer der Generation 6 entworfen etc. Ich denke eher, dass das Siliziumreich oder was auch immer es in der Zukunft sein wird, seine eigene Vitalität entwickeln wird. Es wäre ein wenig doof beraten, wenn es bloss Menschenähnlichkeit oder menschliche Schöpferkraft oder so eine Art Robotererzeugungsfunktion hätte.
B: Also man soll das Ganze Deiner Meinung nach gar nicht so ernst sehen, weil der Mensch letztlich statt einem Werkzeug eher ein Spielzeug braucht, um seine Existenz bis zu seinem Tode zu füllen. Mit anderen Worten, je raffinierter dieses Spielzeug ist, d.h. je raffinierter der Computer unsere Zeit in Anspruch nehmen kann und uns befriedigt, umso besser ist es. Oder ist das ein wenig zu zynisch formuliert.
K: Viel zu zynisch! Ich habe eigentlich etwas ganz anderes im Hirn gehabt, aber das kann genausogut falsch sein. Deine Lesart ist vielleicht die schönere, aber sie soll nicht unbedingt so in der Zeitschrift Artis2 erscheinen ... lacht ... Das liegt jetzt sozusagen am eingebauten Hegelianerwesentum in mir. Ich kann gar nicht so sehr, wie Kant, Hume, Locke oder Habermas, von dem Menschen, dem Einzelnen beim Denken ausgehen, sondern eher von kulturellen oder politischen Phänomenen. Zuerst einmal gibt es für mich nicht den Menschen, sondern es gibt die Amerikanische Armee oder die Firma Intel oder die Wissenschaft Kernphysik. Das sind so die Entitäten für mich, denn zum CERN oder zur Kernphysik gehört ein bestimmter Typ von Computer, zur Amerikanischen Armee gehört ein bestmmtes Computer- und Satellitensystem und Intel steht für eine bestimmte Sache. Das sind meiner Meinung nach die Subjekte, die man der Computertechnologie zuordnen sollte und nicht so sehr uns PC-Benützer und Endabnehmer ... lacht ... Auf der Ebene dieser Komplexität denke ich dann natürlich auch an die Spiele. Das Internet ruft ja jetzt wieder in Erinnerung, dass dieser fast idyllische Zustand – jeder hat zu Hause seinen eigenen Rechner auf dem Schreibtisch – vielleicht eine historische Eintagsfliege gewesen sein könnte, und natürlich kommt das Netz von der Amerikanischen Armee. Also das bösartige Zukunftsszenario ist eher in dem Sinne vorstellbar, dass langsam die Arbeit verschwindet, die Bevölkerung mit dieser von Dir so schön beschriebenen Unterhaltung abgespeist wird und das System immer stärker in Form eines Verbunds von Computern und Ingenieuren oder Managern zu einer grossen systematischen, herrschenden Kraft wird.
B: Ich möchte das Gespräch ein wenig verlagern und nochmals auf diese alten Vorstellungen der Kunst und auch der Literatur zurückkommen. Was mich an Deiner Art und Weise fasziniert, ist eben dieses Ausschalten der Interpretation, ohne die Interpretation auszuschalten.
K: ... lacht ...
B: Es ist ein persönliches, subjektives Recherchieren und Datensammeln, das über das Lesen dieses Zusammentragens ganz neue Erkenntnisse bringt, einfach über die Tatsache, dass die Fakten zusammengetragen werden. Also das ist das, was mich, als ich zum ersten Mal etwas von Dir gelesen habe, am meisten fasziniert hat. Zu Rötzer hast du einmal diese lustige Bemerkung gemacht: «Es schreit zum Himmel, dass Filme heute immer weniger davon handeln, wie ein Mann mit einer Frau ins Bett geht oder auch eine Frau mit einer anderen. Liebe war eben auch nur ein Medium – gut für gedruckte Bücher und Luhmanns Schwanengesang. Filme jedoch werden mehr und mehr zu Gebrauchsanweisungen für andere Medien, vom Telefon bis hin zum Microprozessor. Ein Film ohne Computer ist 1988 schlicht vergesslich, mit Willen oder nicht.» (Das wird heute noch extremer sein.) «Man wüsste gern, ob nicht diese narrativitätssüchtige Unterhaltungsindustrie mit ihren Out-puts nur die Funktion hat, uns an Medien anzukoppeln und deren Zivilnutzen einzureden. Lange Zeit, von den Troubadouren bis zum letzten Romantiker, sollte Kunst uns in den Sex einweisen; die Folgen sind bekannt. Nicht minder unklar ist, warum man telefonieren soll oder fernsehen. Also sind Fernsehen und Telefonieren dazu gut, uns an andere Medien anzukoppeln – und andere Medien sind Medien, um uns an weitere Medien anzukoppeln.»3
K: ... lacht ein wenig verlegen ... So schön reden wir heute morgen nicht, ich bin noch ein bisschen verschlafen heute ...
B: Du hast Dich auch dahingehend geäussert, dass zum Beispiel das UKW-Netz «nicht zur Unterhaltung und Belehrung einer Bevölkerung, sondern zur Fernsteuerung der Blitzkriegwaffen zu Land, Luft und See: für Panzer, Stukas und U-Boote»4 war. Aber ich komme jetzt auf die Kunst oder generell auf die sogenannten geistigen Bereiche zu sprechen, weil möglicherweise gerade dort die Chance liegt, Systeme, Erfindungen, Mechanismen zu entfunktionalisieren und dadurch auf erkenntnisbereichernde Phänomene zu stossen. Nehmen wir das Beispiel des «Scratchings». Wenn wir dieses Phänomen in der Musik betrachten, ist da ein Plattenspieler, der eine ganz bestimmte Funktion wahrnimmt, nämlich Vinyl-Platten zum Tönen zu bringen. Und plötzlich kommen Leute, die scheren sich keinen Deut um diese Funktionsweise, und sie finden heraus, dass gerade dann interessante Töne oder Geräusche entstehen, wenn man das Gerät entgegen seiner Funktion verwendet. Diese Erzeugungen aber konservieren sie gleichzeitig wieder mit Techniken, die exakt zum Konservieren bzw. Aufnehmen bestimmt sind. Und das ist ein interessantes Phänomen, denn hier sehe ich nach wie vor die wirklichen Chancen der Kunst. Weil, wenn du sagst, der Computer selbst ist zu einer Art künstlerischen Form geworden, dann ist möglicherweise gerade dieser Aspekt, den ich mit «Scratching» beschrieben habe, nicht enthalten. Oder denkst du, dass selbst einmal diese intuitiven Mechanismen mit dem Computer digitalisierbar oder berechenbar sind?
K: Das ist eine schöne Frage. Was jetzt in Deinem Beispiel und in Deiner Lebensgeschichte «Scratching» heisst, das hiess bei uns halt, weil ich ein bisschen älter bin, Jimi Hendrix oder Syd Barrett, Leute, die die Angestellten von den Verstärkerboxen und Aufnahmeapparaten wegschoben und sich selber hinstellten, Leute, die wild an der Gitarre oder an den Reglern drehten. Beides aber sind Beispiele aus der Analogtechnik, und es scheint mir vorderhand noch ein wenig bezeichnend zu sein, dass man solche analogen Medien zu Zwecken «missbrauchen» kann, wofür sie nicht gemacht sind, sondern dass der Effekt oftmals schöner ist (wenn man’s kann), als wenn sie von so beschlipsten Angestellten in den Plattenfirmen gemacht werden. Ich muss jetzt aber aufpassen, dass ich nicht in eine Polemik mit einer Tante aus München hineinkomme, die mich vor vier Wochen in Leipzig so aufgeregt hat. Wir stritten furchtbar über dieses Problem. Sie hatte überhaupt keine Zweifel, grundsätzlich fand sie, alle Maschinen sind nur dazu da, um missbraucht zu werden: Das sei eine schöpferische Kreativität des Angestellten oder des Arbeiters, so sei das eben, und das gelte gerade auch für den Computer. Ich habe aber meine Zweifel, und es macht mir etwas Bauchschmerzen, weil das Ding so logisch in sich ist, dass eigentlich selbst der Missbrauch wieder nur programmieren heissen kann. Jeder Hacker zeigt, dass, um Computer zu missbrauchen, furchtbar viele Hemmschuhe, die die Industrie eingebaut hat, mit einem gewissen Know-how und mit System überwunden werden müssen. Man kann’s nicht einfach hemdsärmlig machen oder zum Beispiel den Computer durch die Lüfte schleudern und hoffen, dass was Hübsches dabei rauskommt. Gar nichts kommt heraus, das ist nur Zerstörung. Da hilft letztlich nichts anderes als Computer programmieren, wobei man sich automatisch auf dieselbe Ebene begibt, wie das Gerät gebaut ist. Der Begriff des Missbrauchs ist also schwieriger zu fassen. Und die meisten Hacker werden ja auch mit 25 von der Industrie angeworben, weil sie gute Programmierer sind. Der Übergang ist also sehr, sehr fliessend.
