Barbara Basting

Die unbequeme Nähe des Digitalen


Parallel zur rasch wachsenden Zahl künstlerischer Arbeiten, die sich digitaler Medien bedienen, mehren sich die Theoriebeiträge, die Elemente einer digitalen Ästhetik zu definieren versuchen. Die Einsicht setzt sich durch, dass eine solche Ästhetik kaum sinnvoll möglich ist ohne die Reflexion der technologischen Rahmenbedingungen (beispielsweise Software, Speicherkapazitäten, Bandbreiten). Deren Einfluss auf die künstlerische Arbeit, selbst wenn diese kritische Distanz zur Technologie zu halten versucht, sind weitreichend. So lässt sich etwa beobachten, dass das Aufkommen von Bild-, Animations- und Sounddateien die Grenzen zwischen den traditionellen Genres und Gattungen verwischt.
Die australische Medienwissenschaftlerin Anna Munster meint zwar, der Begriff des Digitalen sei durch inflationären Gebrauch abgenutzt; und die üblicherweise angeführten Standardkategorien digitaler Ästhetik wie Virtualität oder Interaktivität qualifiziert sie als zu wenig spezifisch für computergenerierte Kunst. Aber auch sie plädiert nachdrücklich dafür, dass jede Analyse dieser Kunst bei einer Untersuchung ihrer technologischen und damit meist impliziten Produktions- und Rezeptionsgegebenheiten ansetzen muss. Diese gelte es herauszupräparieren. Die entscheidenden Kategorien einer digitalen Ästhetik seien weder der "Stil", das "Medium" oder die formalen Qualitäten der jeweiligen Werke, sondern die durch den "Computer als Apparat" neu definierte "Arena der Sinneswahrnehmungen". Das Flimmern des Bildschirms gehört ebenso dazu wie die Geschwindigkeiten und Verzögerungen, die der Computer und das Internet diktieren.
In ihrem nur online publizierten Aufsatz "Digitality - approximate aesthetics" (www.ctheory.com - Theory, Technology and Culture Vol. 24, No. 1-2, Article 93, März 2001) schlägt Munster "proximity" als zentrale Kategorie einer solchen Ästhetik vor. Diese "Nähe" mache sich vor allem bei der kategoriellen Umstrukturierung etablierter räumlicher und zeitlicher Wahrnehmungsmuster durch den Computer bemerkbar. So vermittelt beispielsweise das Betrachten von Netzkunst am eigenen Computer eine spezifische "Erfahrung virtueller Nähe".
Eine Dimension dieser digital erzeugten Nähe arbeitet Munster am Beispiel von Graham Harwoods Netzkunstarbeit "Uncomfortable Proximity" heraus, die als Auftragsarbeit auf dem Server der Tate Gallery läuft. Harwood, Mitglied der für ihr kritisches Engagement bekannten britischen Netzkunstgruppe Mongrel, hat eine Seite entworfen, die als eine Art Mimikry der offiziellen Tate-Seite funktioniert und auch von dieser aus zugänglich ist (www.tate.org.uk/webart/mongrel/home/default.htm). Gezielt setzt er auf eine Art Spiegelungseffekt, der sich nicht in einer Parodie der offiziellen Seite erschöpft, sondern eben jene "unbequeme Nähe" schafft, die nur auf der homogenisierenden digitalen Bildfläche möglich ist. So finden sich auf Harwoods Seite Bilddateien der in der Tate ausgestellten Gemälde von Turner, Gainsborough oder Hogarth. Sie nehmen den heutigen Standard technologisch hochgerüsteter Museumswebsiten auf, die mit digitalen Reproduktionen von Kunstwerken werben. Allerdings hat Harwood Ausschnitte der reproduzierten Gemälde mit viel besser aufgelösten Fotografien seiner eigenen Körperteile oder mit Aufnahmen von Schlamm aus der Themse zusammengeschnitten. Die sonst eher zur Herstellung einer perfekten, nahtlosen Cyber-Illusion verwendeten digitalen Manipulationsverfahren werden bei ihm zu verstörenden, verwirrenden Bildhybriden. Sie weisen auf jene Realitäten hin, die ein kanon- und geschmackbildende Institution wie die Tate ausschliesst, und greifen zugleich die Utopie des perfekten digitalen Bildes an.
Am Ende ihrer differenzierten Untersuchungen kommt Munster zu dem Schluss, dass die bemerkenswerteren Kunstexperimente mit neuen Medien eine Ästhetik zum Ziel haben, die jene Aspekte des Digitalen, die unseren Alltag zunehmend bestimmen, einerseits überhaupt erst thematisiert, um sie dann kritisch zu brechen.
Wie treffend ihre Kategorie der "Nähe" für den Cyberspace in anderer Hinsicht ist, zeigt sich daran, dass Munsters Beitrag allen Subskribenten von "Ctheory" online und gratis geliefert wurde. Die in Kalifornien 1993 von den jetzigen Herausgebern Arthur und Marilouise Kroker gegründete Netzine existiert nicht als Druckprodukt. Das trifft inzwischen für einen nicht unwesentlichen Teil der avanciertesten Medien- und Technologiedebatten zu. Mit grosser Selbstverständlichkeit überwindet Ctheory sämtliche traditionelle Grenzen des akademischen Diskurses, solche von Fakultäten ebenso wie von Nationen. Das Herausgebergremium versammelt neben Medientheoretikern von Jean Baudrillard bis Siegfried Zielinski mehrere prominente Medienkunstschaffende wie Lynn Hershman oder Stelarc.
Nicht nur die Verflechtung von ästhetischer Theorie, Kunst und Politik - so sind zahlreiche Beiträge zum Krieg auf dem Balkan auf Ctheory zu finden - gehört zu den Charakteristika der engagierten Netzkultur, wie sie dieses Online-Journal exemplarisch verkörpert. Ein Blick auf die umfangreiche und beeindruckende Backlist zeigt, dass neben den gesellschaftlichen Auswirkungen der Informationstechnologien seit geraumer Zeit die kritische Erörterung der gesellschaftlichen Folgen der Biotechnologie und namentlich des Humangenom-Projekts auf der Traktandenliste von "Ctheory" steht. Ab Juni soll eine Online-Multimedia-Präsentation mit dem Titel "Tech Flesh" Medienarbeiten vorstellen, die die Biotechnologie kritisch unter die Lupe nehmen. Denn deren "Infotech-Ideologie", die den genetische Code für genauso umstandslos mutierbar hält, wie die digitalisierte Information manipulierbar ist, erscheint heute als der bei weitem unheimlichste Aspekt der Nähe des Digitalen.