Marion Strunk

 

Die Wiederholung


In der Moderne gilt die romantische Anweisung, Kunst und alles
andere originell zu machen, mit anderen Worten: die Tradition
des Neuen.
Einerseits ist ein Verlangen nach dem unbedingt Neuen als dem
Noch-nie-Dagewesenen als Gegensatz zum Alten gesetzt, andererseits
wird das Streben nach Neuem gleichgesetzt mit utopischen Entwürfen
vom Besseren, Wahreren und Schöneren; die Glorifizierung des Neuen
bleibt an ein Kulturverständnis gebunden, in dem das Denken und die
Kunst die sogenannte Welt, wie sie ist, adäquat zu beschreiben oder
mimetisch genau darzustellen habe, um Wirklichkeit verstehen,
begreifen und verändern zu können; orientiert am Idealen.
Mit dem Scheitern der Grossen Entwürfe und der Kritik an der
Moderne, zeigte sich das Neue als Trugbild der bekannten
Absolutheits- und Einheitsansprüche.
Die postmoderne Philosophie priviligiert Heterogenität, Differenz
und Pluralismus: Wiederholung und Differenz sind an die Stelle des
Neuen und der Identität getreten. Alle Identitäten
(Einheitsvorstellungen)
gelten als simuliert und wie ein optischer Effekt durch das Spiel von
Wiederholung und Differenz erzeugt. Die postmoderne Kritik an der
Moderne versteht die Wiederholung, der Konkurrenz zum Neuen enthoben,
nicht mehr negativ, sondern setzt sie als positive Möglichkeit von
Handlung: Die Wiederholung als eine Tat der Differenz.
Das Wiederholen will ein Noch-einmal, doch dieses Wieder findet nie
zur selben Zeit statt, die Zeit selbst setzt einen Unterschied, und die
Wiederkehr wird Vergegenwärtigung, Vergangenes wird abwesend anwesend.
Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten hatte Freud (1914) gesagt. Mit
Lacan müsste dieses Programm heissen: wiederholen, erinnern,
durcharbeiten.
Die Wiederholung geschieht durch die Tat, mit der gleichzeitig
Erinnerung produziert wird. Lacan präsentiert (1953) Wiederholung als
Gegenstück zur Erinnerung: Das Erinnern setzt er als Imaginäres, die
Wiederholung hingegen als Symbolisches. Nicht im Rückgang auf imaginäre
Erinnerungen könne Verhalten und Handeln erklärt werden, sondern nur in
Bezug auf die Gesetze des Symbolischen, die sich in der Wiederholung
verwirklichen.
Das Wort: die Tat will die Aktivität betonen, die von Einzelnen ausgehen
kann, und appelliert an eine Handlung, die bewusst gesetzt wird:
Am Anfang war die Tat. Dass Handlungen nicht ausschliesslich als
bewusste Entscheidungen gefasst werden können, wird im Begriff des
Unbewussten aufgehoben. Für die Wiederholung ist letzteres interessant,
denn den unbeabsichtigten Wiederholungen, der scheinbar beständigen
Wiederkehr des Immer-Gleichen, scheinen die Einzelnen ausgeliefert zu
sein.
Freud sprach von einem Wiederholungszwang (1914), Lacan von einem
Wiederholungsautomatismus (1953). Beide wollen über die Erinnerung
Wiederholung gegenwärtig auflösen in die Tat, die Differenz schafft,
die einen Unterschied zum Wiederholten setzt und Anderes - in diesem
Sinn Neues - möglich machen soll. Die psychoanalytische Theorie des
Unbewussten impliziert auch eine Konzeption des Gedächtnisses: Für
Lacan ist es nicht nur ein Ort, auf den in Erinnerung zurückgegangen
wird. Das Unbewusste wird Schauplatz, von dem die Wiederholung als
>Vorwärtserinnern< ausgeht, und zugleich ist es der verschlossene Bereich,
den das Subjekt durch seine Erzählung wieder beleben kann.
In der Wiederkehr des Verdrängten insistiert das Symbolische. Es
wiederholt sich in der Erinnerung.
Schon Kierkegaard hatte (1843) die Unterscheidung von Wiederholung und
Erinnerung vorgeschlagen, denn beide machen die gleiche Bewegung, nur
in entgegengesetzter Richtung: "Wessen man sich erinnert, das ist
gewesen, wird rücklings wiederholt, wohingegen die eigentliche
Wiederholung sich der Sache vorlings erinnert."
Das Neue enthält den Unterschied, den die Einzelnen in der Wiederholung
machen; vermittelt über die Zeitlichkeit richtet sich die Wiederholung
auf etwas nicht Austauschbares. So wäre das Neue der Unterschied, den
die Wiederholung macht, wenn sie nicht Zwang und Trauma folgt, sondern
der Entscheidung, den Unterschied zu setzen. Das Andere beginnt in der
Wiederholung und folgt der Wahrnehmung von Differenz. Die Geste der
Wiederholung bringt also keine Kopie zum Ausdruck wie eine Reproduktion,
sie ist Darstellung einer Interaktion: Die Wiederholung thematisiert
Differenz, die Hervorbringung des Verschiedenen.
 