B: Hiesse das mit anderen Worten, dass es für die Kunst im Digitalbreich schwieriger ist, sich zu entfalten als im Analogbereich, oder würde das, etwas provozierend formuliert, bedeuten, dass sie in der Zwischenzeit eine eher konservative Disziplin geworden ist, oder war sie das vielleicht schon immer?
K: Ich würde vielleicht lieber von den Künsten reden und ich finde, die waren nicht so sehr konservativ. Gerade in der letzten Zeit habe ich mich furchtbar intensiv mit der Erfindung der Perspektive in der Malerei und mit der Erfindung der wohltemperierten Stimmung in der Musik beschäftigt. Und das waren beides umwerfende Erfindungen, die gerade bei den Griechen aufgrund ihrer mathematischen Kenntnisse noch unmögliche Revolutionen waren, obwohl sie für viele Erfindungen verantwortlich sind. Die Kunst der Fuge in der Musik zum Beispiel hat alles in den Schatten gestellt, was vorher denkbar gewesen wäre. Auch Brunelleschis Trick mit der Perspektive hat in der Malerei die Umwertung aller Werte hervorgebracht. In diesem Sinne standen die Künste zu bestimmten Zeiten wirklich an der Spitze auch der technologischen und theoretisch-mathematischen Entwicklung: Projektive Geometrie, heisst es manchmal bei den Mathematikhistorikern, eine Erfindung von Albrecht Dürer – Punkt. Dass es sich heute möglicherweise etwas verschoben hat und die Kunst vielleicht etwas Konservatives geworden ist, wäre nicht zum ersten Mal in der Geschichte geschehen. Die späteren Griechen zum Beispiel können sich auch nicht unbedingt mit dem messen, was Euklid oder Aristoteles getrieben haben. In der Zeit um 500 vor Christus entstand bei ihnen das Beste und Avancierteste ihrer Geschichte ... Ich hoffe noch immer, dass dort, wo die Informatik an ihre eigenen Grenzen stösst – wo es zum Beispiel darum geht, zwei- oder dreidimensionale Schnittstellen mit ästhetischem Anspruch zu entwickeln, und die Informatiker gar nicht mehr so richtig wissen, was sie machen sollen, weil sie das nie gelernt haben, und weil es nämlich nicht wirklich zu berechnen ist –, die Künstler einspringen, damit so etwas wie Kommunikationsdesign aus künstlerischer Intelligenz heraus entstehen kann. Ich möchte Norbert Bolz nicht immer widersprechen, ab und zu sieht er schon ganz richtige Dinge. Ich stelle mir vor, da kommt so eine Art Brunelleschi und sagt, die Fernsehschirme taugen alle nichts, es müssen bessere her. Wir haben es zwar alle schon hundert Mal gesagt, und trotzdem ist bisher noch nichts geschehen. In den Fernsehanstalten, da sitzen halt eigentlich die wahren Konservativen, beim ZDF oder bei der ARD in Deutschland, da sitzen jene Leute, die an wahnsinnig veralteten Ideen von Programm und Sendung festhalten. Interaktives Fernsehen hin oder her, aber wenn das Fernsehen jetzt systematisch mit Computern, die zu Hause stehen, gekoppelt würde, und jene Leute, die Grafik oder Musik programmieren oder am Computer die Techno-Musik herstellen, wenn die sozusagen Möglichkeiten hätten, ihre Produkte in die eigene Fernsehkette einzuspeisen, würde das den heutigen Stand sicher schlagartig verbessern. Und dann könnte auch die Kreativität, die irgendwo steckt, öffentlicher werden und würde nicht mehr vom Abspulen von Hollywoodfilmen verdrängt.
B: Es hat vielleicht damit zu tun, dass, wenn ich ein Computerverkäufer bin und einem Kunden einen Computer verkaufe, ich ihm ganz sicher eines der neuesten Modelle verkaufen muss, wenn ich Erfolg haben will. Und es ist für den Kunden ganz logisch, dass er das neueste Produkt kauft, weil er weiss, dass er damit die meisten Möglichkeiten hat. Aber derselbe Kunde rekurriert auf die Tradition, wenn er Kunst kauft, das heisst, er möchte lieber einen Wert, und der Wert konstituiert sich erst aus der Tradition heraus. Mit anderen Worten, er interessiert sich für eine klassische Malerei oder eine klassische Skulptur, weil er dann weiss, dass er etwas gekauft hat, das sicher Wert hat. Und es ist im Vergleich mit dem Computer eigentlich genau der umgekehrte Denkschritt, er möchte sich möglichst nicht so schnell auf das neueste Produkt einlassen, und vielleicht trägt dieser Mechanismus, der überall auf der Welt funktioniert, auch dazu bei, dass die Kunst aufpassen muss, dass sie nicht verkonservatisiert wird.
K: Ich glaube zu 99, 9% stimmt das, aber es gibt – und das stimmt einen vielleicht traurig – ein paar Ausnahmen, bei welchen wir in den letzten Jahrzehnten gedacht haben, es geht doch noch, dass sich etwas Neues derart gewaschen hat, dass alle Massstäbe, die vorher gegolten haben, über den Haufen geworfen werden, und dass es sich erfolgreich durchsetzt. Mir fällt dazu eigentlich im Grunde nur die Musik von Ligeti ein. Gut, sie hat natürlich nicht die Verkaufszahlen der Beatles erreicht, aber sie war nicht so weit weg davon. Die Idee, die war so gut und so naheliegend, und trotzdem ist sie vor ihm niemandem eingefallen. Er komponierte so schön, und so viel Intelligenz steckte in dem Menschen und in der Musik ... Eigentlich stellen Computer auch unendlich viele Möglichkeiten bereit, Sachen zu machen, die vorher nicht möglich waren. Gut, was Wilfried Schorder zum Beispiel macht in Karlsruhe, das kann sich kein Einzelner kaufen und zu Hause hinstellen. Ich finde es eigentlich nicht so schlecht.
B: Ich kenne es nicht.
K: Das sind Environments, in denen der Schwindel des Betrachters geübt wird. Man setzt sich drauf und über riesige Computermonitore wird einem dann zum Beispiel der Sturz in einen Wald aus allen Himmelsrichtungen vorgegaukelt. Wie ein Engel fliegt man durch den Wald zwischen den Bäumen hindurch, und man verliert jede Besinnung dabei. Letztlich sind es Virtual Realities, die dieser Mensch baut. Und es funktioniert, weil der Kerl zu dritt arbeitet. Er hat ein Konzept und bespricht es mit einem Soft- und einem Hardwerker, und zu dritt realisieren sie es schliesslich. Auch Heidi Grundmann (ein bisschen auf mein Zuraten oder auf meine Assistenz hin) hat in Wien beim ORF ein interessantes Konzept: Sie hat Paare gebildet, ein Nachrichten-, Radio- oder Fernsehtechniker, der künstlerische Aspirationen hat, arbeitet mit einem Künstler oder einer Künstlerin zusammen. Dabei entstehen Dinge, die nicht entstehen würden, wenn der Konzeptkünstler oder der Nachrichtentechniker alleine vor sich hinwerkeln würde. Ich weiss zwar nicht, ob das gekauft wird, obwohl sich der Wert ja oft an der Rarität orientiert. Denn wenn es zum Beispiel nur 15 oder 27 Vermeers gibt, kostet eben jeder mehrere Millionen oder mehr ...
B: Es hat auch mit der Produktion zu tun. Du hast es selbst angesprochen, dieser Wilfried Schorder arbeitet zu dritt, und es sind Projekte, die finanziell relativ aufwendig sind. Es ist natürlich einfacher ein Bild zu malen, auch heute noch, weil du dafür keine grösseren finanziellen Aufwendungen brauchst. Aber man kann gleichzeitig dagegen halten, es habe zum Beispiel immer schon Leute wie Brunelleschi gegeben, und der baute den Dom in Florenz und die Pazzi-Kapelle, und wenn er sie nicht hätte bauen können, wären seine Ideen in bezug auf die Perspektive auch nicht realisiert worden.
