Die Hysterie um E-Book und Internet als Konkurrenz des Buches hat sich längst gelegt. Inzwischen ist klarer, wo ihre Stärken und Schwächen liegen.
Mit Christiane Heibach mailte Barbara Basting
Während des Internetbooms war oft die Rede vom «Tod» des Buches. Inzwischen ist klar: Das Buch lebt prächtig. Was hat das Internet dennoch verändert?
Das Internet hat die standardisierten Publikationswege etwas durcheinander gebracht, aber wohl nicht in dem Masse, wie es häufig behauptet wird. Zwar kann auf Texte, die in Buchform erschienen sind, mittlerweile im Netz zugegriffen werden (etwa über das Gutenberg-Projekt oder über subversive Plattformen wie textz.com). Doch das Internet hat eine andere Funktion als das Buch. Es erleichtert den Zugriff auf Informationen, aber es ist unwahrscheinlich, dass Romane am Bildschirm gelesen werden.
Gilt das denn auch für wissenschaftliche Publikationen?
Für die Wissenschaft gibt es nach wie vor gewisse Kriterien, nach denen die Qualität von Textausgaben beurteilt wird - und die hält das Internet (noch) nicht ein. Man sollte das klassische Verlagswesen und das Internet nicht gegeneinander ausspielen, sondern die eigenen Qualitäten beider Bereiche sehen. Was in Buchform und was im Netz veröffentlicht wird, sollte sich auch strukturell voneinander unterscheiden. Das Gutenberg-Projekt etwa hat vor allem den Sinn, schnell zu bestimmten Textstellen zu kommen, die man gerade sucht. Es ist für die Recherchearbeit nützlich, nicht aber, um Texte zu lesen und mit ihnen intensiv zu arbeiten.
Es sind im Netz neue Literaturformen entstanden. Was zeichnet diese aus?
Internetbasierte Literatur orientiert sich im Gegensatz zu digitalisierten Texten schon in ihrer strukturellen Anlage und auch in der Textpräsentation an den anderen materiellen Gegebenheiten des Netzes. Einige Projekte, die von Buchautoren im Netz durchgeführt wurden, zeigen, was passiert, wenn man das Internet in ähnlicher Weise zu nutzen versucht wie das Buch: Das Projekt «Null» des Dumont-Verlages führte im Grunde genommen nur dazu, dass Autoren ihre Geschichten nicht in Buchform, sondern im Netz veröffentlichten, ähnlich war es bei Rainald Goetz Tagebuch «Abfall für alle» oder Sven Lagers und Elke Naters Projekt «Am Pool». Es ist bezeichnend, dass alle diese Projekte in einer Buchpublikation mündeten. Autoren, die versuchten, im Netz den Fortschritt ihres Schreibprozesses zu dokumentieren (wie z. B. Matthias Politicky) waren nicht sehr glücklich darüber, dass sich ständig Leute mit wohlwollenden Empfehlungen, wie die Geschichte denn nun weitergehen könnte, einmischten.
Das Buch bleibt also das Leitmedium?
Ich bin mir sicher, dass das Internet seine eigenen ästhetischen Formen entwickeln wird, die sich aber von denen des Buches unterscheiden werden - wie auch das Buch spezifische literarische Genres hervorgebracht hat (insbesondere den Roman), die sich von der oralen Literatur des Mittelalters unterscheiden. Dasselbe gilt auch für die Wissenschaft: Informations- und Wissenspräsentation im Netz wird andere Qualitäten haben als die wissenschaftlichen Darstellungen in Buchform.
Bis jetzt hat die Netzliteratur (noch) keine breitere Leserschaft. Vieles spielt sich in Spezialbiotopen ab. Oder trügt dieser Eindruck?
Dieser Eindruck ist völlig richtig. Allerdings war es immer so, dass die künstlerische Avantgarde nur eine kleine Zielgruppe ansprach. Und mit einer Art Avantgarde haben wir es hier auch zu tun - Künstler, die versuchen, mit den spezifischen medialen Strukturen zu experimentieren. Das Problem dabei ist, dass sie - im Gegensatz zu den klassischen Avantgarden - nicht so vorgehen können, dass sie bestehende ästhetische Normen durchbrechen; diese gibt es nämlich im Netz noch nicht. Netzkünstler sind insofern eine andere Art der Avantgarde: Sie versuchen durch Experimente, die Möglichkeiten und Grenzen des Mediums zu erkunden; daher sind sie auch über den ästhetischen Bereich hinaus wichtig. Wir wissen einfach noch nicht genau, wie wir die neuen Medien am besten einsetzen. Wie bei jedem neuen Medium werden zunächst einmal die aus andern Medien bekannten Strukturen in das neue transferiert. Bis man herausgefunden hat, wo die Stärken und die Schwächen des Mediums liegen, wofür es nutzbar gemacht werden kann und was es nicht leistet, müssen wohl noch einige Jahre vergehen. Beim Buchdruck dauerte dieser Prozess rund 60 Jahre.
