Marion Strunk



Zeige Deine Wunde - Zur Mode des Alexander McQueen



Die Mode, jenes Spiel des schönen Scheins, ist schon lange nicht 
mehr das, was sie war und sein sollte: Zeichen des Besonderen, den
Auserwählten auf den Leib geschnitten und wie angegossen den Körper
in Klassen und Geschlecht verweisend, zu Konsum und Überfluss
verführend; Haute Couture für die Idee der Eleganz und Würde, von
Luxus und Stil, Prêt-à-porter für einen individuellen Entwurf vom
schönen Leben, zur Schau gestellt auf den Bühnen der Welt.
Es scheint überholt, sich als Frau, Dame, Mann und Herr zu verkleiden, 
um die Ordnung der Dinge zu bestätigen. Die heutige Mode entzieht 
sich der Einordnung, das Trennende wird aufgehoben, die Grenzen
verwischt. Dreck und Schreck sind ins Revier gezogen und haben das
Schöne ins Hässliche gewoben, oder ganz nach oben gestellt, Low 
wird High und umgekehrt. Die Bühne ist öffentlich, die Strasse ein 
Laufsteg. Es geht nicht mehr nur darum, die Dinge schön zu finden, 
sondern auch sehr hässlich. Waren das Modell der Eleganz die 
Luxusfrauen der Welt der Träume, sehen die neuen Stoffe von Martine 
Sitbon so aus, als hätten sie eine Mottenattacke überlebt. 
Dolce & Gabbana verkaufen Herrenjacken mit Riss, Yamamoto wäscht 
die Sachen kraus, bevor er sie verkauft (schon in den 70ern),
Martin Margiela stülpt Saum und Naht nach aussen.
Das Verdrängte drängt ins Bild, unheimlich heimlich rückt der 
Schatten ins Licht. Im Schein zu scheinen, Star zu sein, verlangt
keinen Pudel mehr im Schoss, es kann auch eine Ratte sein. 
Die glänzende Plastik der Müllsäcke schmückt Piercing, Punk und
Peitsche; Pink, Green, Blue and Yellow das Haar. Drag Queens 
erinnern noch an die blendenden Bilder, die Mode als 
Synonym für Weiblichkeit bildete: das Juwel an seiner
Seite, ein Schein, der Sein ausstellt und den fetischisierten 
Kern des Begehrens immer wieder verkleidet. Die Drag Kings 
bleiben gleichermassen im Bild als Parodien der Geschlechter-
kategorien, die echter nicht wirken könnten in ihren Verkleidungen.
Die Mise en scène des Echten zeigt das Echte als Mise en scène. 
Die Welt des Scheins produziert das Reale als Effekt, Artefakte 
einer idealen Maskerade.
War die Mode-Avantgarde experimentell und auf den Schock aus, die 
Trends der Gegenkulturen absorbierend, ist mit ihr die Mode ein 
Erinnerungssystem geworden: Gedächtniskunst der Bilder, die sich 
wie Schuss und Gegenschuss im Film dramaturgisch an Dichotomien 
binden. Und wenn von einem Ende der Avantgarde gesprochen wird, 
da das Neue als das Noch-nie-Dagewesene moderne Fiktion bleibt, 
ist mit der Kritik an der Moderne und deren Idealisierungen die 
Mode das geworden, was Kunst sein will: die Darstellung der Zeit. 
Auch die Mode will das Zeit-Bild. Und in den Zeiten, in denen die 
Bilder sagen, dass sie Bilder sind und keine reportierte
Wirklichkeit, äussert sich auch die Mode in ihrem Begehren nach 
Idealität darin, sie zu ent-täuschen. 
Hat die Mode in der Moderne  die Frau  erfunden, kommt es in der
Mode nach der Mode  darauf an, das Bild zu dekonstruieren. Die 
Bilder bleiben nicht auf Totale eingestellt. Seitdem die Bilder 
switchen lernten, gibt es deren viele gleichzeitig und gleich 
