Vom Ursprung der Welt
von Christoph Doswald

Der türkische Diplomat Khalil-Bey, Kunstliebhaber und Mann von Welt,
bestellte 1866 bei Gustav Courbet ein Gemälde, das in vielerlei Hinsicht
Geschichte machen sollte. «L'origine du monde», so der Titel des Werks,
zeigt den entblössten Unterkörper einer liegenden Frau. Das kleinformatige
Bild - wohl vom Sammler in Auftrag gegeben und lange in seiner
Gästetoilette hinter einem schützenden Vorhang ausgestellt - verschob die
Tabugrenzen der Kunst so radikal, dass es, lange verschollen, erst seit
vier Jahren in einem öffentlichen französischen Museum zugänglich ist.1
Trotz dieser mehr als hundert Jahre dauernden Odyssee der Unsichtbarkeit
avancierte «L'origine du monde» schon bald nach seiner Fertigstellung zum
Mythos. Dies nicht nur wegen des anstössigen Motivs, das in den Pariser
Salons die Runde machte, sondern auch wegen seiner künstlerischen
Bedeutung: das Bild markiert mit seinem schonungslosen Realismus einen
Wendepunkt in der Geschichte der Malerei. Bereits Courbets Zeitgenossen
bemerkten, das Bild habe «das letzte Wort des Realismus gesprochen. Aber
der Künstler, der sein Modell naturalistisch kopierte, hat vergessen, die
Füsse, die Beine [...] und den Kopf wiederzugeben.»2

Hundertdreissig Jahre später findet sich Courbets Motiv auf einer
Einladungskarte, die Stefan Banz aus dem spanischen Valencia in die Welt
verschickte.3 Das fotografische Sujet öffnet - mit Courbet vergleichbar -
den Blick auf einen weiblichen Unterkörper, fokussiert auf den Venushügel
und die beiden Oberschenkel. Doch anstatt wie das Vor-Bild aus klassischem
Blickwinkel jedes Detail offenzulegen, verändert Banz die Perspektive und
gefällt sich in der Andeutung, in der Ahnung: Die Scham bleibt von einem
roten Slip bedeckt. Aber die ungewöhnliche Perspektive von unten nach oben,
die grobkörnige Unschärfe des Abgebildeten und das zusätzliche Rot des
Kleides verleihen dem Bild eine mysteriöse Form von Unausweichlichkeit.
«You Can Spend Your Time Alone», Titel dieser Arbeit und dem Song «Present
Tense» der Gruppe Pearl Jam4 entliehen, unterstreicht das abstrakte wie
realistische Moment des Bildes gleichermassen: das nahe Herangehen, den
Voyeurismus, die Intimität und das gleichzeitige Distanzhalten zu den
Betrachtern. In diesem Zusammenhang ist es ein geradezu prototypisches Bild
im Werk von Stefan Banz, der seit 1987 mit unprätentiöser Vehemenz nahezu
nichts anderes als seine Familie in ihrer häuslichen Umgebung, vorwiegend
in Luzern, fotografiert: Tochter Lena, Sohn Jonathan und seine Partnerin
Sabine Mey werden in allen Lebenslagen der Kunst-Öffentlichkeit vorgeführt.
Trotz dem augenfälligen mikrokosmischen, ja privatistischen Ansatz der
Bilder, die im Grunde genommen Schnappschüsse sind, wie sie jeder stolze
Familienvater produziert, eignet der Fotografie von Stefan Banz ein hoher
Symbolgehalt, der sie weit über das (auto-)biografische Moment hinaus
bedeutsam werden lässt.
Der in den achtziger Jahren vielbeschworenen Exotik des Gewöhnlichen kommt
dabei nur nebensächliche Bedeutung zu. Viel wichtiger scheint mir, dass
Banz' Bilder eine ganz bestimmte Perspektive einnehmen, die im
Zusammenspiel mit dem «moment décisif» eine ungemein dichte und manches Mal
gar bedrohliche Atmosphäre heraufbeschwört. So lichtet er seine Tochter
just in dem Moment im Plantschbecken ab, als sie im Spiel versunken der
Plastikpuppe den Kopf abreisst und diesen Akt der Destruktion
freudestrahlend dem Vater vorzeigt.5 Oder er fotografiert den Sohn der
Schwägerin, wie er in der Hitze des Sommers von Schläuchen und einem
ominösen, hängenden Kinderbein umgeben freudig und irritiert zugleich am
Boden liegt - ein Bild, das an Spiel, Unfall, Kindsmissbrauch oder
Totschlag denken lässt. Hinter der Idylle, so könnte man die Bilder lesen,
wartet das Grauen. Das Unfassbare nimmt seinen Lauf. Banz wirft jedenfalls
einen äusserst eindringlichen und persönlichen Blick auf die Vorzeigestadt
Luzern, dem Hort schweizerischer Beschaulichkeit und touristischer
Kulissen, der mit seinen Augen gesehen nicht mehr viel vom ehemaligen Glanz
der Belle époque verströmt. Luzern und Twin Peaks6 lauern überall.

