Zsuzsanna Gahse

DIE DETAILS BEI ANNA MARGRIT ANNEN
(Die Zusammensetzung der Weile)

An einem Donnerstag, bei Tagesanbruch, ging das Mädchen zum Fluss hinab, um
sich Hände und Beine zu waschen, da hat das schnelle Wasser ihr die Seife
entrissen. So heisst es in einem (östlichen) Lied, und das Lied hat jemand
wohl eigens für Anna Margrit Annen verfasst, denn ihrerseits hat sie ein
Buch mit Titel herausgegeben: "Was macht die Kunst am Donnerstag?" In diesem
Buch mit fünf Interviews fragt sie danach, welche Positionen die Kunst in
und mit unserer beschleunigten Zeit einzunehmen vermag. Der Donnerstag steht
für einen bestimmten Zeitpunkt innerhalb der schnell fliessenden Zeit – und
die lyrische Seife, die kaum jemand wieder einfangen kann, ist womöglich ein
Stück unserer gar nicht lyrischen, sondern aktuellen Schnelligkeit. Ein
Stück. Also lässt sich das Tempo gliedern. Es gibt ein Dann und Dann und
Dann, und aus den einzelnen Dann-Gliedern setzt sich die grosse Gesamtzeit
zusammen.
Stücke, Teile, Glieder, Abschnitte sind Elemente, mit denen Anna Margrit
Annen abwechslungsreich spielt. Spielt sie, oder ist sie eher ernst, wenn
sie Donnerstag sagt? Oder wenn sie Leuchtstoffröhren in unterschiedlichen
Längen am Boden auslegt und damit den Raum (in Wil) neu beschreibt, neu
ausleuchtet. Wenn sie in einer Video-Performance ein Stück Papier faltet und
dabei für Sekunden der Eindruck entsteht, als wollte sie auf die bekannten
Papierschiffchen hinaus, dann faltet sie schnell weiter, gewissermassen wie
das Blatt Papier es will, wie es ihre Hände wollen, um schliesslich das
gefaltete Ding sorgsam zusammenzunähen. Im Video sind nur vier Elemente zu
sehen: ihre zwei Hände auf dem Tisch, die Nadel und vor allem das zu nähende
Stück Papier. In diesem Fall hat sie sich mit Hilfe von zwei (Stück) Händen
auf ein Einzelstück , auf das Papier reduziert, und dieses reduzierende
Nähen wirkt traurig und spielerisch und ernst zugleich. Es wirkt, als würde
sich die Zeit verlangsamen. Witzig (und das heisst geistreich) ist es schon,
wenn eine Künstlerin einerseits auf die bescheunigte Zeit nachhaltig
hinweist, andererseits die Zeit zu verlangsamen vermag.
Gliedern kann Anna Margrit Annen bei allen ihren Wahrnehmungen, sie ist eine
Fachperson für Gliederungen, und zwar nicht für die Zer-, sondern für die
Zusammengliederung. Für Verkettungen, bei denen sie die Kettenteile sichtbar
macht. So ist es auch bei den schon erwähnten Leuchtröhren: sie zeigen neue
Umrisse, eine neue Begehbarkeit des Raumes, spielen aber auch als einzelne
Röhren eine Rolle und wollen betrachtet werden. Auch einzeln haben sie
besondere Eigenschaften. Sie erinnern sich an etwas. Mit ihren Massen
erinnern sie sich an den Goldenen Schnitt. (Die insgesamt 15 Röhren sind 55
cm, 89 cm und 144 cm lang). Etwas Ähnliches passiert auch in Annens
Acrylbildern, die skizzenhaften Striche in diesen Bildern erinnern sich
ebenfalls: an Einrichtungsdetails, die in einer Wohnung zu sehen waren, zu
sehen sind. Neben und übereinander reihen sich die Umrisse dieser
Gegenstände, und die Erinnerung an die Wohnung ist nur eine ihrer Aufgaben,
denn die Detaills haben sich im Bild zu etwas Neuem organisiert. Teile, die
sich selbst organisieren! So ist es auch mit den Zeitteilen, die sich bei
Annen zu einem spürbaren Tempo zusammenschliessen. Nicht auf die Gesamtzeit,
sondern auf das Tempo kommt es dabei an (während der Fluss - am Donnerstag -
dem Mädchen die Seife entreisst).
Zsuzsanna Gahse, April 2000
Katalogtext zur Ausstellung "hellblau ist dabei" von Anna Margrit Annen in
der Kunsthalle Wil 9.4. bis 14.5.2000