In der Auffassung von der Wiederkehr des Immergleichen werden die
Differenzen in Eines, undifferenziert in ein Ganzes ohne Variationen
aufgelöst und letztlich ins Destruktive gewendet, was ein Tod jenseits
von Leben und Narration ist. Um die Wiederholung konstruktiv zu halten,
wird das Moment des Verlustes anzuerkennen sein, das die Differenz
bedingt. Die Wiederholung holt nicht dasselbe wieder, sie erinnert
an das Gleiche, das eben nicht identisch ist, und zeigt damit auch
das auf immer Verlorene im Wiederfinden. Die Erinnerung wird zur
Trauer um den Verlust.
 
René Magritte, Ceci n'est pas une pipe,1928
 
Wiederholung lässt sich zunächst als eine äussere Ähnlichkeit oder
vollendete Äquivalenz repräsentieren: ein Gleichsein des Phänomens.
Nur: Dies ist keine Pfeife, es ist das Bild einer Pfeife. Das Bild
der Pfeife zeigt den Unterschied zur Pfeife: Das Zeichen, das auf
Äquivalenz abhebt, bleibt immer ein Zeichen. Und die gemalte Pfeife
ist nicht aus Holz.
Wenn Gertrude Stein (1935) sagt: "Existiert ein Ding wirklich, kann
es keine Wiederholung geben. Dann gibt es das Beharren das Beharren
das in einer Emphase nie ein Wiederholen sein kann, weil Beharren
immer lebendig ist und wenn es lebendig ist sagt es nie etwas auf die
gleiche Weise weil Emphase niemals die gleiche sein kann nicht einmal
wenn sie am meisten ist nämlich dann wenn sie erlernt worden ist" -
kann das an eine Arbeit von Giulio Paolini erinnern, die
Venusfiguren, und damit wird deutlich, welche Unterschiede
die Wiederholung macht:
 
Giulio Paolini, Mimesis, 1986
 
1. Die Wiederholung in der Gegenwart in Hinsicht auf die Gegenwart:
Die Wiederholung, zum Beispiel einer Venusfigur, zeigt im Augenblick
durch Verdoppelung andere Möglichkeiten des Sehens: die idealisierte
Schönheit, die Harmonie der Kräfte, der Kontrapost, wird Dialog, die
einsame Venus bekommt Gesellschaft, ihre Gesten kommunizieren.
Gegenwart will nicht das Eine, sie will viele Möglichkeiten, eine
Vielfalt der Wahrnehmung. Wiederholung nennt in der Gegenwart,
was Zeit ist: Zum Beispiel die Erfahrung von Scham, Schönheit und
Harmonie. Wiederholung treibt sich in der Zeit weiter, sie geht über
das hinaus, was sie wiederholt, indem sie die Zeiten zum Thema macht.
2. Die Wiederholung in der Gegenwart in Hinsicht auf die Vergangenheit:
Wiederholung ist Erinnerung, wieder holen von etwas, das war, durch
Zeitlichkeit. Im Gegenwärtigen wird das Wiederholte different; in
der Gegenwart ist Vergangenheit. Die Erinnerung zeigt: Frühere
Erfahrungen können wieder lebendig werden, und auch die Geschichte
kann sich wiederholen. Karl Marx sagt (1840): "Alle grossen weltge
schichtlichen Tatsachen und Personen ereignen sich sozusagen zweimal,
das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce."
So wäre das Bild der Venus als Bild der Frau eine Tragödie, in seiner
Verdoppelung eine Komödie.
3. Die Wiederholung in der Gegenwart in Hinsicht auf die Zukunft:
Wiederholung ist auf zukünftige Wiederkehr hin orientiert, zum Beispiel
eine dritte Venus, Zukunft kommt im Augenblick; eine Gegenwart, die
vorübergeht; ein Paradox: Gegenwart konstituiert Zeit, geht aber in
dieser konstituierten Zeit unter. Zukunft ist deshalb nichts
Unbekanntes.
Kierkegaard sagt (1843): "Wiederholung ist eine Erinnerung in Richtung
nach vorn. Die Zeitlichkeit ist der eigentliche Sinn der Wiederholung."
Die Zeitlichkeit gibt die Struktur vor.
Im Augenblick der Wiederholung, im Gegenwärtigen, zeigt sich der Unter
schied zum Wiederholten. Der Wiederholung wird die Differenz entlockt:
die Hervorbringung des Verschiedenen.
Im Handeln einen Unterschied machend, wird die Wiederholung
schöpferisch: andere Möglichkeiten, Vieles wird denkbar, sinnlich
erfahrbar, wird ästhetische Erkenntnis; oder wie Kierkegaard (1843)
sagt: "Wiederholung ist und bleibt in der Transzendenz."
 
