Stefan Banz - Wirkliche Wirklichkeit
von Christoph Doswald
«Wie wirklich ist die Wirklichkeit?» fragte der Psychologe und
Kommunikationsforscher Paul Watzlawick bereits 1976 in seinem gleichnamigen
Buch und stellte damit die objektive Wahrnehmung der Realität zur Disposition.1
Seither hat sich unser Bild von der Welt, die Wahrnehmung des Realen, nochmals
radikalisiert. Denn aus unmittelbaren Lebenserfahrungen sind mediale Übersetzungen
geworden. Werbung, Fernsehen, Illustrierte, Video und neuerdings das Internet
definieren zunehmend den Ausschnitt und die Perspektive unseres Blicks.
Welt wird heute grösstenteils als Bild erfahren. Wir wissen: unsere
Eindrücke, unsere Perzeption der Wirklichkeit, ist niemals objektiv
- genausowenig wie das Wirkliche objektiviert werden kann. Technische
Hilfsmittel, wie etwa die Fotografie oder das Video, von denen wir uns Wahrheit
versprochen hatten, sind in Verdacht geraten. Bilder, das scheint heute
klar zu sein, sind oftmals Simulakren.
Trotz diesem Prozess, der Relativierung von medialer Wahrnehmung, tragen
wir noch immer den sentimentalen Wunsch nach dem Authentischen im Herzen.
Und wenn wir Bilder sehen, dann fragen wir uns immer, ob das Gezeigte so
stattgefunden hat. Diesem Paradox sind auch die Betrachter der Fotografien
und vor allem der Videos von Stefan Banz ausgesetzt. Deutlich konnte diese
Verunsicherung der Wahrnehmung beobachtet werden, als Banz das Werk mit
dem Titel «Door to Door» erstmals der Öffentlichkeit vorführte.2
Das mehrminütige Videoband zeigt eine Auseinandersetzung des Künstlers
mit seinem Nachbarn in einem Luzerner Reihenhausquartier. Obwohl der Disput
über 'unartige' Kinder und 'asoziale' Künstler zur handfesten
Schlägerei eskaliert, handelt es sich beim Gezeigten um keine exotische,
abstruse Handlung, sondern um ein alltägliches Geschehen in der Enge
der kleinbürgerlichen Existenz. Frustrationen und Vorurteile entladen
sich nun einmal in einer 'zivilisierten Gesellschaft' als derartige verbale
und manches Mal auch körperliche Gewalthandlungen, die allerdings den
Rahmen des Domestizierten selten verlassen.
Wenn das Profane in den Rahmen des Museums gestellt wird, wenn es eine auratische
Überhöhung durch künstlerische Diktion und kuratorische Inszenierung
erfährt, dann stellt sich bei den Betrachtern die Entscheidungsfrage:
artifiziell oder real? «Door to Door» steht als prototypisches
Beispiel für diesen Diskurs des 'feinen Unterschieds'.3 Betrachter,
denen nachbarschaftliche Streitigkeiten fremd sind, neigen etwa dazu, hinter
der gewalttätigen Sequenz eine raffinierte theatralische Inszenierung
zu vermuten. Andere Betrachter nehmen die Handlung zum Nennwert und hegen
keinerlei Zweifel an ihrer Authentizität. Der Künstler wiederum
betreibt mit dem Veröffentlichen einer zutiefst erniedrigenden Begebenheit
aus seinem Leben - obwohl um Jahre jünger als der Nachbar, muss
er sich vom Rentner Schläge gefallen lassen - eine Strategie der
Entäusserung. Seine künstlerische Setzung schafft Distanz zu seinem
unmittelbaren Erleben, ja, sie dient der Vergangenheitsbewältigung.