K: Er hat ja eigentlich vor allem die Kuppel von diesem Dom namens «Santa Maria del Fiore» gebaut. Und was eben so schön ist, er hat zusätzlich das erste perspektivische Bild, nämlich von seinem selbstgebauten Objekt hergestellt. Das heisst, er hat ein neues Medium begründet, die perspektivische Malerei in ihrer Intimbeziehung zur Architektur. Mit anderen Worten, in der Kunst waren Erfindungen möglich, also müssen sie im Prinzip auch weiterhin möglich sein. Ich meine, ich nenne jetzt nur die etablierten Leute, aber Gerhard Richter hat es ja auch geschafft mit seiner Art zu malen, innert dreier Jahre sofort on Top zu sein. Wie erklärst du dir sowas?
B: Das ist schwierig zu sagen. Ob das innert dreier Jahre geschehen ist, wage ich zu bezweifeln. Aber auf alle Fälle haben die Deutschen jemanden gebraucht, auf den sie sich stützen können, und Richter hatte für sie den grössten gemeinsamen Nenner. Einerseits hat er mit dem traditionellsten und am weitesten verbreiteten Medium der Kunst zu tun, nämlich mit der Malerei, auf der anderen Seite hat er eine ganz andere Herangehensweise gepflegt, denn bei ihm ist alles möglich: Er befriedigt die Fotorealisten, die vielleicht an reinem Handwerk interessiert sind, er befriedigt die Liebhaber der abstrakten Malerei, indem er zeigt, dass es auch unwesentlich sein kann, sich im engeren Sinne eines bestimmten Handwerks zu bedienen, indem er reine Gestik oder reine Mechanik in den Vordergrund stellt. Er hat die Architekten und die Flieger befriedigt, indem er aus der Vogelperspektive grosse Architekturbilder gemalt hat. Er hat die Liebhaber der Fotografie befriedigt, weil er eine virtuose und effiziente Variante vorgeführt hat, wie man Fotografie für die Malerei nutzbar machen kann. Er hat die Illusionisten befriedigt, indem er Architekturmodelle gezeichnet oder mittels Collage gefertigt hat, in welchen riesige Leinwände die Illusion eines weiten Raumes evozieren, der faktisch dann im «Raum des Ereignisses» nicht vorhanden ist, und und und ... Ich denke, da kommen einfach die unterschiedlichsten Interessen auf ihre Rechnung, und deshalb haben sich Experten, Museen und Sammler geeinigt, dass er derjenige ist! Und er hat, vielleicht durchaus mit den Rolling Stones vergleichbar, ein sehr sensibles Sensorium für die Entwicklung der allgemeinen thematischen Interessen der Zeit. Er ist nicht nur stilistisch vielfältig, sondern er ist thematisch wandlungsfähig. Er kommt zum Beispiel jetzt zum richtigen Zeitpunkt mit Bildern seiner Familie – Darstellungen von seiner kleinen Tochter und seiner Frau, also Mutter und Kind – an die Öffentlichkeit. Zu einem Zeitpunkt also, wo Privacy, Intimität in Zusammenhang mit Familie aktuellste Themen von grossem Interesse sind. Gleichzeitig tangiert er eines der grössten und traditionellsten Themen der Kunstgeschichte ...
K: Eines der allergrössten! ... Könnte es nicht sein, dass einige Ströme der Avantgarde, zum Beispiel Baselitz und solche Helden, sich irgendwo ein bisschen verrannt haben, in etwas, in das sich Richter nicht verrennt. Von der Informatik oder von der Computerscience her ist zum Beispiel die letzte Chance noch über Schönheit zu reden, die Herausforderung der Frage nach der Komplexität und Geordnetheit von Ästhetik. Dass bestimmte Entwicklungen in der Moderne die Komplexität derart aufgegeben haben und sich derart reduktionistisch visualisieren, provoziert eben die Taxifahrer mit Recht zu sagen, das hätte ich auch machen können: Es besteht eine gewisse Gefahr im Hingewischten, zu Expressiven und zu Vereinfachten. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass zum Beispiel bei Mondrian die geometrischen Figuren wirklich so kompliziert ausgerechnet sind, und dass Leute wie Richter oder Ligeti eben Komplexität aufrechterhalten unter höchst modernen Produktionsbedingungen und den Leuten ein Rätsel aufgeben, wie zum Beispiel in den Stammheim-Bildern. Vielleicht gibt es ja keine Interpretation, die gelingt, aber vielleicht gibt es sowas wie eine Einladung zur Interpretation, die dann unabschliessbar bleibt und Faszination ausübt.
B: Da hast du sicher vollkommen recht, das hat aber vielleicht auch damit zu tun, dass er den Leuten auch den Spiegel vor Augen hält, was Technik in der Malerei sein kann. Seine an den Fotorealismus angelehnten Arbeiten zum Beispiel unterscheiden sich beachtlich von den Fotorealisten, weil er eine Möglichkeit herausgefunden hat, wie man mit einfachsten technischen Mitteln ein Bild herstellen kann, das unheimlich perfekt aussieht. Das ist das Verrückte an Richter, er hat eine Gestik, eine Trockenheit, eine Nüchternheit, die die klassische handwerkliche Perfektion illusioniert, ohne dass er sie faktisch ausüben muss. Es sind drei bis vier Tricks, die er anwendet, mit denen er dann diese ungewöhnliche Wirkung erzeugt. Seine Art ist vielleicht fast schon eine zynische Version des Umgangs mit der Illusion Handwerk in der Kunst. Und ich glaube da liegt auch eine immense Stärke in diesen Arbeiten.
K: Er suggeriert Handwerklichkeit, obwohl sie eigentlich nicht notwendig oder nicht da ist, sonst gäbe es ja nicht soviele Bilder von ihm.
B: Ja, es gibt unheimlich viele Bilder von ihm, und trotzdem bleiben sie letztlich irgendwo handwerklich. Denn er sagt nicht, wie etwa Baselitz: «Ich bin, was Malerei betrifft, handicapiert, und ich male mit diesem Handicap, weil ich’s nicht besser kann.» Richter kann es eben, und er hat Möglichkeiten entwickelt, durch welche er es gar nicht mehr zeigen muss, und trotzdem bleibt es sichtbar.
K: Ich kenne mich in der Malerei nicht aus, nicht so sehr, aber als ich Ligeti zu meiner Studienzeit in Freiburg hörte, da hatte ich wirklich das Gefühl, dass jemand im Vollbesitz seines geistigen Standes seiner Zeit komponiert, und das bringt offenbar etwas anderes hervor als wenn zum Beispiel irgendein wildgewordener Minimalist wie Philipp Glass seine Kadenzen aneinanderklebt. Ich war vollkommen baff, Ligeti war irgendwie besser als alle Professoren, die ich je in meinem Studium erlebt habe, er hat alle an die Wand geredet. Und wenn er Mallarmé oder Keats zitierte und dann exemplifizierte, welche Zeile nun bei Keats jetzt in welcher eigenen Komposition welchen Akkord bei welchem Musikinstrument auslöste, und wie sinnlich aus dem Inhalt von Versen dann ein Konzept für den Anfang meinetwegen der Atmosphäre gefunden wurde, das war ganz unheimlich: Ich denke, Intelligenz ist weiterhin die Grundvoraussetzung für Komplexität und die Erzeugung von Komplexität.
B: Ich möchte nochmals auf Brunelleschi zurückkommen und zwar auf die kleine Pazzi-Kappelle in Florenz. Du hast vorhin gesagt, er habe das erste Bild der Zentralperspektive hergestellt, aber er hat mit der Pazzi-Kappelle eigentlich umgekehrt auch das Bild oder die bildliche Funktionsweise der Perspektive ins Dreidimensionale übertragen, ohne dass man sich dessen beim Betreten der Kapelle wirklich bewusst ist. Das ist vielleicht das Verrückte, du kreierst etwas, und ohne dass du dir das als Betrachter rational vergegenwärtigst, ist es einfach da. Brunelleschi hat eine unscheinbare kleine Kapelle gebaut, und wenn du da reingehst, wirst du unmittelbar durch einen zentralperspektivischen Sog ins Innere gezogen – von der Säulenkolonnade über die Eingangspartie bis zum kleinen Altar, obwohl die Kirche formal als Zentralbau konzipiert ist! Und wenn du die Kapelle als Ganzes betrachtest, strahlt sie unmittelbar Sinnlichkeit und Menschlichkeit aus, und du hast nie das Gefühl, sie sei formalistisch.
