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Adventure-Games als Interaktive Filme
Wenn man Abenteuer-Games als interaktive Filme definiert und die Kriterien der Filmkritik anwendet, erweisen sich die meisten Games auf dem Markt als anspruchslose B-Movies. Ihr Plot handelt von Kämpfen gegen böse Kreaturen, die Welt muss gerettet werden usw. Alle Genre-Clichées kommen vor, um den Einstieg und das "intuitive" Verständnis des Users zu erleichtern. Mit dem Kulturtheoretiker Bazon Brock kann man dem eine positive Seite abgewinnen: "Das macht die Games anschlussfähig an die mittelalterliche Realpräsenz von geistigen Welten: Mythen, Niebelungen, die Grals-Geschichte, Dantes Inferno, die mittelalterlichen Höllenvisionen. Die Computergames sind ein pädagogisch wertvolles Mittel, um jungen Leuten die Wirksamkeit unserer rein geistigen, imaginativen Konzepte auszurichten." 1)
Nach dem kanadischen Spieltheoretiker Bernard Perron ist es dagegen entscheidend, an Spielen nicht die Qualität der Story sondern die Qualität des Spiels zu beurteilen. "Was wir brauchen ist eine Ludologie, eine Studien-Disziplin, welche Spiele (Games) und Spiel-Aktivitäten (Plays) untersucht." 2)

Zork (MIT 1977) Fahrenheit (Trillenium Corp. 1984)

Aspekte einer Erzähltheorie
Dennoch ist es interessant, die narratologischen Eigenarten interaktiver Computerspiele zu untersuchen.
Die tradierte Form des Erzählens kennt die strikte Unterteilung in den Erzähler und die Zuhörer. Adventuregames heben diese Unterteilung bis zu einem gewissen Grad auf. Der Spieler ist nicht nur ein Rezipient, sondern auch ein Akteur in der Geschichte. Er spielt eine aktive Rolle, indem er die Reihenfolge bestimmt, in der er vorgefertigte Elemente der Erzählung nachvollzieht. Seine Freiheit besteht darin, dass er überall hingehen kann, wohin er will, „solange der Spielautor auch schon dort gewesen ist.“ Lev Manovich schreibt: "While existing theories of illusionism assume that the subject acts strictly as a viewer, new media, more often than not, turn the subject into a user. The subject is expected to interact with a representation - click on menus or the image itself, making selections and decisions." 3)

Um sich zu entfalten bedürfen Erzählungen in Spielen andauernd der Ergänzung bzw. der Eingaben durch die Spieler. Sie funktionieren in einer Art Stop-and-Go-Vorgang. Es gibt Entscheidungsmomente, in denen Eingaben durch den Spieler erfolgen, und erst diese Eingabe treibt die Erzählung weite. Indem der Spieler eine Entscheidung trifft, beteiligt er sich an der Freilegung der Erzählung. (Claus Pias)

In Adventurespielen wie zum Beispiel der Myst-Folge trifft man oft Gegenstände, Schalter und Zeichen an, die man einsammelt, bedient und sich merkt, weil man weiss, dass sie erst später im Verlauf der Geschichte ihre Bedeutung offenbaren.
Claus Pias weist darauf hin, dass Roland Barthes "strukturale Anlayse" von Erzählungen aus dem Jahr 1966 erstaunlich gut auf die narratologischen Strukturen von Games passen: "Rückblickend scheint es so, als sei die strukturale Analyse von Erzählungen für Adventurespiele geschrieben - oder umgekehrt: als sei sie selbst ein Ereignis medientechnischer Diskursbedingungen. Beispielhaft lassen sich Roland Barthes' Konzepte von Erzählung und Agenten als Theorie der Software lesen." 4)
Die strukturale Analyse zerlegt Erzählungen in Einheiten, und weil diese Segmente einen funktionalen Charakter haben, entsteht aus ihnen eine Geschichte (-). Als eine Einheit gilt dabei jedes Segment, das als Glied einer Korrelation auftritt. Barthes schreibt: »Die Seele jeder Funktion ist, wenn man so sagen kann, ihr Keim, die Befruchtung der Erzählung mit einem weiteren Element, das später auf derselben Ebene oder woanders, auf einer anderen Ebene, heranreifen wird«.
Daher erscheint in einer Erzählung alles funktional (-): Der Kauf eines Revolvers korreliert mit einem späteren Schiessen oder Zögern, das Klingeln eines Telefons mit dem Abheben oder Nichtabheben, usw.
In der literarischen Erzählung übernimmt die jeweilige Figur die angemessene Entscheidung: schiessen oder den Telefonhörer abnehmen. Im Spiel ist es der User.
Die ersten Computerspiele überhaupt waren reine "Text-Abenteuerspiele", weil die grafischen Möglichkeiten noch zu gering waren. Zum Beispiel das Spiel Zork:The Great Underground Empire (Infocom seit 1977).
Dort steht im Erzähltext zum Beispiel:
There is a small mailbox here.
Und der Spieler schreibt dazu den Befehl: OPEN THE SMALL MAILBOX
Darauf kommt die Information: Opening the mailbox reveals a leaflet.
Befehl: READ THE LEAFLET

Zitate:
1) Bazon Brock in: "Games Odyssey". Vierteilige TV-Dokumentation zur Kulturgeschichte des Computerspiels, 2002
2) Mark Wolf / Bernard Perron (Hg.), The Video Game Theory Reader. Routledge GB 2003, S.239
3) Lev Manovich: Illusions, Narrative and Interactivity. in derselbe: The Language of New Media, Cambridge 2001, S.205
4) Claus Pias: Computer Spiel Welten. München: Sequenzia Verlag 2002, S. 142-143 > Bezogen auf: Roland Barthes, Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen, in: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a.M. 1988, S. 102-143.