Netzbasierte Kunst

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Net Community 2


Die Idee und Metapher der Digitalen Stadt und der Agora
Seit der Frühzeit der Net-Art entstanden im Internet immer wieder von Künstlern gegründete Kommunikationsplattformen, deren Ziel primär in der Kommunikation ihrer Teilnehmer besteht. Hier werden Ideen ausgetauscht, Diskussionen zu politischen und kulturellen Themen geführt oder, unter dem Gesichtspunkt einer Tausch- und Geschenkökonomie, Musikstücke und Programmcodes angeboten. Für solche Plattformen wurden Metaphern wie digitale Stadt, Agora oder Cyberstaat (etwa: Cyberhelvetia) benutzt, ihre Teilnehmer bildeten im besten Fall eine Community. Da Netzkünstler und –Aktivisten einen offenen Kunstbegriff propagieren, der dynamische Gebilde statischen Bildern vorzieht, Plattformen wie De Digitale Stad Amsterdam in ihrer Gründerzeit und die Internationale Stadt Berlin gehören zur Netz-Kunstgeschichte. Ihre Konzepte waren einer gesellschaftlichen Utopie verpflichtet, als Inspirationsquelle ihrer Gründungsidee lässt sich etwa Joseph Beuys' soziale Plastik ausmachen oder Bertold Brechts um 1830 erhobene Forderung an das junge Massenmedium Radio, auch die Kommunikation vom Hörer zum Sender zu fördern.



De Digitale Stad Amsterdam, 1994
Die erste der im virtuellen Raum installierten Städte war De Digitale Stad Amsterdam (http://www.dds.nl). Am 15.Januar 1994 ging die dds-Plattform als Initiative einer Gruppe von Hackern, Medienwissenschaftlern und -künstlern online. Anfang 1996 zählte De digitale Stad bereits mehr als 30.000 "Einwohner". Diese waren auch Bürger der realen Stadt Amsterdam, denn dds sollte an die terrestrische Stadt gebunden bleiben. So wurde in De digitale Stad auch ausschliesslich die holländische Sprache benutzt. Andere Besucher konnten als "Touristen" nur bestimmte Bereiche der Plattform betreten. In Amsterdam war der Zugang auch über eine Reihe öffentlicher Terminals möglich.

Links:
10 Jahre dds 1994-2004 (.pdf)




oben: dds 1.0 index-Seite vom 15.Januar 1994
unten: dds 2.0 Seiten 1995





Die Internationale Stadt Berlin (1995)
Aus dem Konzepttext von 1995: Das Projekt Internationale Stadt präsentiert die Stadt als soziales Phänomen menschlicher Entwicklung im Internet. Die Stadt als Sammelpunkt, Ballungszentrum, Kommunikations- und Informationsmedium mit ihren Dienstleistungsangeboten ist ein gesellschaftliches und universelles Gesamtmedium und verdient daher im Kontext der "Neuen Medien" besondere Aufmerksamkeit. Grundlegender Ausgangspunkt unseres Projektes ist die Transformation verlorengegangener Funktionalitäten realer Städte in elektronische Netzwerke. Die Visualisierung von Stadtarchitektur ist in diesem Zusammenhang von geringem Interesse. Die Stadt im Netz wird die reale Stadt nicht ersetzen, sie jedoch ergänzen, erweitern und verändern. Ausgangspunkt dieser Vision ist eine Interessengemeinschaft aus Künstlerinitiativen, Wissenschaftlern und anderen Interessierten. Das verbindende Element dieser heterogenen Gruppe besteht in der Erforschung und Nutzung des weltweiten Computer-Netzwerks Internet.



Das Projekt Internationale Stadt, Konzepttext von 1995 (.pdf)
Das Projekt IS, Kurzbeschreibung von 1995 (.pdf)
Tilmann Baumgärtel zum Ende des IS-Projekts 1997



Die Erkenntnis, im Internet zum ersten Mal ein vergleichsweise billiges und von vielen bedienbares Massenmedium zur Verfügung zu haben, in dem jeder zum Sendern werden konnte, bildet den Kontext zur Politisierung der Internet-Pioniere in den frühen 90er Jahren. Im Web entstanden von Künstlern initiierte Plattformen zur freien Meinungsäusserung der Netizens (Net-Citizens). Dafür wurde die Metapher der "virtuellen Stadt" geprägt. "Der Mensch steht als aktiv Beteiligter und nicht als Verbraucher im Zentrum", hieß es Anfang 1995 in einer Art Gründungsmanifest der Internationalen Stadt Berlin. "Neue zwischenmenschliche Beziehungen werden durch die Internationale Stadt initiiert und wirken auf den Alltag der realen Stadt. Im Unterschied zu anderen Medien werden neue Informationen durch sozialen Austausch entstehen."

Austausch der Bürger in der virtuellen Stadt bedeutete für die Gründer: mediale Stärkung der demokratischen Öffentlichkeit durch freien Zugang zur Information und permanentes "Räsonnement" der Entscheidungsinhalte durch alle Gesellschaftsmitglieder. Den Begriff des Räsonnements benutzte Jürgen Habermas in seiner Untersuchung zur kritische Kommunikationskultur in der literarischen Öffentlichkeit des 18.Jh. Das gebildetete Bürgertum bildete damals in publizierten und privaten Briefen eine Gegenspielerrolle zur staatlichen Gewalt heraus.
Nach diesem Öffentlichkeitsbegriff wird der soziale Raum durch kommunikatives Handeln erzeugt. Durch die Medien entsteht ein öffentlicher Raum, in dem man sich über das Selbstverständnis dessen, was man macht, verständigt. Öffentlichkeit lässt sich als Relaisstation bzw. als Netzwerk aller wirklichkeitsvermittelnden Systeme auffassen. Sie erscheint als ein offenes Kommunikationsforum für alle, die etwas sagen, oder das, was andere sagen, hören wollen. Die Medien sind demnach der wichtigste Bestandteil der Öffentlichkeit, da sie in der Regel die lauteste Stimme im Kommunikationsraum einnehmen und die öffentliche Meinung weitgehend prägen. Entsprechend wichtig wird die Frage, wer die Medien kontrolliert und wer sich in ihnen äussern darf.

Die ursprüngliche Idee einer virtuellen Stadt ist vor dem Hintergrund des kulturellen Zeitgeists der achziger und frühen neunziger Jahre zu sehen. An vielen Orten gründeten Künstler im Sinn einer Institutionskritik selbstorganisierte und selbstverwaltete Kunsträume als Alternative zu den Einrichtungen des traditionellen Kunstbetriebs.
Da sich Kunst für die Entwicklung von Modellen interessiert und das Scheitern in der Realität nicht weiter tragisch nehmen muss, gehören die frühen virtuellen Stadtprojekte heute zur Netzkunstgeschichte. Sie bleiben wichtig, weil sie Realität nicht einfach abbilden, sondern durch Interaktion transformieren wollten.
Heute erhält man auf die Frage, wie weit die Digitale Stad ihre politischen Ziele erreicht hat, in Amsterdam eher skeptische Antworten. Und die Internationale Stadt in Berlin schloss ihre virtuellen Tore bereits im Dezember 1997. Grund war nicht zuletzt ein Gefühl der Ernüchterung. Zwar macht das Web den demokratischen Austausch technisch möglich, aber die mentale Voraussetzung bei den Benutzern fehlt noch. Um die auszubilden, braucht es einen längeren Prozess.