Der Schattenifrit
Kurzgeschichte

- Was ist ...? Wer bist Du?
- Ich bin ein Mensch. Ich heisse Rajan. Und Du?
- Ich heisse Schachbur. Ich bin ein Ifrit aus dem Reich der Dschinne. Ich wurde in eine Kupferflasche gesperrt und Du hast mich befreit.
- Ja, ich weiss.
- Du weisst das? Woher? Wer hat Dir gezeigt, wo Du mich findest?
- Das ist eine lange Geschichte ... Das Wichtigste daran ist aber, dass Du jetzt hier bist.
- Was wünschst Du von mir?
- Was ich wünsche ...!
- Ja, ja, ich weiss schon. Du hast mich aus meiner Gefangenschaft befreit, damit ich Dir ein Diener sei, der Dir Deine Wünsche erfüllt. Und ich weiss auch, dass die Menschen bestimmte Wünsche haben, die immer wiederkehren. Wie viel Geld möchtest Du?
- Ich möchte kein Geld. Ich bin viel gereist. Ich habe in unterschiedlichen und verschiedenartigen Gesellschaften und Kulturen gelebt. Ich finde, dass die Armen besser dran sind als die Reichen. Vielleicht weil sie sich mit den grundlegenden Bedürfnissen des Lebens beschäftigen und nichts mit dem Luxus zu tun hatten, wurden sie warmherziger und grosszügiger. Dahingegen töten die Frustration und die Niedergeschlagenheit die Reichen. Sie bringen sich oft selbst um, weil sie reich sind, aber nicht glücklich.
- Dann suchst Du nach Macht? Andere zu beherrschen ist durchaus reizvoll. Die Herrschaft über andere und deren Unterwerfung unter Deine Befehle ist Dein Wunsch. Ich kann Dich zur wichtigsten Persönlichkeit machen.
- Nein, ich liebe die Macht nicht. Ich habe sie schon oft genug zu spüren bekommen. Ich wurde sogar schon einmal ins Gefängnis geworfen, nur weil ich versuchte, einige meiner politischen Ansichten zu äussern. Und ich sage Dir, dass ich stolz bin, wirklich stolz auf diese Gefangenschaft.
- Also sind es die Frauen ... Die Faszination dieser Welt. Ich kann sie Dir zu Füssen legen, so viele Du willst.
- Und was tue ich mit allen Frauen dieser Welt? Mein Herz verliebt sich nur einmal. Den Gedanken, mehr als eine Frau gleichzeitig zu lieben, halte ich für ein Traumgespinst.
- Du verwirrst mich. Was möchtest Du dann? Lindere meine Pein!
- Ich möchte, dass Du eine Frage beantwortest.
- Eine Frage? Beantworten? Welche Frage?
- Eine Frage, die ich mir gestellt habe und die sich andere Menschen vor mir auch schon gestellt haben. Wegen dieser Frage bin ich vor zehn Jahren auf eine Reise gegangen, um eine Antwort zu suchen. Und Du, Ifrit, bist eine der Stationen auf meiner Reise, an der ich hoffe, die Antwort auf meine Frage zu finden.
- Und wenn ich sie nicht kenne?
- Keine Sorge. Dann bist Du trotzdem frei. Ich möchte von Dir nichts anderes.
- Dann frag also!
- Wo ist das Glück? Das ist die Frage, um die und um deren Antwort sich das gesamte Leben auf unserem Planeten dreht. Jedes Jahr werden Millionen von Seiten darüber geschrieben und Tausende von Gedanken gefasst und ich denke, alle suchen nach der Antwort auf diese eine Frage. Armeen besetzen Staaten, um ihr Land zu vergrössern und ihre Reiche zu erweitern. Sie suchen nach Wohlstand. Aber warum? Auch sie suchen nach dem Glück. Für die meisten Völker liegt das Glück nur im Besitz und in der Verteidigung ihrer Häuser, Familien und Freunde, und das bis sie darüber den Tod finden.
- Und wieso wolltest Du einen Ifrit fragen?
- Diese Idee ist mir eines Tages gekommen. Wenn die Menschen die Antwort zu dieser Frage nicht finden, wieso sollte ich dann nicht jemanden fragen, der kein Mensch ist. Zum Beispiel einen Ifrit. Seit dieser Zeit bin ich auf dem Weg zu Dir ... und da bist Du nun!
- Ihr seid eigenartig, ihr Menschenkinder. Was geht nur in euren Köpfen vor? So ist die Schöpfung! Gepriesen sei der Herr! Und Du fragst mich, wo das Glück liegt? Eigenartig!
- Wieso das?
- Weil wir, die Gesellschaft der Dschinne, viel träger sind als ihr. Ihr dagegen habt euren Verstand, ihr könnt nachdenken, gestalten und erfinden. Der Schöpfer hat in euren Verstand alles gesteckt, was er zu geben hatte.
- Du weisst also auch keine Antwort? Trotzdem war dieses Erlebnis spannend. Und jetzt kannst Du wieder Deiner Wege gehen und ich werde meine Reise auf der Suche nach der Antwort fortsetzen.
- Darf ich Dich um etwas bitten? Darf ich Dich auf dieser Reise begleiten?
- Aber wie? Wir sind nicht gleich und können nicht gemeinsam auftreten. Öl vermischt sich nicht mit Wasser.
- Das stimmt. Aber ich habe eine Idee. Ich werde mich mit deinem Schatten, der sich hier auf dem Sand abzeichnet, vereinen, als wäre ich Dein Schatten. Ich werde nur beobachten und zuhören, bis ich verstehe und dann werde ich zurückkehren, um über das Geschehene zu berichten.
- Sei herzlich willkommen. Auf geht's!

Ende

Mohammed Megahed
Bern, 2009


Ifrite und Dschinne sind Geisterwesen aus der arabisch-islamischen Mythologie, die im Gegensatz zu den Engeln aus Feuer geschaffen wurden (Sure 15, 27). Oberbegriff ist Dschinn, diese teilen sich auf in verschiedene Klassen und Spezies von Geistern. Ifrite sind dabei die zweitstärksten - und damit auch die zweitgefährlichsten. Sie gelten gemeinhin als Rachegeister und sollen einen grossen Zerstörungstrieb besitzen. Laut den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht bestrafte Salomon widerspenstige Ifrite, indem er sie in Krüge sperrte. Sie herbeizurufen, kann ihnen körperliche Schmerzen bereiten.

Karim Farag
2009