Barbara Basting

Denken im Internet: Dr. Grethers Welt



Das Internet ist das erste Massenmedium, das zeitgleich zu seiner Entstehung zu einem Thema der Wissenschaften geworden ist. Während Fotografie, Film und Fernsehen, Radio oder Telefon und deren kulturverändernde Rolle erst mit einiger Verzögerung der theoretischen Analyse für würdig befunden wurden, fehlt es beim Internet neben den Kritikern, die jedes neue Medium auf den Plan ruft, nicht an Analytikern und Kommentatoren, die aus dem Stand heraus Medienfolgenabschätzung betreiben. Inzwischen gibt es international sogar schon eine ganze Reihe von Institutionen, die sich als Plattformen für die entsprechenden Forschungsbemühungen verstehen. Die "Association of Internet Researchers" ("a(o).i.r", http://aoir.org), die von Stephen Jones von der University of Illinois, Chicago, koordiniert wird, hat im vergangenen Herbst ihre erste Konferenz im realen Raum abgehalten. Redner wie der in Berkeley lehrende Soziologe Manuel Castells, Autor des Standardwerks "The rise of the network society", stellten sich der Frage, ob das Internet ein privilegierter Ort für interdisziplinäre Forschungen sei.

Die meisten Netzknotenpunkte, die wie die AOIR ökonomische, soziologische, kulturwissenschaftliche oder ästhetische Analysen und Debatten zum Internet bündeln, sind an amerikanische Universitäten angegliedert. In Deutschland gehören bisher vor allem einige Graduiertenkollegs oder Sonderforschungsbereiche zur Vorhut. Sie sind aber in ihrer Ausrichtung meist eng auf die traditionellen Fächer fixiert. Als transeuropäisches Programm wäre "Changing Media - Changing Europe" (200-2004) zu nennen, das die European Science Foundation ins Leben gerufen hat.

Derlei erfährt man aus dem visionären Projekt eines Einzelkämpfers, des zur Zeit an der Universität Konstanz lehrenden Kultur- und Sozialwissenschaftlers Reinhold Grether. Seit vergangenem Herbst ist seine Homepage www.netzwissenschaft.de zugänglich. Sie erscheint zunächst als teilweise kommentierte und ständig aufdatierte Bibliographie der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem und im Internet. Grether, besessen von der Idee, dessen Architektur, Topographie und Möglichkeiten zu erfassen, ist seit 1994 acht bis zwölf Stunden täglich im Netz unterwegs. Seine Homepage bietet einen Fundus von hohem Gebrauchswert. Wer sich einen Eindruck von der wissenschaftlichen und – das ist eine der Besonderheiten der Seite - künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Internet verschaffen will, ist hier an einer guten Adresse. Denn Grether erfaßt mit seinen über 2500 Links nicht nur Institutionen oder Kongresse, sondern auch Literatur zum Thema. Eine weitere Liste macht mit international profilierten Forschern und Publizisten in Netzsachen vertraut.

Doch www.netzwissenschaft.de ist wesentlich mehr als der harmlose Gratis-Bibliographierdienst eines Internet-Fanatikers. Dies signalisiert schon die Startseite, die einen Lastwagen mit aufgebockter Riesen-Kettensäge zeigt, auf der in fetten Lettern "Dr. Grether" zu lesen steht. Die Fahrerkabine schmückt der Name "etoy", ein Hinweis auf Grethers Verbindungen zu der mittlerweile international berühmten Künstlergruppe. Sie hat im von ihr gewonnenen Streit um den Domain-Namen gegen den Online-Spielzeughändler "eToys" jüngst ein Exempel statuiert: Im Internet gehört eine "Domain" dem, der sie zuerst besetzt - und nicht dem, der die ökonomische Macht hat, sie dem Schwächeren abzunehmen. Reinhold Grether, der auch Ökonomie studiert hat, war als "etoy-Agent Nasdaq" maßgeblich an der Mobilisierung einer internationalen Internet-Gemeinde in einem Cyber-Territorialkampf beteiligt, den er wohl nicht völlig zu Unrecht als "historisch" bezeichnet.

Daß Grether die Provokation liebt, macht auch der Begrüßungstext seiner Homepage klar: "Hier geht's um die Weltrevolution der Netze", liest der Besucher. Weniger martialisch präsentiert sich das Abstract der im Alleingang ausgerufenen Wissenschaft: "'netzwissenschaft.de' erschließt die Infrastruktur einzelwissenschaftlicher Forschungen zum Internet und gibt dadurch Wissenschaft und Öffentlichkeit einen Überblick über die Internet-Forschung im ganzen. Indem Netzwissenschaft streng vom Netz her denkt, kann sie gegenüber den nicht am Netz gewonnenen, nun aber auf das Netz übertragenen einzelwissenschaftlichen Methodologien eine kritische Korrekturfunktion übernehmen."

Hier wird Grethers Anspruch sichtbar, parallel zur schon bestehenden, aktivistisch orientierten "net.art" eine "net.science" zu begründen. Den traditionellen Geisteswissenschaften in ihrer jetzigen Form attestiert Grether eine katastrophale Verspätung und mangelnde Aufgeschlossenheit gegenüber den Herausforderungen durch die neuen Kommunikationsformen des Internet. "Die Geisteswissenschaften und das Buch sind keine Kulturträger mehr", diagnostiziert er lapidar. Ihre Vertreter arbeiteten altertümlich "handwerklich", kämen über die Entwicklungsstufe von Schrift und Druck nicht hinaus und seien damit schlicht "technologische Analphabeten". Grether schreckt vor harschen Worten nicht zurück: Die Geisteswissenschaften wie auch die Universität insgesamt befänden sich "im Zustand der Verwahrlosung".

Dabei ist er nicht so naiv zu meinen, im Netz allein liege die Zukunft des Geistes. Auch muß ihm klar sein, daß weder seine scharfsinnigen Analysen und seine fast agitatorische Ungeduld noch www.netzwissenschaft.de eine Revolution auslösen können. Seine Homepage möchte man am ehesten symptomatisch verstehen: Hier sieht einer, daß sich Entwicklungen anbahnen, deren Potential zur Umwälzung herkömmlicher Formen des geisteswissenschaftlichen Denkens und Kommunizierens noch kaum erkannt wird. Daß sein fiebriges Projekt von den Fakultäten mit Mißtrauen beäugt wird, spricht nicht unbedingt gegen dessen Originalität und Pioniergeist.


barbara.basting@bluewin.ch