K: Ich war nicht drin, aber Deine Beschreibung ist genauso, wie ich mir vorhin die Anspielung in meinem Hirn gemacht habe auf Lacans Versuch, zu beschreiben (vor allem in seinem Seminar VII), wie nach der Erfindung dieses neuen, faszinierenden Tricks der Linearperspektive, dies wieder zurückgeschlagen hat auf die Architektur, dass die Architektur selber wieder einen illusionistischen Zug bekommen und damit neue Komplexität dazugewonnen hat, die sie vorher nicht hatte. Die Pazzi-Kapelle wäre also ein wunderschönes Beispiel aus dem Prinzip heraus. Wobei das Prinzip eher wie ein Programmierprinzip aussieht und nicht sosehr wie ein philosophisches Prinzip. Also es ist mehr ein technisches Dispositiv (wie vielleicht Foucault gesagt hätte), und dieses technische Prinzip Linearperspektive kann man dann wieder übertragen in jenes Medium, aus dem es eigentlich entsprungen ist. Und diese Rückkoppelung wäre zum Beispiel der Punkt, wo sozusagen neue Standards gesetzt werden. Es ist ja wirklich ein bisschen deprimierend, dass sobald der Standard von Brunelleschi und seinesgleichen wie Alberti und Dürer einmal gesetzt war, alle übrigen Maler der nächsten 400 Jahre mehr oder weniger innerhalb dieses Standards gemalt haben. Aber dieser einmalige Akt der Schaffung, der Setzung dieses Standards konnte und musste ja nicht wiederholt werden, deshalb wirkt halt alles Nachfolgende ein wenig unintelligenter, es sei denn jemand wie Vermeer kommt und extremiert diesen ganzen Standard mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Inzwischen ist ja wahnsinnig viel Forschung gemacht worden und es hat sich herausgestellt, dass Vermeer mit dem grössten Optiker der Zeit, mit Leenwenhoek (der unter seinem Mikroskop die Spermatozoen entdeckte) befreundet war, und dass sein Arbeitszimmer eine einzige, riesige Camera obscura-Konstruktion gewesen sein muss, um letztlich die letzten Details auf der Nase oder am roten Hut noch einzufangen.
B: Das ist sehr interessant!
K: Das ist eigentlich die Beruhigung, was die Kunstgeschichte betrifft und was ich auszustrahlen hätte, dass diese Panik heutiger oder einiger heutiger Künstler vor der Technologie ein bisschen zu spät kommt und ein bisschen vergebliche Panik ist, weil zumindest Malerei, Musik und Architektur schon seit langer Hand Technologien gewesen sind, und wiederum ohne Technologien und Mathematiken gar nicht möglich gewesen wären.
B: Es ist ja eigentlich auch bei Duchamp so, dass seine Überlegungen in bezug auf die Malerei und die Skulptur, also in bezug auf die Ready-mades, in einem engen Zusammenhang stehen mit den physikalischen Errungenschaften der Zeit, speziell mit dem «Nominalismus» des französischen Physikers Henri Poincaré.
K: Das ist ein sehr interessantes Beispiel. Siegfried Giedion hat ja schon sehr früh gezeigt, wie sehr die Momentfotografie und die Serienfotografie auf den frühen Duchamp gewirkt haben. Die Nackte, die die Treppe heruntersteigt in 27 Einzelaufnahmen, das ist ja einfach Übertragung von Marey und Muybridge auf Malerei. Das wusste ich, aber dass die Physik in seinem Werk auch eine wichtige Rolle gespielt hat, das wusste ich nicht. In der Literatur fällt es einem viel schwerer solche Beispiele zu geben. Pynchon wäre vielleicht wiederum – um darauf zurückzukommen und dem Gespräch eine gewisse Geschlossenheit zu geben – ein gutes Beispiel dafür. Er hat zum Beispiel wirklich begriffen, was Entropie oder was V2, eine selbstgesteuerte Rakete, ist, weil er bei Boeing gearbeitet hat und trotzdem noch bei keinem Geringeren als Vladimir Nabokov Literatur und Schreiben studierte – da sass er im Seminar, der kleine Pynchon! Diese Kopplung ist – zusammen mit dem Know-how in der Pop-Musik, der Freundschaft mit der früheren Generation von Rock-Musikern und Popsängern in Kalifornien – explosiv und phantastisch. Das ist das erzeugte Feld, das so einem klugen und in seinen Träumen verlorenen Peter Handke halt fehlt. Und wir können selber ein wenig dazu beitragen, das sag ich glücklich und stolz dazu, dass da ein wenig die Fäden hin und her laufen.
B: Ja, da hat Deine Arbeit sicher einiges dazu beigetragen. Interessant ist ja, dass Deine Bücher und Aufsätze eben – und das ist vielleicht auch ein gutes Zeichen dafür, dass die Kunst vielleicht doch noch nicht so konservativ geworden ist – relativ schnell auch in den Diskurs der Bildenden Kunst hineingekommen ist.
K: Ja, das ging sehr schnell, ohne mein Dazutun ...
B: ... und ohne dass du die Bildende Kunst eigentlich thematisiert hast. Du kommst ja eigentlich von der Literatur her, und trotzdem haben Deine Bücher und Aufsätze unmittelbar Eingang gefunden in den Diskurs der Bildenden Kunst. Hast du dir das schon einmal überlegt, was konkret der Grund (gewesen) sein könnte?
K: Nee, diese Frage stellst du zum allerersten Mal und ich habe mir bisher noch keine Gedanken gemacht.
B: Könnte es vielleicht sein, dass du eine Lanze gebrochen hast? Ich sage das jetzt ganz spontan. Ich selbst zum Beispiel habe zum ersten Mal von Dir gehört, in Luzern, von einem Schriftsteller. Ich fragte ihn vor inzwischen auch schon einigen Jahren, welches Buch er mir spontan empfehlen könnte – jenes Buch, das ihn in der letzten Zeit am meisten überzeugt hätte. Und er sagte spontan und sehr bestimmt: «Aufschreibesysteme» von Friedrich Kittler ...
K: ... lacht schelmisch ...
B: ... Und was mich dann überraschte, war, dass dieser Schriftsteller überhaupt nichts zu tun hatte mit Technik.
K: Na gut, die «Aufschreibesysteme» waren auch noch nicht so schrecklich technisch.
B: Das waren sie vielleicht nicht und trotzdem, das Buch hat natürlich das Schreiben auf eine andere Ebene, nämlich die technische gehoben. Und vielleicht hat das damit zu tun, dass du eine Lanze oder ein ungeschriebenes Tabu gebrochen hast. Nicht alle Leute haben einfach nur Angst vor der Technik, sondern auch ein bisschen Angst vor dem Mechanismus, was passiert, wenn ich mich als Literat, als Schöngeist, in diese technischen Gefilde hineinbegebe? Also, es ist so wie ein ungeschriebenes Gesetz: Man macht es nicht. In der Schule zum Beispiel heisst es noch immer, entweder ist man mathematisch oder sportlich begabt, oder man hat musische Fähigkeiten. Und eigentlich beides zusammen ist dann eher ein wenig kurios. Der Bildende Künstler aber, der war schon immer auf die anderen Disziplinen angewiesen, was vielleicht auch der Grund ist, warum es leichter fiel, Deine Mentalismen und Überlegungen in den Diskurs des Visuellen, der Bildenden Kunst, einfliessen zu lassen, weil es da eher bereits eine Art Tradition gibt, sich zum Beispiel mit Physik oder mit Medizin zu beschäftigen.
K: Die Literaturwissenschaftler waren ja am meisten wütend über die «Aufschreibesysteme». Die hätten mir am liebsten den Kopf abgerissen, und das Buch ist dann in Freiburg ja nur ganz knapp als Habilitation angenommen worden. Denen war das halt äusserst suspekt, dass da Medizin vorkam oder Grammophonie und solches Zeug.
B: Ich denke, es spielt bei Deinen Schriften auch noch ein anderer Grund eine ganz wichtige Rolle, nämlich die Art und Weise wie du (auf)schreibst. Ich kann mir vorstellen, dass gerade dieser Aspekt für viele klassische Wissenschaftler suspekt ist, weil die Mentalität des wissenschaftlichen Schreibens massiv von dem abweicht, was man sonst auf der Universität lernt. Der Schöngeist fällt völlig weg, der existiert nicht mehr. An seine Stelle ist eine nüchterne, aber dennoch witzige und schelmische Art des Aufschreibens getreten.
K: Damals war das massivster Einfluss von Foucault, Lacan und Barthes, die so ein Modell gemacht haben, wie man in den Kulturwissenschaften sachlich schreiben kann. Und trotzdem, so sachlich war es ja auch nicht, weil Foucaults «Poesie der neuen Götter» und solche Sachen (die ich halt gerade übernommen hatte) und nietzscheanische Frechheiten es schon gar nicht mehr gab.
B: Ist Foucault nicht auch immer noch sehr schöngeistig in seiner Formulierungsweise?