«I Built This Garden For Us» lautet der Titel dieses Buches, bei dem sich
Banz vom amerikanischen Musiker Lenny Kravitz inspirieren liess. Neben der
inhaltlichen Stimmigkeit - die Songzeile7 evoziert den romantischen Wunsch
nach dem Paradies, der wohl den meisten Familiengründungen vorausgeht -
findet sich in dieser Benennung eine genuine Strategie, die das ganze
fotografische Werk auszeichnet. Banz forscht in seiner Wahrnehmung der Welt
nach kulturellen Analogien und Paradoxien. Dabei dient ihm die Massenkultur
(Filme, Popsongs, Plattencovers und Werbeplakate) gleichermassen als
Referenz wie ihm die Hochkultur (Bilder, Installationen, Skulpturen, Bücher
etc.) zur Inspiration oder Projektionsfläche für seine fotografischen
Notate und Recherchen zur Verfügung steht: Seine Partnerin mutiert im
Luzerner Schwimmbad zur James-Bond-Figur8, wenn sie mit einer Wasserpistole
ausgestattet am Bassinrand steht; die Tochter, sonnengebräunt und mit einer
Sonnenbrille auf der Nase, erinnert an Jody Foster in Taxi Driver; und der
Künstler selbst, mit smarter Kurzhaarfrisur, fotografiert sich just in
jenem Moment mit seiner blondierten Frau, wenn sie ihm in der
Trash-Attitüde von Courtney Love mit nasser Zunge über den Kopf leckt.

Banz spielt in seiner Fotografie mit unseren und mit seinen eigenen
Wahrnehmungsgewohnheiten. Er konstruiert nach eigener Aussage «Bilder jener
Augenblicke, in denen sich Zufall und Scharfsicht verbinden und das
verborgene Mysterium der Wirklichkeit in seiner seltsamen Vieldeutigkeit
sichtbar wird.»9 Sind wir also alle James Bond oder Kurt Cobain? Ist Luzern
überall? Und wo genau befindet sich die «différance», um mit Jacques
Derrida zu sprechen? Genau diese Reflexion über die eigene Wahrnehmung
setzen die Fotos von Stefan Banz in Gang. Anstatt jedoch Antworten zu
liefern, potenzieren die Bilder die Fragen und bringen die
Rezeptionsklaviatur der Betrachter zum Klingen. Denn im Grunde genommen
handelt es sich bei den Fotos von Stefan Banz immer um Motive, von denen
wir glauben, wir hätten sie schon gesehen: die Frau mit Plüschtier und
Kinderwagen in der Landschaft; das Stilleben aus Kinderspielzeug achtlos am
Boden verstreut; das Mädchen vom Bruder im Spiel an einen Stuhl gefesselt;
das nackt-laszive Frauenbein unter dem roten Gartentisch. All das sind
prototypische visuelle Vokabeln, die sich in unserer persönlichen und
dennoch, wie Banz glaubhaft ausführt, intersubjektiven Bilderbank über die
Jahre abgelagert haben, genauso wie der Refrain eines eingängigen
Schlagers, an den wir uns unverhofft erinnern.

Banz setzt uns Betrachtern gewissermassen das vor, was wir sehen wollen:
Evokationen von alltäglichen, visuellen Topoi. «Dive» lautet denn auch der
in diesem Zusammenhang selbstironische Titel einer Installation, die der
Künstler vor drei Jahren in Linz zeigte. Wichtig ist vor allem der Nachsatz
«Give The People What They Want».10 Die Parole, ebenfalls ein verbaler
Allgemeinplatz, verdeutlicht, welchen Stellenwert das Banale und
Alltägliche besitzt, das sich wie ein roter Faden durch Banz' gesamtes Werk
zieht. Zwar bewegen wir uns kulturgeschichtlich gesehen noch immer in der
Postmoderne - Sampling, Covering, Replikas und Simulationen finden sich
allerorten - doch das Authentische treffen wir nicht mehr im Dschungel von
Sumatra, sondern oftmals nurmehr vor der eigenen Haustür. Dass ob so viel
Profanem das Missverständnis vorprogrammiert ist, versteht sich von selbst.
Denn das Auge lässt sich nur allzu gerne in die Irre führen, etwa wenn ein
Aquarium oder ein Gemälde ins Spiel kommen oder wenn die kommune
Wirklichkeit artifizieller erscheint als die Fiktion.11

