Barbara Basting

Einmal fuhr Mao sogar im Jeep vorbei

Maos Kulturrevolution (1966-1976) hat China tief erschüttert. Der Fotograf Li Zhensheng hat es riskiert, den Terror dieser Zeit zu dokumentieren. Erst jetzt sind seine Aufnahmen aufgetaucht.


Über dem Boom der künstlerischen Fotografie in den letzten Jahren ist in den Hintergrund geraten, welch enorme Bedeutung die Fotografie als Zeitzeugnis haben kann. Eine Ausstellung in Paris ruft dies nun machtvoll in Erinnerung zurück. Der 1940 geborene chinesische Fotograf Li Zhensheng, der während der Jahre der maoistischen Kulturrevolution von 1966 bis 1976 Fotoreporter bei einer Lokalzeitung in Harbin im Norden Chinas war, hat damals nicht nur die offiziell erwünschten Bilder von Parteiversammlungen und aus der Arbeitswelt geliefert. Er hat das kontingentierte Filmmaterial auch dazu benutzt, um die Schrecken der Kulturrevolution festzuhalten, die Denunzierungen und Exekutionen ebenso wie die Zerstörung von Kulturgütern. Die Negative dieser Bilder - insgesamt sollen es 60 000 sein - hat er damals, um sich nicht selber zu gefährden, beiseite geschafft. Sorgfältig beschriftet, einzeln in Pergamin verpackt und thematisch gebündelt, rettete er das Material unter einer Holzdiele seiner Wohnung über die Jahre des Terrors hinweg. Die Negative wurden zwar von den Behörden nicht entdeckt. Aber allein schon die Denunziationen von Kollegen, die Li beim Fotografieren beobachtet hatten, genügten, um ihm zwei Jahre «Umerziehung», also Zwangsarbeit auf dem Land, zu bescheren. Es hätte schlimmer kommen können.
Im relativ liberalen Jahr 1988 konnte Li einige dieser Bilder in Peking erstmals ausstellen. Dort sah sie Robert Pledge, der Leiter der New Yorker Fotoagentur Contact. Nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung im Juni 1989 verhärtete sich das politische Klima in China wieder. Erst ab 1996 wagte es Li, etwa die Hälfte der Negative portionenweise nach New York zu schicken. Er begann mit den «harmloseren» Sujets und liess, als diese passierten, die «negativsten Negative» folgen. Die Kulturrevolution wurde nach Maos Tod heftig kritisiert. Obwohl das chinesische Regime der Zeit inzwischen distanziert gegenübersteht und das Land sich vor allem in den 90er-Jahren allmählich geöffnet hat, ist man von einer systematischen Aufarbeitung noch weit entfernt. Der im Juli dieses Jahres 93-jährig verstorbene Ex-Vizepremier und Verteidigungsminister General Zhang Aiping steuerte zur Kritik eine Kalligrafie bei. Ihr Wortlaut ist orakelhaft: «Lassen wir die Geschichte die Zukunft erzählen. Die fotografische Erzählung Li Zhenshengs über die Kulturrevolution.» Zhang, der sich bereits im Zweiten Weltkrieg und im Koreakrieg einen Namen gemacht hatte und später am chinesischen Atomwaffenprogramm beteiligt war, gehörte selbst zu den Opfern der Kulturrevolution. Als angeblicher «Konterrevolutionär» verlor er nach 1966 alle Posten, bis er 1973 wieder rehabilitiert wurde. Er galt als politischer Reformer und wandte sich 1989 gegen den Einsatz der Armee gegen die Protestbewegung.
Pariser Hôtel de Sully. Das ist zwar nicht gerade ein klandestiner Ort, sondern das Ausstellungslokal der staatlichen Institution Patrimoine photographique. Aber es ist doch weniger prominent als etwa das Centre Pompidou. Dort bereitet man sich derzeit auf das «Jahr Chinas in Frankreich 2004» vor. Unter dem Titel «Alors, la Chine» wird ein spannendes Kaleidoskop aus Fotografien, Filmen, Kunstwerken und Bildern präsentiert. Es bietet Einblicke ins aufstrebende heutige China. Obwohl auch die Schattenseiten des Turbowirtschaftswachstums gezeigt werden, scheinen hier die Gewalttaten der Kulturrevolution weit entrückt. Darüber sollte man nicht vergessen, dass beispielsweise Bilder von den desaströsen Verhältnissen in der chinesischen Psychiatrie von einer Fotoagentur wie Magnum nach wie vor anonym vertrieben werden müssen.