K: Das hängt von den Büchern ab, also «Überwachen und Strafen» ist eine ziemlich strenge Geschichte im Wesen, fand ich, und «Archäologie des Wissens» ist ein verzweifelter Versuch, alles Schöngeistige bei ihm, Foucault, selber auszutreiben. Dass wir es alle nicht schaffen, das liegt auf einem anderen Blatt, aber was war dieses neue Schreiben?
B: Es hat etwas mit dieser Illusion zu tun. Wie zum Beispiel bei Heidegger: Die Art und Weise wie er geschrieben hat, widerspricht der Art und Weise, von was er geschrieben hat. Man hat oft das Gefühl, Heidegger schreibe in einem nostalgischen Idealismus, wo klassisches Rhythmusgefühl und Musikalität im Sinne der Klassik und der Griechen im Vordergrund stehen. Derrida zum Beispiel, obwohl nicht grundsätzlich von Heidegger verschieden, macht das in seiner Art zu schreiben bereits nicht mehr, die Differenz des Inhalts zum Stil ist viel kleiner. Derrida pflegt in seiner Art zu schreiben im Unterschied zu Heidegger keinen Idealismus mehr, und das korrespondiert natürlich unmittelbarer mit der inhaltlichen Überzeugung, dass ideale Phänomene halt einfache Wunschträume sind. Und bei Dir ist überhaupt kein Rest mehr von klassischer Sprachlichkeit zu spüren.
K: Ich habe einfach auch ein paar Tricks gemacht, als ich anfing. Ich war mit sechzehn ein verflucht guter Parodist und sonst gar nichts. Ich habe in der Gymnasialzeit immer Parodien geschrieben. Fremde Stile wie Federn eingesteckt und Robert Neumann sozusagen über alles geliebt. Irgendwann aber bekam ich Angst vor meiner rein parodistischen Fähigkeit, alles so nachzumachen. Ich parodierte mich nachher selbst und legte mir schliesslich vor allem ein paar Verbote auf, die heute noch gelten. Weil ich in Freiburg gross geworden bin und Heidegger liebte, nicht in Frankfurt studierte und auch nicht besonders Adorno liebte und alle meine Generationsgenossen sich adornisieren liessen in ihrem Stil, habe ich mir einfach eines schönen Tages verboten, das Wort sich zu benutzen. Das habe ich entdeckt wie ein Ei des Kolumbus. An dem Gebrauch oder Nicht-Gebrauch des Wortes «sich», Reflexivpronomen, hing der ganze Adornismus! Alles was an Adorno ist, schreibt sich eigentlich mit dem reflexiven Pronomen, und wenn das weg ist, schreibt man ganz anders, und ein bestimmter Idealismus verschwindet. Es gibt keine Beziehung mehr zu sich selbst, weil das Wort sich verboten ist, also wie wenn Heidegger sagt «an ihm selbst», anstatt «an sich selbst», was ein wichtiges Beispiel für mich war. Anstelle der Reflexion, an die ich nicht glaubte und auch heute noch nicht richtig glaube, setzt man transitive Beziehungen, also Beziehungen nach draussen statt nach innen. «Sich» ist immer eine Beziehung nach innen und «ihm» oder «ihr» eine nach aussen. Bereits in meinen frühen Texten habe ich dies zu verwirklichen versucht. Bei Conrad Ferdinand Meyer wollte ich zum Beispiel nicht, dass er ein Bild oder eine Vorstellung von sich hatte, sondern ich wollte, dass alles, was er ist, eine Beziehung ist zu seiner Mutter, zu seiner Frau, zu seiner Schwester und zu seinem Kind. Er geht vollkommen in diesen psychoanalytischen, lacanschen, formalen Beziehungen nach aussen auf, und es gibt kein Refugium einer Innerlichkeit, weder bei mir, der ich schreibe, noch bei Meyer, über den ich schreibe. Und das war schon eine massive Massnahme, die eine bestimmte Stilebene erstmal geschaffen hat.
B: Also die Kommunikationsschiene ...
K: ... ja ... Und dann machte ich es noch schlimmer in den «Aufschreibesystemen». Weil ich zu Hause begonnen hatte an Transistoren zu löten und wusste, was eine Rückkopplung ist, und die ganzen Musik-Phoneme halt im Kopf hatte, fing ich an, die Kapitel des Buches als Schaltungen zu schematisieren. Ich habe im Grunde die Geschichte von Mutter, Dichtung, Philosophie um 1800 linearisiert: Die Mutter generiert die Masse an Wörtern, die Dichtung nimmt sie auf und macht sie zu Werken und die Philosophie liest den gesamten Output dieser Produktion nochmals als Theorie. Ich malte das Ganze wie eine Schaltung an mir an, es lag dann halt auch nahe, dass plötzlich technische Metaphern oder Worte wie «Rückkopplung» im Vokabular auftauchten. Es sollten aber nicht bloss technische Metaphern sein, sondern ich versuchte die grossen Blöcke des Textes auf diese Weise zu strukturieren. Ich habe also wirklich aufgepasst, dass der Input Mutter in den Kanal Dichtung reingeht und am Ende, wenn er hinten rauskommt, sich im Speichermedium Philosophie sammelt. Das war das Konzept. Das Buch war von vornherein wie eine Maschine gedacht, diese ganze Zeit um 1800 (die Zeit um 1900 ist mir ein bisschen schwerer gefallen, obwohl ich auch sie als Maschine versucht habe zu denken). Das sind, glaube ich, schon Entscheidungen, die wesentlich vom Know-how im anderen Bereich abhängen, und dann wesentlich den Schreibstil mitentscheiden.
B: Hast du von Anfang an, also bevor du mit «Aufschreibesysteme» begonnen hast, das Konzept gehabt, diese "Luftbrücke" zwischen Literatur und Technik herzustellen: Die Literatur oder Literaturwissenschaft aus ihren schöngeistigen Gefilden sozusagen herauszuheben und gleichzeitig aber auch die Naturwissenschaft wieder näher an die schönen Künste heranzubringen?
K: Nee, damals habe ich das nicht gewusst. Heute aber weiss ich, woher das alles gekommen ist. Es hat mit meiner Biografie zu tun. Solche Ideen haben immer mit der Biografie zu tun.
B: In welchem Sinne war das biografisch?
K: Weil ich unmittelbar nach dem Krieg gross geworden bin und zwei massiven Einflüssen ausgesetzt war: meinem Vater und meinem Halbbruder. Mein Vater hatte gerade seine 600 Gymnasiasten verloren dank russischer Intervention, so blieben ihm nur noch zwei: mein Halbruder und ich. Und weil mein Bruder nicht wollte, er hat sich gewehrt, stopfte mein Vater vor allem mich mit Goethe voll. Er redete wie ein Buch. Ich nahm es willig auf und konnte schon mit 7 halbe Faust-Szenen auswendig ... Auf der anderen Seite war da der 20 Jahre ältere Halbbruder, der gerade aus dem Krieg zurückgekommen war, wo er auf Rügen weitgehend alleine eine Radarstation betrieben hatte. Dann, am Anfang der Besatzungszeit hatten die Russen alle Radios verboten, da gab es im ganzen Dorf keine Geräte mehr. Und mein Bruder schraubte aus alten deutschen Flugzeugen, die irgendwo zerschossen herumstanden, die Röhren heraus, weil er das konnte, und bastelte für die Mädchen im Dorf (mit denen er schlafen wollte, so scheint es) Radios. Er sass also am Küchentisch, weil damals nach dem Krieg alles so eng war. Ich begriff dies alles nicht so richtig, aber irgendwie später mit 25 wurde mir schlagartig klar, dass ich eigentlich zwischen zwei Vätern gross geworden bin, und dass es jetzt irgendwie darauf ankam, beide zusammenzukriegen.
B: Es gibt ja dieses Thema der Schreibmaschine in «Bram Stoker’s Dracula» und dadurch, dass du in deinem Buch seinen technischen Aspekt in den Vordergrund stellst, spielt die Unterscheidung zwischen Unterhaltungs- und Ernster Literatur plötzlich keine Rolle mehr. Auch in Hollywood, das doch ein riesiges, konventionelles Unternehmen ist, passieren immer wieder Dinge, die wahnsinnig sind, besonders im technischen Bereich. Über die Vermittlung des Trivialen entstehen oft ganz neue Dinge, sobald aber das sogenannt Hohe, Tiefsinnige oder Komplexe dazukommt, nimmt es von diesen technischen Neuerungen wieder einiges weg, weil die Autoren es verdrängen, nicht verstehen oder gar nicht brauchen. Dann entsteht immer diese unverknüpfte Differenz. Aber das Ideale wäre, wenn man diese technischen Neuerungen unmittelbar koppeln könnte mit inhaltlicher Komplexität.