Die Beachtung oder Betonung des Unterschieds nimmt in Begriffen wie
Zersplitterung, Fragment, Disharmonie oder Dissonanz die Gestalt des
Bösen an, die Lilien, Symbol der Reinheit, werden zur Peitsche.
Deleuze sagt (1968): "Denken macht den Unterschied, die Differenz
aber ist das Ungeheuer."
 
Cindy Sherman, untitled, 1993, #276
 
Differenz wird verflucht neben dem Ideal von Einheit/Gleichheit/
Harmonie/Schönheit; das Wahre, Gute und Schöne ist vom Hässlichen,
Disharmonischen, von allem sogenannten Bösen, feindlich abgegrenzt.
Die Betonung der Differenz als Projekt der Philosophie ist der Versuch,
Differenz von ihrem Fluch zu befreien und stattdessen als
Positivum zu setzen, den Unterschied nicht als Mangel, sondern vielmehr
als Gewinn zu begreifen und sensibel damit umzugehen.
Deleuze sagt (1968): "Wiederholen heisst sich verhalten, allerdings im
Verhalten zu etwas Einzigartigem oder Singulären, das mit nichts anderem
ähnlich oder adäquat ist. Die Spiegelungen, Echos, Doppelgänger gehören
nicht zum Bereich der Ähnlichkeit oder der Äquivalenz; und sowenig echte
Zwillinge einander ersetzen können, so wenig kann eine Seele tauschen."
Diane Arbus, People who think they look like other people, 1969
 
Abgeleitet von Wahrheit, Harmonie und Schönheit (Vollkommenheit)
bestimmt die Moderne die Ganzheitserfahrung einer Person als Identität,
was einen Dauerzustand des Immergleichen meint und die Person auf ein
Bild von sich festlegt: Ich bin immer Carmen; Ich denke, also bin ich.
Dauer als Ideal zu setzen, verneint Bewegung und Differenz als positive
Möglichkeiten von Erfahrung und bindet an eine Sehnsucht, die
Ent-Täuschung produziert. Diese Konstruktion von Identität wird mit der
Postmoderne de-konstruiert, als Trugbild gezeigt: Festlegung wird zur
Farce oder zum politischen Kalkül.
Ein Kunstwerk kann nicht durch objektive Bezugnahmen auf ontologische
Wesenheiten bestimmt werden, ein Werk konstituiert sich im Umgang.
Zum Beispiel die Appropriation.
Die Nachahmung - oder imitative Strategie - wird produktives Verfahren
der Anverwandlung, Aneignung, Besitzergreifung.
Gertrude Stein spricht vom menschlichen Geist als Kidnapping (1935).
Und dieses Prinzip in den Künsten angewandet, zeigt: Kunst ist
subjektive Interpretation, Täuschung, Übersetzung, also eine
Konstruktion. Die Wertbildungen basieren auf Bedeutungsbehauptungen,
und in den Geschmacksnormen realisieren sich Machtstrategien.
 