gültig, ohne das einzig Wahre für Würde, Luxus und Stil 
favorisieren zu müssen. Wurde Mode mit der Integration des 
Hässlichen, Grotesken, Lächerlichen selbstdistanziert und 
selbstironisch, will sie in den 90ern vor allem das, was sie ist, 
zeigen: thematisierte Künstlichkeit. In den Selbststilisierungen 
stellt sie ein modisches Künstliches zur Schau, mit dem das 
kurzlebige Modische die ewige Schönheit der Dauer überholt: Glamour.
Verweile nicht, oh Augenblick, du bist nicht nur schön.
Das Offenlegen von dem, was ist, gleicht einem Bekenntnis zur 
Ambivalenz - dem modernsten Gefühl der Moderne - und zeigt 
gleichzeitig wie eine rhetorische Trope das heimliche Unheimliche 
im unbekannt Vertrauten der Mode: die Verletzbarkeit.
Die Mode des Alexander McQueen wagt die Umkehrung und bringt die 
Frage zur Darstellung, wie das Faktische im Fiktiven zur Rede kommen
kann. Ähnlich wie Benetton provoziert McQueen die Sehgewohnheiten 
des Wegschauens und Träumens zu einer Nahsicht auf die wunde Stelle. 
Das projekt tyre-track dress, die rote Rad-Spur mitten über den 
orangefarbenen Stoff, stellt das Kleid als Zeichen für die andere 
Seite des Glamours aus, für Körper, die nicht verhüllen. Das
verbotene, geheime Sehen auf das Verborgene, die Gewalt, den Kitsch, 
Trash und alles andere oder - wie im Film  Crash  von David
Cronenberg -  die Prothesen der Seelenlosigkeit. Seine Models 
tragen Gestelle und Krücken wie eiserne Rüstungen. Das Spiel 
mit der Metapher des Korsetts, der klassischen Enge, ist auf 
groteske Weise nach aussen gestellt zum coolen Tanz der 
Automaten. Dem  Birth of the Cool  folgt in den 90ern das  
Pulp Fiction(-Motto): Be Cool.  
Es gibt keine Form existentieller Rettung, das Versprechen wäre 
eine wenig freudvolle Fehlleistung. Das verdrängte Andere der 
Vernunft und Schönheit gähnt ein Loch in den brennenden Wunsch, 
ideal zu sein. Die Inszenierung des Realen wird zum kalten 
Spiegel, und aus dem Fetisch Frau wird eine, die vorübergeht, 
eine Passantin, eine Flüchtige. Sie muss ein Gegenüber geworden
sein - nicht mehr nur Objekt -, das macht sie gefährlich. Wenn 
die Mode jetzt schon Tacheles redet, dann hat sich doch etwas 
verändert in dieser Welt, und sei es für diesen Augenblick, der 
von dem Traum spricht, die Zeit zu zeichnen, darzustellen.
Die grundsätzliche Leere des Selbst und der Welt vermag kein 
Modell zu überwinden, die Figuren sind gefährdet und ausgesetzt. 
Sie können der Fragmentierung nicht entkommen, deshalb kann die 
Verletzbarkeit und die Verletzung gezeigt werden. Die Scham ist 
vorbei, die Macht der Verletzung zu verstecken und als 
narzisstische Kränkung geheimzuhalten. Diese Mode behandelt 
den Schein als Schein, will also nicht täuschen. Sie spricht
davon, die fiktive Welt als eine abwesende Realität anzusehen
und die Abwesenheit von Sein als Aktion für ein Begehren und 
eine Sehnsucht, die Zeichen setzt und sie in die Ungeduld der 
Wünsche verwandelt, für die es Laufstege gibt und Blutbilder.



Dank an Joseph Beuys, Barbara Vinken und die Modemagazine <<THE FACE>>
und <<i-D>>. 


veröffentlicht in: Kursiv: Blutbilder, O.Ö.Kulturzeitschrift LINZ, 4-3 /97