K: Völlig einig. Aber das ist fast eine politische Position. Man trennt sich dann halt von den Intellektuellen in München oder New York, die weiterhin am Individuum und an dessen Erlebnissen festhalten, und sympathisiert eher mit Coppola und irgendwelchen Kunststücken, die in Hollywood gemacht worden sind. Selbst Brian De Palmas Filme fand ich zum Ansehen sehr nützlich. Aber was jetzt in der neueren Entwicklung in Hollywood so passiert ist, von dem weiss ich eigentlich nichts mehr, dafür kuck ich zu wenig. Es ist vollkommen klar, und es ist wie du sagst, der Unterschied zwischen Trivialliteratur und Ernster Literatur sollte uns an solchen Stellen nicht beschäftigen. Er gilt eigentlich nur noch, wenn man die sozial-therapeutische Literaturwissenschaft weiterhin bekämpfen möchte, was ich gerne tue. Denn autobiografische Ergüsse und Arbeiter, die sich durchs Schreiben irgendwie zum Selbstbewusstsein aufraffen, oder Frauen, die nichts anderes schreiben, als darüber, wie sie jetzt die Schriftstellerinnen geworden sind, die sie angeblich gottseidank sind, halte ich weiterhin für Trivialliteratur. Diese Bekenntnis- oder Sozialaufstiegsliteratur ist einfach kalter Kaffee, weil sie so unkomplex ist und den schlimmsten Schematismen oder Scripts einer jeweiligen Epoche gehorcht. Ansonsten vollkommen schön und klar, ich werde nie vergessen, wie Ligeti einmal sagte, dass die frühen Errungenschaften der Beatles sein Werk wesentlich mitgeprägt haben.
B: «Sgt Pepper’s», das war wirklich wichtig ...
K: ... das war ein Meisterwerk.
B: Da waren Dinge drin, die es vorher nicht gegeben hat.
K: Als Hartmann in Basel bei den Musikwissenschaftlern über die musikalischen Errungenschaften von «Sgt Pepper’s» promovieren, d.h. seinen Magister machen wollte, sollte ich ein Drittgutachten schreiben. Die Philosophische Fakultät aber hatte bereits beschlossen, das Thema sei zu ordinär. So flog der Mann durch, weil er das falsche Thema hatte! So konservativ war Basel damals, es war zum Haareausreissen. Ich glaube, sie würden heute solche Sachen auch bereuen. Aber das ist die Arroganz von solch alten Stätten der Macht!
B: Das Witzige bei den Beatles ist ja, dass sie trotzdem nie vom Persönlichen oder Privaten abgewichen sind – als Thema. Ihre Musik ist im Grunde eine unheimlich schöne Verknüpfung von Technik und individuellen Gemeinplätzen. Das, was du vorher gesagt hast, von diesen Autobiografen, das ist ja bei den Beatles auch vorhanden, aber eben in einer Weise, wo es keine Rolle mehr spielt ...
K: ... Ja ...
B: ... mit diesen anderen Dingen zusammen. Aber sie haben eigentlich nie von etwas anderem gesungen als von sich selbst und von ihren unmittelbaren, persönlichen Erlebnissen ...
K: ... aber in Masken und schönen Figurationen. Und sie haben die halbe Musikgeschichte dazu benutzt, um sich da durchzutanzen.
B: Und mit Zappa hast du dich nie beschäftigt?
K: Nicht so sehr, das war mein Fehler.
B: Hat das vielleicht mit der Aufgabe Deiner parodistischen Karriere mit 16 zu tun, denn Zappas Musik ist stark von parodistischen und zynischen Gepflogenheiten geprägt?
K: Das ist eine gute Erklärung. Auf die kommst du jetzt und nicht ich, es kann sein, dass ich solchen Parallelfällen von Parodie-Kunst ausgewichen bin.
B: Oder hat es vielleicht damit zu tun, dass in seiner Geräuschmusik, er hat in den 60er Jahren ja viel mit Geräuschen experimentiert, immer auch ein nostalgischer Zug drin war. «We’re only in it for the money» zum Beispiel ist ja im weiteren Sinne eine parodistische Reaktion auf «Sgt Pepper’s» von den Beatles. Da hat er aber zum Beispiel auch Kafkas «In der Strafkolonie» vertont. Dieses Stück besteht einzig aus Geräuschen, die ohne synthetische Klänge produziert wurden. Sie sind mit herkömmlichen Instrumenten hergestellt, die dann bloss über das Aufnahmeverfahren verfremdet wurden. Aber es tönt so, als wären die damals modernsten Synthesizers eingesetzt worden. Er lud zum Beispiel auch Musiker wie Eric Clapton ein, die mit ihren Instrumenten Geräuschtöne beisteuerten.
K: Das muss ich verschlafen haben.
B: Man hört da zum Beispiel die Foltermaschine, wie sie quietscht und langsam runterkommt und sich in den Rücken des Gefolterten einkerbt.
K: Das muss ich mal nachkaufen.
B: Das witzige war ja auch, dass damals die Musikszene und insbesondere Leute wie John Lennon unheimlich scharf darauf waren, die Konzerte der «Mothers of Invention» zu sehen. Zappa war immer eine Art Musiker für Musiker. Selbst im kommerziellen Bereich hatte er seine Bewunderer. Brian May, der Gitarrist der «Queen» zum Beispiel, sagte einmal, dass Zappa einer seiner grössten Einflüsse gewesen sei, einfach aufgrund seiner Haltung, weil Zappa zum Beispiel der Überzeugung war, dass wenn du auf der Bühne stehst, alles richtig ist, was du produzierst: Es ist dein musikalischer Ausdruck, und in diesem Sinne gibt es auch keine Fehler: Wenn zum Beispiel eine Rückkopplung passiert, dann ist sie Teil deiner Musik.
K: Wahrscheinlich ist das meine Grenze. «Es gibt keine Fehler», das würde ich ja nie sagen. Das ist irgendwie ein Problem mit mir. Reinen situationistischen Anarchismus haben mir Freunde wie Klaus Theweleit und Bettina Rommel u.a. immer beizubringen versucht. Da bin ich dann immer ein wenig zurückgeschreckt, weil ich schon dachte – zumindest in den Bereichen, wo ich mich austobe –, dass es da Fehler gibt. Da ich nun leider Linkshänder bin, aber rechts gelernt habe und deshalb immer die Neigung habe, alles symmetrisch zu vertauschen, baute ich zum Beispiel so viele Kondensatoren in meinem Leben falsch ein (dort wo «minus» sein sollte, hängte ich «plus» an und umgekehrt), dass alle in die Luft gingen: Nach einer Stunde sind sie 200 Grad heiss und dann macht’s «puff» und sie fliegen durch die Wohnung. Ich wusste dann immer ganz genau, dass die Schaltungen falsch waren. Und diese schrecklich reingepaukte Art von Fehlerlosigkeit habe ich an der Uni immer vermisst. Ich wunderte mich, dass man alles Schreiben konnte und die Lehrer fanden es immer noch gut. Niemand hatte ein Kriterium für die Zensuren, um zu sagen, was jetzt stimmt und was nicht. Wir konnten in unseren Seminarreferaten alles behaupten und ich fand das abscheulich. Ich habe immer versucht, Kriterien einzuführen, um beurteilen zu können, was nicht stimmt oder was schludrig recherchiert ist oder was falsch ist. Wenn zum Beispiel jemand sagt, die Rote Armee sei 1941 vor Berlin gestanden, dann kriegt er eine Ohrfeige von mir in meinem Proseminar, so sinngemäss.
B: Ich finde das auch richtig und interessant. Aber es hat vielleicht damit zu tun, dass du schon wieder zu einer etwas jüngeren Generation gehörst. Dieter Roth zum Beispiel war, als er jung war, ein totaler Perfektionist. Irgendwann hat er sich aber entschieden – wie du dich entschieden hast, das Wort «sich» nicht mehr zu verwenden – sich nicht mehr seine geraden Linien, seine Begrenzungen, seinen Perfektionismus zuzulassen, und da wurde bei ihm plötzlich alles möglich und seine Kunst gleicht heute einer Art Biorhythmus: Alles, was er quasi ausstösst, ist «Qualität» oder eine künstlerische Form, und er kennt keine Hierarchisierungen mehr zwischen besser und schlechter. Die nächste Generation aber wollte und konnte damit nicht mehr umgehen, weil diese Haltung für sie nicht mehr interessant genug war, sie war schon ausgelebt, und dann suchte man sich neue Kriterien.