Sherrie Levine, Fountaine, After Duchamp, 1991
 
Wenn Duchamp (1917) sagt: "Auswählen ist eine Art des Schaffens",
- seine Readymades folgen dieser Strategie - so nimmt Sherrie Levine
diesen Satz ernst, mit ihren Readymades zeigt sie Kunst als Quelle
der Kunst. Eine Kopie, als Kunst konzipiert, stellt also die Frage:
Was ist ein Original? Und die Antwort lautet: ein Mythos.
Und so kann Sherrie Levine (1993) sagen: "Die alten Griechen glaubten,
dass sich das Wirken eines geordneten Kosmos in der Musik spiegelt. Es
herrschte die Vorstellung, dass durch die Bewegung der Sterne und
Planeten am Himmel Musik entstehe. Beim Betrachten der Ausstellung
werden Sie sich, wie ich hoffe, an diese Vorstellung erinnern und
vielleicht an das Schweigen von John Cage ebenso wie an Marcel Duchamps
Ikonoklasmus und Constantin Brancusis Idealismus."
Eine richtige Imitation zeigen nur die Doppelgänger in ihrer
Spiegelsehnsucht, sie betonen die Ähnlichkeit. In der Identifikation
mit verinnerlichten Bildern wiederholen sich die Bilder. Das Double
gibt sein Geheimnis preis: Die Wiederholung setzt nicht dasselbe oder
Ähnliches voraus, sondern erzeugt im Gegenteil selbst das einzige
Selbe dessen, was sich unterscheidet, und die einzige Ähnlichkeit
des Verschiedenen. Die Differenz gibt zu sehen, die Wiederholung
zu sprechen.
 
Anselm Kiefer, Besetzungen, 1969
 
Die Wiederholung von Bildern über Weiblichkeit oder Männlichkeit
verweisen auf ihre Konstruiertheit. Körper werden zu kulturellen
Effekten: zu Kopien ohne Original. Der Körper kann jedes mögliche
Körperbild inszenieren, ohne dass die Darstellung eindeutig als
Ausdruck eines natürlichen Geschlechts zu verstehen wäre. Eine
Kausalität zwischen dem anatomischen Körper und dem sozialen
Geschlecht lässt sich mithin als Fiktion beschreiben, das heisst,
jede Wiederholung etablierter Geschlechternormen ist nicht deren
identische Reproduktion, sondern deren Transformation.
Judith Butler sagt (1991): "Freilich kann der Verlust des
Normalitätsgefühls selbst zum Anlass des Gelächters werden, besonders
wenn sich das <Normale> oder das <Original> als Kopie erweist,
und zwar als eine unvermeidlich verfehlte, ein Ideal, das niemand
verkörpern kann. Die Parodie an sich ist nicht subversiv. Also muss
es eine Möglichkeit geben zu verstehen, wodurch bestimmte Formen
parodistischer Wiederholung wirklich störend bzw. wahrhaftig
verstörend wirken und welche Wiederholungen dagegen gezähmt sind
und erneut als Instrumente der kulturellen Hegemonie in Umlauf
gebracht werden."
 
Catherine Opie, Bernie, 1993
 
Phänomenologischer Kleidertausch wird zur parodistischen
Wiederholung und Subversion der Einzelnen, Geschlecht als
kulturellen Effekt vorzuführen, und markiert gleichzeitig
eine Subjektposition: In der Wiederholung lernt die
Form das Leben, das, was es heisst, in der Gegenwart die
Vergangenheit zur wiederkommenden Zukunft zu machen.
Wiederholung wird zur "Erinnerung in Richtung nach vorn."
Nur, sie treibt nicht das Eine voran, auf Eines zu, zum
Einen hin als Subjekt und Objekt; sie legt nicht fest,
sondern eröffnet Dimension und Vielfalt.
Deleuze sagt (1968): "In einer Kunst der Folgen und des
Abstiegs, der Schwebe und des Falls muss die Tatsache,
dass Wiederholung in dieser Schwebe und in jedem Aufstieg
auftaucht, so begriffen werden als ob sich die Existenz
selbst erneuern würde, sobald sie nicht mehr dem Zwang
der Gesetze folgt."
Die Wiederholung kann Sache des Humors werden und der
Ironie: Sie ist ihrer Natur nach Überschreitung, Ausnahme.
Und so behauptet sie immer eine Singularität gegen die
dem Gesetz unterworfenen Allgemeinheiten.
 
Guerilla Girls, New York, 1990ff.
 
Eine ganz besondere Spielart der Wiederholung ist das erneute
Holen im Sinne von Klauen, was allgemein im Verborgenen
stattfindet und nicht laut gesagt wird; genaugenommen
entspricht dieses Wiederholen der Appropriation, es kommt aber
meist nicht als Artefakt daher, vielleicht als Subversion,
vielleicht als notwendiges Übel. Als Geste der Manie des wieder
Holens zeigt es, wie Zwang und Drang zur Aneignung eigentümlich
fortschreiben, was alle wissen: Personen, schreibende, malende,
filmende, musizierende und alle anderen eignen sich Gedanken
und Ideen an, machen Dichtungen, verdichten und verlieren dabei
die Anführungszeichen. Wer von Wahrheit spricht, simuliert.
Und Simulieren heisst, ein Wagnis eingehen, als wäre es - ganz
appropriativ - das Schönste. Drum: Klaut Ideen und verschenkt
die besten!