Banz nimmt also seine eigene kleine Welt zum Anlass, um Fragen über die
Gültigkeit und Wahrhaftigkeit der Wahrnehmung zu formulieren: Wo beginnt
die Wirklichkeit - jene des Bildes und jene des Betrachters? Wo endet die
Welt und wo beginnt die Imagination? Genau in dieser Schnittzone situiert
Banz seine Motivik, genau dort positioniert er seine künstlerischen
Setzungen. In diesem Sinne ist seine Strategie derjenigen von Courbet
verwandt, der sich dem idealistischen Bildraum verweigerte und letztlich
nichts anderes im Sinn hatte, als die Distanz zwischen Werk und Betrachter
aufzuheben. Banz konstruiert mit seinen Fotos eine exakte, wohlkalkulierte
Balance von Vertrautem und Fremdem. Indem er die Betrachter mit profanen
Motiven anlockt, die sie aus dem eigenen Alltag kennen, lässt er sie in
eine Sehfalle tappen. Denn beim näheren Betrachten seiner Fotos offenbaren
die Bilder ihre wahre Identität - sie zeigen eine unter der Oberfläche
liegende Wirklichkeit, die, wenn wir ehrlich sind, auch die unsere ist.

Anmerkungen:

1 Lange Zeit musste befürchtet werden, dass das Gemälde für immer verloren
sei. Nach einer Odyssee durch diverse Privatsammlungen befand es sich bis
1945 im Kunstmuseum Budapest. Danach galt es als verschollen. Seit vier
Jahren hängt es in Paris, im Musée d'Orsay.
2 M. Du Camp, Les Convulsions de Paris, 1878, zitiert in: féminimasculin.
Le sexe de l'art, Centre Georges Pompidou, Paris 1995, S. 23
3 Einladungskarte der Ausstellung Stefan Banz, Door to Door, Espai
Lucas, Valencia , Oktober 1997
4 Auf Pearl Jam's CD No Code, 1996, zu finden.
5 Abgebildet in: Stefan Banz, Give me a Leonard Cohen Afterworld, Cantz
Verlag, Ostfildern 1995, o.S.
6 Twin Peaks heisst die Kleinstadt, in welcher der Regisseur David Lynch
seine von rabenschwarzem Humor und bissigem Zynismus gezeichnete Kult-Soap-Serie
in den frühen neunziger Jahren ansiedelte. Bis zum Mord an der
High-School-Schülerin Laura Palmer ist der Ort eine amerikanische
Bilderbuchstadt, wo Recht und Ordnung herrschen. Im Zuge der
kriminalistischen Recherchen lassen jedoch die Protagonisten ihre
Sonntagsschüler-Fassaden fallen und offenbaren ihre dunkle Seite.
7 Lenny Kravitz' Songtitel I Build This Garden For Us auf seiner ersten LP Let Love Rule, 1989, ist in der Gegenwart geschrieben.
8 Umschlag-Bild des Katalogs: Stefan Banz, Dive, Offenes Kulturhaus, Centrum für Zeitgenössische Kunst), Linz, 1996.
9 In: vgl, Anm. 5
10 «Dive» hiess die Ausstellung im Offenen Kulturhaus in Linz 1996, vgl. Anm. 8.
Dive ist auch der Titel eines Songs von Kurt Cobain auf der Nirvana CD
Incesticide, 1992. Give The People What They Want ist der Untertitel der Linzer Ausstellung und gleichzeitig der Name eines späten Kinks-Albums
aus dem Jahre 1982.
11 Als Banz 1997 in der Ausstellung Nonchalance im Centre Pasqu'art in
Biel erstmals das Video «Door to Door» zeigte, eine authentische
Dokumentation eines handfesten Streits zwischen ihm und seinem Nachbar,
löste die kurze aber eindringliche Sequenz bei den Betrachtern grosse
Unsicherheit um die Frage der Echtheit aus. Vgl. Elisabeth Lebovici,
«Lieber Stefan Banz», in: Nonchalance, Centre Pasqu'art und Akademie der Künste, Biel und Berlin 1997/98, S. 43ff.