Ein einzigartiges Bildarchiv
Die französische Presse hat das nun publik gemachte, geheime Fotoarchiv Li Zhenshengs gebührend als das gewürdigt, was es ist: eine kleine Sensation. Schon jetzt ist klar, dass es sich hier um Bildmaterial von unschätzbarem Wert für künftige Generationen und Historiker handelt. Dies umso mehr, als die Historiografie sich in den letzten Jahren immer mehr auch visuellem Quellenmaterial zuwendet. Zudem sind die Schwarzweissaufnahmen, auch wenn dies angesichts ihrer historischen Bedeutung zweitrangig sein mag, von hoher fotografischer Qualität.
Li hatte eine Ausbildung an der Film- schule Changchun (Jilin) genossen, die 1962 in eine Schule für Fotojournalismus umgewandelt wurde. Lis Sinn für Komposition, auch für die effektvolle Darstellung von Massen, etwa durch Panoramen, die aus mehreren Einzelaufnahmen zusammengesetzt sind, ist unübersehbar. Hier sind auch die Grenzen zur Propagandafotografie, für die er auch zuständig war, fliessend; es wird die Aufgabe genauerer Analysen sein, festzustellen, wo und wie Li den vorgegebenen Rahmen sprengte.
Ganz klar ist es in den Fällen, wo der Fotograf seine Rolleiflex auf Misshandlungen und Verwüstungen richtete. Er fotografiert die zerstörten Bibliotheken, Bücherverbrennungen und geschändete buddhistische Kultstätten. Er zeigt den «reichen» Grundbesitzer, der vor einer grossen Versammlung angeprangert wird, aus nächster Nähe, sodass der Blick sofort auf seine völlig zerlumpte Kleidung fällt. Kann man eine absurde Anklage deutlicher widerlegen? Er nimmt während eines Volkstribunals ein Stillleben mit vier abgenützten Handtaschen und drei billigen Uhren auf. Es handelt sich hierbei um Beweisstücke, die eine «wohlhabende» Bäuerin überführen sollen. Li hält die schwangere Frau fest, die bei Zwangsarbeiten zwecks Umerziehung auf dem Land einen schweren Eisblock auf der Schulter trägt. Er zeigt eine Exekution in all ihren Stadien. Und als es ihm einmal sogar gelingt, den im Jeep daherfahrenden Mao aufzunehmen, der sich nur höchst selten dem Volk zeigte, sorgt der Zufall für die tiefere historische Ironie dieses Bildes: Die steife Brise, die die Bäume am Strassenrand beugt, bläst für einmal auch dem Grossen Führer ins Gesicht.

Die Physiognomie des Totalitarismus
Li Zhenshengs Ausstellung und das informative, sorgfältig gemachte Katalogbuch, das mit seinem roten Plastikeinband fast ein bisschen zu kokett die «Mao-Bibel», die chinesische Einheitslektüre der Sechzigerjahre, zitiert, zeigen auf dramatische Weise, welch hohen Preis die Kulturrevolution den Chinesen abgefordert hat. Die Konfrontation mit diesen Bildern ist besonders bewegend, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass Mao gerade während der 68er-Revolte und vor allem in Frankreich zu einer Leitfigur wurde; auch die Popkultur erwies ihm - man denke an Andy Warhols Mao-Porträt - Reverenz.
In der Bildauswahl wird weniger der Blutzoll sichtbar als die Physiognomie einer totalitären Kampagne, die in ihren Anfängen von vielen Chinesen - darunter auch Li Zhensheng - noch begrüsst wurde. Anders wäre es wohl kaum möglich gewesen, dass die Rituale der Denunziation und der anschliessenden Selbstbezichtigung, wie man mit Erstaunen feststellt, vor grossen Menschenansammlungen in aller Öffentlichkeit stattfanden. Auch die Willkür dieser Tribunale kann man an den Bildern ablesen: So wird ein Bauer angeklagt, weil seine Frisur derjenigen Maos zu sehr ähnelte, und dann wild verunstaltet. Das ist die eine Seite der Idolatrie. Die andere wird sichtbar, wenn man - anhand der parallel gezeigten Bilder, die Li für die Zeitung machte - sieht, wie Li vorteilhaftere Mao-Porträts in die Aufnahmen hineinretuschieren musste. Li berichtet in seinen im Katalog abgedruckten Erinnerungen, dass er eine ganze Kollektion von Mao-Porträts für solche Retuschierzwecke besass.
Der in Paris lebende chinesische Sozio- loge Zhang Lun schreibt in seiner soeben erschienenen Studie «La vie intellectuelle en Chine depuis la mort de Mao» (Fayard, Paris 2003), es sei unter Historikern bis heute nicht abschliessend geklärt, warum China in dieses zerstörerische Chaos gestürzt sei. Einigkeit besteht nur über die unberechenbaren Folgen der Kulturrevolution. Die wichtigste war, dass sie die Legitimität von Maos totalitärem Regime in Frage gestellt und damit letztlich den - trotz zum Teil massiver Menschenrechtsverletzungen - bis heute anhaltenden Reformprozess ermöglicht hat. Die Motivationen der diversen Akteure aber bleiben, so Zhang Lun, noch zu analysieren. An Erklärungen - sie führen wahlweise parteiinterne oder soziale Konflikte an - und Interpretationen mangelt es nicht. Li Zhenshengs Fotografien erklären zwar nicht. Aber sie ergänzen das Bild, das die wechselnde chinesische Propaganda und die Historiker bisher von einer zentralen Episode der neueren Geschichte vermittelt haben, um eine wesentliche Dimension.


