21.11.00


In der Digital-Kunst zeigt sich eine neue, noch seltene Grenzfigur: der Programmierer-Künstler. Er ist der Meister der Relationen und Interaktionen, der if...then-Befehle und der objektorientierten Effekte. Er entwirft nicht Figuren, sondern Aktionen, und weil sein Medium die unsichtbare Schrift ist, Wörter und Zahlen, eignet sich sein Werk bestens für die Arbeit im Internet.
In besonders interessanten Fällen macht hier der Programmierer-Künstler den Betrachter zum Teilnehmer seiner Kunst, denn das Netz ist prädestiniert für interaktive Rezeption. Nicht zufällig nennt man den Betrachter im Internet "User", er wird begrifflich vom passiven Betrachter zum aktiven Bildanwender emanzipiert.
Aber es ist wohl auch kein Zufall, dass der Programmierer-Künstler und sein Tun bei den Kunstexperten noch öfters kunstbegriffliche Kopfschmerzen verursachen. In Kunstjuries wird er oft als Handlanger der Bildspezialisten bewertet, und auch bei Werken, in denen der User im Konstruktions- und Handlungsgerüst der Programmierung eigene Figuren entwickeln kann, wird der Kunstwert noch eher bild- als aktionsbezogen definiert. Deshalb arbeiten die Interaktionskünstler oft mit virtuellen Objektkünstlern zusammen. Sie bestätigen die aktuelle Tendenz zur Kollektivarbeit in der Kunst als Phänomen, das nicht modische, sondern strukturelle Gründe hat.


Sodaplay
Sodaplay ist das Produkt einer Londoner Gruppe von Künstlern, Architekten und Programmierern. Auf ihrer Site stehen Konstruktionswerkzeuge zur Verfügung, mit denen der Betrachter aus Linien und Angelpunkten Figuren entwerfen kann. Den Liniengebilden lassen sich "Muskelfunktionen" zuordnen. Man setzt sie in Bewegung, und sofort verwandeln sich die Dinge in Wesen, sie entwickeln ein Eigenleben auf der Stufe von mechanischen Wimpern- und Geisseltierchen. Im "Sodazoo" kann man solche Kreaturen betrachten und ausprobieren. Man packt sie mit der Maus an einem ihrer Gelenkpunkte und wirft sie "in die Luft". Die Gravität im weissen Fenster entspricht etwa der auf dem Mond, die Tierchen zappeln in Zeitlupe in die Höhe und fallen zurück, suchen nachfedernd nach einem prekären Gleichgewicht, knicken ein und können, wenn man sie zu grob behandelt, ernsthaft Schaden nehmen. Die Java-Programmierung von Sodaplay ist hoch intelligent, denn sie berücksichtigt physikalisch nachvollziehbare Interdependenz-Kräfte in der Reaktion auf Schleuder-, Schüttel- und Quetscheingriffe. Es entsteht der Anschein einer belebten Mechanik, welche beim Betrachter seinerseits primäre psychologischen Reflexe in Gang setzt: kleine Sadismen und Schadenfreuden, süss abgeschmeckt durch Mitleid gegenüber der (mal-)traitierten Kreatur.
http://www.sodaplay.com


Vectorama
Die Internetarbeit Vectorama der Schweizer Urs Lehni, Jürg Lehni und Raffael Koch besteht in einer Plattform, auf der mehrere Mitspieler aus einem breiten Angebot von Vektor-Grafiken ein gemeinsames Bild komponieren können. Da man die Arbeitsschritte der anderen Mitspieler in Echtzeit mitverfolgen und über ein Text-Eingabefeld mit ihnen auch verbal kommunizieren kann, ist der Spielprozess ebenso wichtig, wie die Bildmontage als Endprodukt. Doch es ist auch für Einzelspieler durchaus reizvoll, dem Bildarchiv eigene gelungene Kompositionen beizufügen.
Vectorama ist, was Konzept, Design und Programmierung betrifft, ein sehr raffiniertes Projekt. Seine Realisierung im Internet berücksichtigt als Multi-User-Plattform den Vernetzungsaspekt des Mediums, die Zusammenarbeit von drei jungen Autoren mit Kunst-, Grafik- und Programmierungskompetenz und ihre Idee, weitere Künstler zur Ergänzung des Figurenarchivs einzuladen, verdichtet zudem die Idee einer kollektiven Autorenschaft, im Produzenten- wie im Anwenderbereich. Vectorama lässt sich als eventbezogenes Kunstprojekt, als interaktives Spiel und als Prototyp für firmenspezifische Anwendungen verstehen. Es bewegt sich über Gattungsgrenzen hinweg und reflektiert damit den Crossover-Charakter des Mediums Internet. rest
http://www.vectorama.org