K: Ja, ich zum Beispiel kam in eine Phase rein, wo eigentlich alle, ohne es zu wissen – und nicht so schön wie es Feyerabend tat – «Anything goes» verkündeten: «Jede Interpretation hat ihr subjektives Recht», deshalb war ich sofort skeptisch gegenüber dem Begriff «Interpretation» und vor allem gegenüber dem Begriff des «Subjekts».
B: Was beschäftigt Dich im Moment besonders? Woran arbeitest du konkret?
K: Eigentlich seit dem Besuch in Luzern und den Aktionen in Berlin nur an einer Sache, wir haben ja schon darüber geredet: Wohltemperiertes Klavier in der Musik und Perspektive in der Kunst. Mit anderen Worten, die mathematischen Grundlagen der neuzeitlichen Medien im Unterschied zu allen anderen Kulturen, von denen ich irgend etwas weiss. Diese einmal auszuarbeiten, und dabei den Bastlerstandpunkt, der für mich so wichtig gewesen war, ein bisschen hintanzustellen. Jetzt, nachdem ich über Edison geschrieben habe, könnte ich auch noch ein Buch über jeden drittklassigen Bastler schreiben, und das würde ein bisschen langweilig. Man möchte sich ja nicht wiederholen, also denkt man, waren es vielleicht nicht nur die Bastler, sondern auch, was die Bastler gebastelt haben, wie Edison, der, ohne viel von der Sache zu verstehen, wunderbar gebastelt hat. Dafür waren vielleicht bestimmte Möglichkeitsbedingungen in bestimmten mathematischen Überlegungen verantwortlich. Ich will allerdings keine traditionelle Mathematikgeschichte schreiben – denn es gibt ja nichts Langweiligeres, nichts Katholischeres, nichts Unhistorischeres als die üblichen Mathematikgeschichten, in denen die Wahrheiten eigentlich immer am Himmel hängen und die Mathematiker pflücken sie wie reife Äpfel im Lauf der Jahrhunderte – sondern ganz umgekehrt, ich will ein bisschen die mathematische Intention herauskriegen. Ich würde gerne mit dem Traum beginnen, wo Euler gerade mal um die eigene Achse gewirbelt wird, das hat er geträumt, und wie er dann zum Begriff einer neuen Geometrie kommt, die solche Rotationen zum Beispiel anschreiben kann. Ich möchte aber besonders auch darauf achten, wie die Erfindung von Zeichen in der Mathematik ganz wahnsinnige Folgen gehabt hat ... Ich will bloss Lacan beweisen, Lacan hat ja immer schon gesagt, entweder man hat das Wurzelzeichen oder man hat es nicht. Wenn man das Wurzelzeichen nicht hat, kann man zwar mühsam Wurzelziehen, aber die Sache ändert sich ums Ganze – um mit Adorno zu reden – wenn das Wurzelzeichen da ist und so eine Operation formalisiert, anschreibt, von jeder Sprache trennt (also sowohl für Deutsche, Franzosen, Italiener verständlich ist) und eine Abkürzung bildet, die man mit anderen Abkürzungen kombinieren kann, worauf man im Grunde dann Poesie schreiben kann. Die Art, wie die Mathematiker mit ihren Zeichen umgehen, hat schon etwas Faszinierendes. Im Prinzip haben sie schon alle Alphabete geklaut, zusätzlich 120’000 Sonderzeichen eingeführt, sie schreiben Griechisch, Russisch, sie schreiben Fraktur, Antiqua, sie schreiben Grossbuchstaben, Kleinbuchstaben oder alles übereinander, sie bauen Buchstaben über Buchstaben, sie konstruieren einfach ein wunderhübsches Universum. Und diese Entstehung an einigen Beispielen zu dokumentieren und aufzuzeigen, interessiert mich ... oder was beispielsweise die Ersetzung des «und» durch «+» gebracht hat, etc. Das Buch soll – Leibniz hätte ich fast vergessen – auf einen grossen Beitrag über Leonhard Euler zulaufen und um 1820 enden. Das ist die eine Sache, und die andere Sache ist, dass die Computergraphik für mich das Wunder bewirkt hat, dass ich mich nun für Bilder mehr interessiere als früher. Früher habe ich mich nur für Musik interessiert. Nun mache ich mit meinem lieben Kollegen Horst Bredekamp zusammen ein sehr schönes Oberseminar, in dem wir über Bilder unter heutigen Bedingungen sprechen. Wir machen keine Bildbeschreibungen, sondern fragen, was es heisst, Bilder in ein Museum zu hängen, was es heisst, mit vielen Bildern umzugehen, was es heisst, im Film ein paar hunderttausend Einzelbilder aneinanderzukleben, was es heisst, digitale Bilder zu produzieren. Da sind auch die guten Doktoranden von mir dabei, und wir befruchten uns gegenseitig sehr, und deshalb komme ich sozusagen immer mehr in dieses Brunelleschi-Thema hinein.
B: Gibt es da auch konkrete Gedanken in bezug auf die Frage, was das (Kunst)Museum heute noch bedeuten oder leisten kann? Oder gibt es da neue Ideen, die das Museum in Zukunft vielleicht ablösen?
K: Das spielt schon eine Rolle, besonders bei den jungen Leuten von Bredekamp, nur habe ich keine Lösung in der Tasche. Für eine Publikation über die Zukunft des Museums, die in Barcelona herausgegeben wird, habe ich geschrieben, dass jetzt nicht jedes Museum seine eigene virtuelle Realität hinbasteln soll, das scheint mir zu handwerklich, zu primitiv und zu illusionistisch, sondern jedes Museum soll sich für seine Benützer mit sovielen Datenbanken von ausserhalb vernetzen, wie es nur geht, damit die Benützer Recherche machen können. Mit anderen Worten, dass die Trennung von Depot und Ausstellungsteil nicht mehr so strikt ist. Dann habe ich mich über die Musealisierung von Computersystemen selbst geäussert, wie schwierig sie ist und wie notwendig sie ist. Es gibt soviele alte Datenbestände, die schon heute unter DOS nicht mehr lesbar sind, aber zur Geschichte der Computerwissenschaft, aber auch zur Geschichte administrativer und politischer Systeme gehören. Ich habe gehört, dass im Moment systematisch alte Maschinen nachgebaut werden, um Software oder Dateien wieder lesbar zu machen. Solche massiven Probleme gibt’s da. Und diese alten Software- und Hardware-Sachen sollen schon industrieunabhängig sein, damit Microsoft das nicht auch noch dominiert. Das waren die drei Dinge, die mir vorschwebten, und ein bisschen Polemik über die historische Ordnung, wie sie von Schinkel oder Diderot erfunden worden ist, so um 1800, dass man die Bilder auch anders hängen kann.
B: Jetzt könnte man wieder die Frage stellen, inwiefern Kunst heute noch wichtig ist?
K: Die Kunst und ihre Materialien wäre ein schöner Ausstellungsgegenstand. Also Foucault hatte ja geplant, erstens ein Buch über Manet zu schreiben (da gibt es irgendwo auf einem Tonband noch einen Vortrag darüber), und zweitens hatte er einmal angekündigt, über die Pigmente in der Malerei zu schreiben. Das könnte ich mir als Ausstellung so schön vorstellen: Man würde die rohen Farben zu bestimmten Epochen oder Kulturkreisen mitausstellen. Die Erfindung der Tube war ja wahrscheinlich fundamental für van Gogh und so. Das gab es vorher ja nicht, dass man einfach auf die Tube drückt und Farbe raus. Die Idee wäre schon, dass man sozusagen das Deutsche Museum und die Pinakotheken oder was auch immer zusammenschmeisst.
B: Also der Begriff der Interaktion müsste in den Museen und in der Präsentation von Kunst eine grössere Rolle spielen?
K: Das war ja das Schöne am Deutschen Museum, dass da immer Interaktionen waren. Ich war mit 16 drin, und da waren soviele Knöpfe zu drücken, und dann passierte was, das Experiment konnte nachgestellt werden. Man müsste sich überlegen, wie man so etwas in Kunstmuseen reinbringt.
B: Damals, als du dich mit der gleichzeitigen Erfindung des Films (u.a. über Mareys chronophotographische Flinte) und des Maschinengewehrs beschäftigt hast, hat Dich da der Aspekt der Realitätsverschiebung auch interessiert? Dass zum Beispiel die Konsequenzen zwischen dem photographischen Schiessen und dem Gewehrschiessen vollkommen unterschiedlich sind, und dass dadurch möglicherweise die Kunst eine Verharmlosung von Tatsächlichkeiten ist. Mit anderen Worten, dass die Kunst sich im Prinzip immer auf eine Ebene begibt, wo alles harmlos wird. Man erfindet über das Maschinengewehr zum Beispiel den Film, weil man sich dadurch mit einer brutalen Realität auseinandersetzen kann, ohne dabei unmittelbare physische Folgen erleiden zu müssen. Die Kunst hat vielleicht schon immer ein wenig in dem Sinne funktioniert, sie ist im Grunde eine Verharmlosung von Realität, von Tatsachen, weil sie die Realität verschiebt, transformiert. Der Künstler wäre demnach nicht, wie die volksmundige Meinung glaubt, ein besonders mutiger Mensch, einer, der sich nicht scheut, gegen alle Konsequenzen zu agieren, um seine Überzeugung zu verteidigen.