«Li Zhensheng, un photographe chinois dans la révolution culturelle», Paris, Hôtel de Sully, bis 21.September 2003. Publikation: «Le petit livre rouge d'un photographe chinois», Phaidon. Die englische und deutsche Version folgen im Oktober 2003.

Text erschienen in: Tages-Anzeiger Zürich, 2003-07-29; Seite 2




Historischer Hintergrund:

Chinas Kulturrevolution
Die «Grosse proletarische Kulturrevolution» in China begann am 16. Mai 1966, als eine radikale Gruppe um
Mao Zedong zum Klassenkampf innerhalb der Kommunistischen Partei aufrief. Mit der Verhaftung der so
genannten Viererbande im Oktober 1976 - einen Monat nachdem Mao gestorben war - endeten die «zehn
dunklen Jahre des Chaos», wie diese Epoche heute genannt wird.
In ihren Denunziationen und Hinrichtungen kulminierte die Brutalität des totalitären Regimes von Mao, das
1949 begonnen hatte. Der Kulturrevolution gingen diverse Kampagnen voraus. In den ersten Jahren
richteten sie sich vor allem gegen Funktionäre und Anhänger der vertriebenen nationalistischen Kuomintang
ebenso wie gegen Grundbesitzer und Privatunternehmer. Der anfängliche wirtschaftliche Aufschwung schien
diese Massnahmen zu legitimieren. Doch der Versuch, das bäuerliche China 1958 im «Grossen Sprung
nach vorn» mit einem Schlag zu kollektivieren und gleichzeitig in die vorderste Front der Industriestaaten zu
katapultieren, scheiterte. Die Folge war die grosse Hungersnot Anfang der 60er-Jahre, die mehr als 20
Millionen Todesopfer forderte.

Der Terror der Roten Garden
Darauf machte sich Mao daran, seine Gegner in der KP auszuschalten. Jugendliche Rote Garden zogen
durchs Land, Lehrer und andere Intellektuelle wurden als «Stinkende neunte Kategorie» des revolutionären
Klassensystems öffentlich erniedrigt. Mancherorts stürmten Revolutionsgruppen die Waffendepots des
Militärs; die zivile Verwaltung brach zusammen. Ende der Sechzigerjahre rief Mao die Armee, um die
Situation in den Griff zu bekommen. Nun schickte er Millionen Schüler und Studenten aus den Städten aufs
Land. Dort sollten sie, so hiess es, von den Bauern lernen. Diese Weisung diente jedoch vor allem dazu, die
Unruhen in den Städten zu beenden. Viele Jugendliche konnten erst nach Jahren zurückkehren, manche
nie. Nach der Ausschaltung der Viererbande wurde der moderatere Deng Xiaoping zum neuen starken
Mann Chinas. Ende 1978 begann die ökonomische Öffnung. (bas)