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Marlene McCarty (NYC)
Bad Blood, 2004-05

Marlene McCartys interaktive cinematische Installation
"Bad Blood"
Geständnisse, Begehren und Aufbegehren


Vor gut zehn Jahren schenkte ein Freund Marlene McCarty das Buch "Bad Blood". Die wahre Kriminalgeschichte ist dem Schicksal der 16-jährigen Marlene Olive auf der Spur. Sie erzählt von der Faszination eines kalifornischen Teenagers für Sex, Drogen und das Okkulte - einer rebellischen Pubertät, die unerwartet und heftig entgleist: Marlene erschlägt ihre schlafende Mutter, ihr Freund erschiesst den Vater, gemeinsam verbrennen sie die Leichen im unbe-holfenen Versuch, den Mord zu vertuschen.
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Bereits in ihren früheren Textbildern und Multimedia-Arbeiten hatte McCarty unbedacht benutzte frauen-verachtende und homophobe Formeln aufgegriffen, sie sich angeeignet und zugleich entblösst. Die Figur der namens-verwandten Marlene war 1994 der Auslöser einer längeren Recherche. Für die Serie "Girls", gezeigt 2004 unter anderem in der Neuen Kunst Halle St. Gallen, zeichnete die Künstlerin überlebensgrosse Porträts junger Frauen, die ihre Mütter ermordet hatten. Dazu fasste sie die Umstände, die zur fatalen Tat führten, in knappe Worte. McCarty interes-siert sich für die "Girls" nicht im Sinne von kriminalistischen Sonderfällen, sondern als tragische Verkörperung eines Sozialisierungsdrucks, der nicht nur, aber besonders auf den behüteten Mädchen der amerikan-ischen Mittelklasse lastet. Deren Körper konstruierte Marlene McCarty aus den authentischen Gesichtern der Gerichtspresse und den Gliedern und Posen von Fotomodellen. Sie zeichnete in obsessiven Schraffuren mit Kugelschreiber - wie ein Schulkind, das sich an den Rändern eines Schulhefts die Zeit totschlägt. Durch die Kleidung zeichnen sich die jungen Brüste und Schamlippen ab und markieren den Körper als Territorium voller Spannungen, zeugen von authentischer und instrumentalisierter Jugend, von Sexualität im Konflikt mit Familie und Gesellschaft.
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Die Figur von Marlene Olive steht auch im Zentrum der ersten interaktiven Installation, die Marlene McCarty derzeit gemeinsam mit Killer Films und [plug.in] entwickelt. Marlene, gespielt von Jessica Campbell, schwebt im Raum, spielt mit ihren Haaren, schreibt Tagebuch. Sie reagiert auf unser Eintreten mit grosser Intensität, drängt im Sprechen mitunter bedrohlich in den Raum. Sie erzählt von ihrem Leben und ihrer Tat, schweift ab, widerspricht sich, weicht aus. Marlene entwickelt hilflose Notlügen, tischt Gruselgeschichten auf, verstrickt sich in wahnhafte Fantasien. Was und wieviel sie wem erzählt, ist rück-gekoppelt an unser Verhalten: Wer zu sehr auf Distanz geht, wird mit Missachtung gestraft. Wer ihr zu nahe tritt, angebrüllt und vertrieben. Wer entnervt oder ermattet flieht, dem schickt sie Beschimpfungen hinterher. Wir müssen uns Marlenes Vertrauen also sozusagen erst erarbeiten und hören die unwahrscheinlichsten Versionen des Geständnisses, die ausnahmslos auf Marlenes Aussagen in den Verhören basieren.
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So sehen wir uns gezwungen, dem Dialog mehrere Anläufe zuzumuten und der jungen Frau Zeit zu lassen, ihre Identität aus unterschiedlichen Aspekten erst zu konstruieren. Denn selbst wie Marlene erscheint - ob als braves Schulmädchen in kindlicher Uniform, als sich räkelnde Verführerin oder als rebellischer Grufty - entscheidet sich über unser Verhalten. Wer länger mit dieser launischen Figur interagiert, entdeckt, dass sie je nach unserem Standort das Auftreten wechselt. Wir dienen ihr sozusagen als Projektionsfigur: Sie spricht uns an, als träten wir bei ihr an Mutter-, Vater- bzw. Freundesstelle. Sie lässt uns - direkt an das Publikum gewandt oder im schuldbehafteten Dialog mit ihren Opfern - allmählich Teil haben an ihren Beziehungen. Für den Freund Chuck, den bewunderten und doch willfährigen Komplizen, gibt sie den sexy Vamp. Dem stets überarbeiteten Vater ist sie das idealisierte, süsse Kind; die unberechenbare, von Alkoholsucht und Phobien geplagte Mutter trifft ihr geballter Zorn.
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Für den psychotischen Gewaltausbruch findet Marlene
keine direkte Sprache, und doch wird er nachvollziehbar als Eruption im diffusen Feld uneinlösbarer Erwartungen. Die Sehnsucht, sich selbst zu verwirklichen und als wahlweise Model oder Rockstar zu Berühmtheit zu gelangen, radikalisiert sich in der Enge eines in Tabus und Ideologien verstrickten Milieus. Marlene McCarty entwickelt Marlene Olives Figur nicht als individuelle Biografie, deren Abseitig-keit Distanz schafft: Sie schafft ein Identifikationsangebot für alle, welche die eigene Anpassungsleistung an soziale Normen noch für verhandelbar halten. Marlene antwortet dem sozialen Druck mit Gewalt und zwar - erst das macht sie zur Ausnahme - nicht in Selbstzerstörung, sondern im Mord an der Generation der Eltern.
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Die Interaktion wird ausgelöst über eine Kamera, welche unsere Position im Raum erkennt und an das System weitergibt. Je nachdem, wo wir uns befinden, aktivieren wir eine von drei Videosequenzen, in denen Marlene Olive in einer ihrer Rollen auftritt und eine Version ihrer Geschichte erzählt. ¬†Das Eigentümliche dieser sehr einfachen Interaktion liegt in der Rückkoppelung des diskreten technischen Dispositivs mit dem künstlerischen Anliegen. Auch eine ausgeglichene Persönlichkeit vereint wider-sprüchliche Facetten, formt sich in den Ansprüchen anderer, ohne daran zu zerbrechen. Die Pubertät macht das Einstudieren vorgegebener Rollen, die narzisstische Lust, aber auch das Misslingen von Identitätsfindung besonders transparent und - wie sich in Marlenes Fall zeigte - mitunter fatal. Die unauflösbaren Widersprüche des "branching narrative", der verzweigten Erzählung, entsprechen zudem dem bis heute Ungewissen eines mehr-fach revidierten Geständnisses bzw. Selbstentwurfs. Die Installation drängt uns in die unbehagliche psychologische Situation des Mitwissers oder Richters. Sie setzt uns dem aufdringlichen Leid und Mitteilungsbedürfnis der jugendlichen Delinquentin aus, dem auch das geduldigste Gehör keine Entlastung bringt.
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Text: Annina Zimmermann
http://www.mapping-new-territories.ch/-