Vor dem Hintergrund notorisch propagandistischer Kriegsberichterstattung,
sensationslüsterner Reality-TV-Übertragungen und sogenannter Doku-Soaps
sind solche Überlegungen der Betrachter und der beteiligten Akteure
berechtigt und nötig. Die Quelle des Bildes (wenn es denn eine gibt),
die Motive der Akteure, die Intention des Bildermachers und die Haltungen
der Betrachter stehen in einer wechselseitigen Beziehung, welche die Decodierung
des laufenden Bildes mitbestimmt. Banz legt in seinem videastischen Werk,
das mittlerweile an die 150 Bänder umfasst4, eine Versuchsanordnung
vor, die exakt diese Schnittstelle besetzt. Die dem häuslichen Alltag
mit seiner Familie entstammenden Sequenzen - manche sind nur einige
Sekunden lang, andere dauern mehrere Minuten - spielen gekonnt und
präzis diese paradoxalen Variablen gegeneinander aus und erzeugen ein
zugleich bezauberndes wie beunruhigendes Gleichgewicht, das jeden Moment
zu kippen droht. Hier artikuliert sich gleichzeitig das vertraute Dasein
der kleinbürgerlichen Kernfamilie, hinter deren heiler Fassade das
Monströse lauert, welche diese gesellschaftliche Enge hervorbringen
kann - Monströses, das nur selten im Video selbst (mit Ausnahme
von «Door to Door») zu sehen ist, sondern vielmehr erst durch
die Bilder im Kopf der Betrachter evoziert wird.
Charakteristisch an den Videos von Banz ist einerseits ihr sogenannter dokumentarischer
Gehalt und anderseits die verfremdende, vieldeutige und assoziationsreiche
Wirkung, die seine spezifische Optik, sein eigenwilliger Blick auf die Dinge
entwickelt. Im Video «Scarborough Fair» (Abb. S. 162-163) hören
wir beispielsweise seinen Sohn Jonathan beim singenden Vortrag der bekannten
gleichnamigen englischen Volksweise (in der Version von Simon & Garfunkel
ironischerweise eine der beliebtesten Melodien, die dem in die Warteschlaufe
delegierten Telefonierer zugemutet wird). Banz erfasst jedoch den Buben
nicht direkt im Bild, sondern benutzt eine Übersetzung, die als Motiv
in der Kunstgeschichte Tradition besitzt: er zeigt das Spiegelbild des Singenden,
wie es von einer glatten Wasserfläche reflektiert wird - es ist
auf den ersten Blick leicht zu erkennen, dass bei dieser Bildfindung der
Narziss-Mythos Pate gestanden hat. Diese Erkenntnis aber hat nur scheinbare
oder virtuelle Gültigkeit, in Wirklichkeit nämlich sehen wir gar
nicht die Silhouette des singenden Buben, sondern die seiner Schwester Lena.5
Wer die beiden Kinder aber nicht wirklich kennt oder sie nicht aus der Kenntnis
von anderen Banz'schen Videoarbeiten zu unterscheiden vermag, ist nicht
in der Lage diese Realitätsverschiebung wirklich wahrzunehmen. Dieses
Beispiel zeigt ausgezeichnet, welch vertracktes Spiel Banz mit der Wirklichkeit
spielt. Wenn dazu noch die Figur des Künstlers, bewaffnet mit einer
Kamera, immer mal wieder in der Wasserfläche aufscheint, dann evoziert
das eine neue Kette von Assoziationen, die von Vermeer über Velazquez
bis hin zu Umbo reicht und das subtile Ins-Bild-Setzen des Bildproduzenten
thematisiert, den Urheber benennt und ihn dennoch im geheimnisvollen Halbdunkel
belässt.
Banz arbeitet mit Fotografie, Video, Installation, Text und Malerei. Diese
Techniken weisen auf den ersten Blick deutliche Differenzen auf. Während
zum Beispiel die Installation und die Malerei gemeinhin als genuine künstlerische
Setzungen gelten und die Fotografie das Raum-Zeit-Kontinuum für einen
Sekundenbruchteil aufhebt, verlängert das Video die klassische Illusion,
Wirklichkeit erfassen und abbilden zu können. Die Banz'sche Benutzung
dieser Medien plädiert hingegen für Interdisziplinarität.