K: Mir war es immer ziemlich oft so zumute. Und vielleicht war ich auch ein bisschen leichtsinnig und habe zu sehr den Feldherrn gespielt auf dem Papier und immer den Krieg als den Ernstfall dagegengehalten, gegen diese scheinbaren Harmlosigkeiten der Kunst. In meiner historischen Abgeklärtheit heute, wo man sich selber ein wenig ironisch gegenübersteht, sage ich das einmal so. Es könnte gut sein, dass die Harmlosigkeit von Kunst im Lauf der Moderne auch schlimmer geworden ist. Leonardo da Vinci und Dürer haben ja beide Festungspläne entworfen, wenn nicht tatsächlich Festungen gebaut. Leonardo da Vinci zum Beispiel hat ja mehr Kanonen und Mordgeräte entwickelt, als Bilder hinterlassen. Und im 19. Jahrhundert, wo dann halt der Künstler und sein Verfluchtsein, sein trauriges, soziales Schicksal zum Thema wurden, wird es dann halt flagrant. Und beim Film könnte es wirklich sein, dass dahinter das Maschinengewehr vernebelt wird. Foucault hat irgendwann einmal gesagt, seit der Französischen Revolution sei das Gefühl für das Bewusstsein des Tragischen verlorengegangen. Das hat mich auch immer sehr inspiriert und auf Foucaults Seite gestellt: Also Retragisieren, wenn das möglich ist. Wie der frühe Nietzsche auch: Sachen dramatisch machen, heisst doch, sie tragisch machen, nicht immer bloss von der Lebensverbesserung und von der Sozialversicherung reden, sondern wirklich auch von den Lasten und vom Preis reden, der uns die Sozialversicherung in Gestalt von Weltkriegen gebracht hat. Und das dagegen halten! Man soll ja nicht immer sagen, Künstler sind harmlos und die Militärtechniker sind die wahren Helden: das eine mit dem andern in Beziehung setzen.
B: Gut, aber auf der anderen Seite könnte man es nun auch positiv formulieren: das, was die Militärtechniker entwickelt haben, haben die Künstler versucht ins Positive zu wandeln, nur ist es dann letztlich doch immer wieder eine Art Anleitung oder Ansporn für Produzent und Betrachter, Scheusslichkeiten oder Brutalitäten unter einem anderen Vorwand zu betreiben, zu erleben und sich dabei zu unterhalten oder zu befriedigen. Es bleibt immer zweischneidig. Man kann sagen, der Künstler ist dazu da, eben dieses Gute, Überlegte, Durchdachte, Komplexe zu thematisieren, aber oft macht er dies eben nur unter einem Vorwand, denn es ist einfacher, Krieg, Mord oder Tod darzustellen, weil es das als Dargestelltes tatsächlich gar nicht ist.
K: Das verstehe ich jetzt nicht so ganz.
B: Wenn man es positiv formuliert, möchte der Künstler den Menschen vielleicht vor Augen führen, dass es im Leben nicht nur um Auseinandersetzung, Gewalt und Tod gehen könnte oder sollte, sondern dass es viele andere Aspekte gibt. Aber faktisch, wenn er das thematisiert, im gleichen Fahrwasser schwimmt und dem voyeuristischen Betrachter vielleicht bloss ein Forum bietet, um all jene Sachen auszuleben, die realitätsverschoben – echt – für ihn unter Umständen fatale Folgen oder Konsequenzen haben könnten.
K: Du definierst fast nebenher sehr schön auch den klassischen Begriff von «Simulation»: also etwas Ausleben, was unter Ernstfallbedingungen tödlich wäre! Selbst im Mathematikbuch steht ja diese Formulierung drin zu meinem Vergnügen. Das muss wohl sein, weil Probehandeln auch zum menschenspezifischen Grundbestand gehört.
B: Was bedeutet für Dich der Begriff der «Angst»?
K: Privat viel mehr als in meinen Schriften. Auf dem Papier habe ich immer ein bisschen versucht, die Angst zu bannen, oftmals sogar durch Identifikation mit dem sogenannten Aggressor. Privat bin ich ziemlich ängstlich. Ich fliege nicht so gerne, ausser mit Jumbos, in welchen ich mich ziemlich sicher fühle. Aber Flüge zum Beispiel von Zürich nach Linz mit kleinen Fokkers sind für mich immer Strapazen, wenn sie so knapp über die Alpen hinwegfliegen. Ich weiss nicht, wie dir das geht.
B: Mir geht es ziemlich gleich. Ich fliege nur ungern ... Könnte das letztlich für Dich auch ein Motivator sein, Dich mit diesen Themen, diesen technischen Aspekten zu beschäftigen? Wie perfekt ist die Technik und was hat sie hervorgebracht?
K: Das liegt so nah. Aber ich glaube, ich habe ein richtig panisches Verhältnis zur schnellen Locomotion. Ich besitze keinen Führerschein. Und ich habe weder Bücher über Eisenbahn, Autos noch über die Flugzeugindustrie geschrieben: Es kommt ab und zu einmal vor, wenn man sich zum Beispiel bei den Bomberflotten nicht vorbeidrücken kann. Aber die Medientechnik ist für mich so ziemlich das Gegenteil von Locomotionstechnik. Und Kafka hat immer so hübsch an Milena geschrieben: Auf der einen Seite gibt es die netten Erfindungen, die uns näher bringen, wie Auto und Flugzeug, und auf der anderen Seite gibt es die bösen Erfindungen, die die Küsse klauen, wie der Brief und das Telefon. Und ich habe mich eigentlich immer nur für den Brief und das Telefon und diese Gespenster, wie Kafka das nennt, interessiert. Und die machen ja wirklich keine Angst. Das Telefon stört, aber es macht keine Angst, der Computer macht mir überhaupt keine Angst, ich habe Angst um ihn, um seine Festplatte, wie alle diese Leute, die ihre Maschinen lieben, aber ich habe nicht vor der Festplatte Angst, erst recht nicht vor der ZPU.
B: Obwohl die Locomotion auch in der Festplatte drinsitzt.
K: Die soll ja raus, die ist ja noch ein martialisches Ding, die Festplatte. Das soll ja alles «on chip» gespeichert werden.
B: Und die «Cruise missile» ist natürlich letztlich auch ein Hochgeschwindigkeitsprodukt.
K: Aber die Rakete hat eben eine Peenemünde-Genealogie und Pynchon und so ...
B: Ich glaube ...
K: ... wir sind erschöpft. Es reicht jetzt. Drück den Knopf runter.

Berlin, Tempelhof, Platz der Luftbrücke, Manfred von Richthofen-Strasse, 28. Juni 1996




Anmerkungen
1 Friedrich Kittler, Farben und/oder Maschinen denken, in: Eckhard Hammel (Hrsg), Synthetische Welten, Kunst, Künstlichkeit und Kommunikationsmedien, Essen 1996, S. 119 – 132, S. 130
2 Das Gespräch entstand in Zusammenarbeit mit der Kunstzeitschrift Artis, Bern, die einen Ausschnitt aus dem Interview im Februar 1997 unter dem Titel «Man soll nicht immer sagen, Künstler sind harmlos und Militärtechniker sind wahre Helden ...» publizieren wird.
3 Synergie von Mensch und Maschine, Friedrich Kittler im Gespräch mit Florian Rötzer, Kunstforum, Vol. 98, Köln 1989, S. 108 – 117, S. 117
4 a.a.O., S. 115






Friedrich Kittler
1943 geboren. Professor am Institut für Ästhetik an der Humboldt-Universität in Berlin. Veröffentlichungen: Aufschreibesysteme 1800 · 1900, München 1985; Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986; Dichter, Mutter, Kind, München 1991; Draculas Vermächtnis, Leipzig 1993.

Stefan Banz
1961 geboren. Künstler. Leiter der Kunsthalle Luzern 1989 – 1993. Veröffentlichungen: Serendipity, Zürich 1991; Kunsthalle Lucerne, Luzern 1993; Give me a Leonard Cohen