Er betont in seinen Werken das Gemeinsame, weist auf Differenzen hin und
führt somit, trotz der gängigen Motivik, einen regelrechten Mediendiskurs
innerhalb seines Gesamtwerks. Besonders evident wurde dies in einer Installation,
die Banz im Sommer 1999 in der Zürcher Galerie Ars Futura vorstellte.6
Während er im Hauptraum der Galerie eine Serie von kleinformatigen,
in Öl gemalten Imitaten der Gemälde von Francis Bacon präsentierte
(«Baby Bacons»), setzte er den Ausstellungsbesuchern in einem
kleinen Kabinett ein provozierendes Ensemble von Malerei und Video vor.
An der Wand platzierte er kleinformatige Bilder, die er basierend auf den
Motiven eigener Fotos angefertigt hatte. Der ursprünglich profane Schnappschuss
aus dem Familienalbum, bereits vom Kunstmarkt absorbiert, wurde mit Hilfe
der Malerei, des klassischen künstlerischen Mediums, zusätzlich
auratisiert.
Am Boden des Kabinetts befanden sich zwei Fernsehmonitore, die - unter
den Titeln «Lick (Doggy)» (Abb. S. 26-27) und «Jump (Doggy)»
(Abb. S. 18-25) - kurze Video-Loops zeigten. Beide vorgestellten Sequenzen
besitzen im Kontext dieser Kunst-Medien-Reflexion besondere Bedeutung. Sie
zeigen seine Tochter Lena, wie sie einen Hund imitiert, auf allen Vieren
auf dem Boden von Grossmutters Wohnung herumkriecht, bellt und Männchen
macht. Banz hat diese kindliche Handlung zuerst einmal mit der Kamera festgehalten.
Dann hat er die Bildfolge dupliziert und eines der Duplikate mit rückwartslaufender
Handlung aufgezeichnet. Indem er nun die chronologisch richtige und die
falsche Sequenz in einem Loop zusammenbringt, konstruiert er nicht nur eine
befremdliche, eindringliche Bildfolge, sondern reflektiert auch die Rolle
des Bildobjekts - eine Tochter, die genauso wie die ganze Familie längst
keine Notiz mehr von der permanent anwesenden Kamera nimmt und damit der
einstmals gültigen Beobachtung von Roland Barthes ein genuin neues
Medienverständnis entgegenhält. «Wenn ich mich vor dem Objektiv
in Pose setze», schrieb Barthes, «(will sagen: wenn ich weiss,
dass ich posiere, und sei es nur vorübergehend), so riskiere ich damit
nicht viel (jedenfalls nicht für den Augenblick). [...] Diese Abhängigkeit
mag aber noch so imaginär sein (und sie ist reinste Einbildung), so
erlebe ich sie gleichwohl mit der Beklommenheit, mit der man einer ungewissen
Kindschaft entgegensieht: ein Bild - mein Bild - wird entstehen.»7
1Paul Watzlawick, Wie wirklich ist die Wirklichkeit?; Wahn, Täuschung,
Verstehen, München 1976
2 Anlässlich der Ausstellung NONCHALANCE im Centre Pasq'art, Biel,
31. August bis 26. Oktober 1997.
3 Vgl. zur Thematik der bildungsbürgerlichen Kulturwahrnehmung die
Untersuchung des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, Die feinen
Unterschiede - Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt
am Main 1987. Bourdieu hat vor kurzem auch eine Untersuchung über die
Rolle des Fernsehens vor dem Hintergrund der Realitätsverschiebung
zwischen Welt und Bild vorgelegt. Pierre Bourdieu, Über das Fernsehen,
Frankfurt am Main 1998.
4 Vgl. S. 164-165: Video Works 1997 - 1999. Auf dieser Liste fehlt
nur die erste, bereits 1994 entstandene Arbeit «Where Did You Sleep
Last Night», die sich mit Realität und Tod des damals gerade verstorbenen
Teen-Idols Kurt Cobain beschäftigte.
5 «Scarborough Fair» ist konzeptionell die Weiterentwicklung von
«Where Did You Sleep Last Night», vgl. Anm. 4.
6 Stefan Banz, Gods + Monsters, Ars Futura Galerie, 22. Mai bis 10. Juli
1999
7 Roland Barthes, Die helle Kammer, Bemerkung zur Photographie, Frankfurt
am Main, 1985, S. 19