Was sind denn für Sie die Erträge aus den bisherigen Projekten, welche sind für Sie besonders spannend oder zukunftsweisend?
Künstlerische Projekte im Internet scheinen mir insbesondere in dreierlei Hinsicht interessant zu sein:
1. Sie erproben Formen des vernetzten kollekti-ven Arbeitens (Mitschreibeprojekte usw.).
2. Sie experimentieren mit neuen Darstellungsformen (Textvernetzung, dynamischer Text, Kopplung verschiedener Zeichensysteme).
3. Sie arbeiten mit der Vernetzungsstruktur des Mediums. So hat das Netz erstmals das gemeinsame kreative Arbeiten möglich gemacht, auch wenn man nicht zur selben Zeit am selben Ort ist. Kollektive Schreibexperimente hat es natürlich schon vor dem Internet gegeben, aber nur in abgeschlossenen Gruppen. Nun ist es erstmals möglich, eine kollektive Kreativität zu entwickeln. Das bedeutet im literarischen Bereich eine Art Revolution.
Aber der Ertrag ist bisher eher mager?
Diese Experimente haben vor allem gezeigt, wo die Schwierigkeiten in derartigen Arbeitsprozessen liegen. Viele gelungene Beispiele gibt es hier nicht, weil sich noch keine effektiven Steuerungsprogramme solcher Gruppenarbeitsprozesse herausgebildet haben. Ein immer noch schönes Beispiel ist das Mitschreibeprojekt «Beim Bäcker» (http://www.snafu.de/~klinger/bäcker/).
Mindestens so interessant sind die neuen Darstellungsformen im Netz.
Hier wird viel mit dynamischem Text und mit der Kopplung verschiedener Zeichensysteme gearbeitet. Dabei wird deutlich, dass der Text seine Funktion verändert - er bekommt beispielsweise zusätzliche visuelle und akustische Qualitäten. Das Lesen von Text ist bei vielen Projekten nicht mehr das adäquate Rezeptionsverhalten, durch interaktive Elemente wird der vormalige Leser mehr zum Spieler, der im vom Projekt vorgegebenen Rahmen agieren kann und muss. Ein bemerkenswertes Beispiel ist «The Great Wall of China» (http://www.greatwall.org.uk/) von Simon Biggs, weitere schöne Beispiele finden sich auf der Seite des Künstlerpaares Zeitgenossen (Ursula Hentschläger/Zelko Wiener, www.zeitgenossen.com).
Am radikalsten sind wohl jene Projekte, die die Vernetzung thematisieren. Ja, sie versuchen, die funktionalen Schichten von Computer und Internet sichtbar zu machen. Sie sind häufig stark selbstreferentiell, also etwa mit der computereigenen Symbolik, oder sie verfremden technische Prozesse. Bekanntere Beispiele sind die Projekte des Künstlerduos Jodi, www.jodi.org, oder das ASCII Art Ensemble, www.desk.org:8080/Desk/ASCII+Art+Ensemble+original).
Ebenso aber lassen sich die Vernetzungsstruktur für politkünstlerische Aktionen nutzen. Exemplarisch dafür ist die Gruppe rtmark (www.rtmark.com), die mit Fakes arbeitet.
Das Web wurde anfangs oft als Archiv und Ersatz für die traditionelle Enzyklopädie gerühmt. Erfüllt es diesen Anspruch?
Ich halte den Vergleich des WWW mit einem Archiv und/oder einer Enzyklopädie für sehr problematisch, insbesondere weil es damit auf eine Metapher festgelegt wird, die sich eigentlich auf andere Medien bezieht. Archive und Enzyklopädien sind Kinder der Buchkultur und des Buchdrucks. Wissen in Buchform wiederum unterliegt kulturellen Normierungen und Standards. Der Buchdruck hat unsere Prozesse der Wissensschöpfung entscheidend geprägt. Die digitalen Medien werden vermutlich völlig andere Standards hervorbringen und damit auch diese Prozesse verändern. Computer und Internet werden mit Sicherheit für die Archivierung bestehenden (Buch-)Wissens genutzt werden, wie es ja auch schon in zahlreichen Datenbank-Archivprojekten betrieben wird. Die Recherchemöglichkeiten werden durch den Einsatz der neuen Medien sicher komfortabler; man wird bestimmte Strukturen, die sich auf Dauer bewähren, als Standards einführen.
Was ist das Spezielle an den neuartigen kollaborativen Enzyklopädien im Netz?
Traditionelle Enzyklopädien versuchen das Wissen einer Gesellschaft/einer Kultur zu kodifizieren. Derartige Unternehmen wird es natürlich weiterhin geben. Sie können sich ähnlich wie die Archivprojekte der elektronischen Medien bedienen. Aber sie werden immer von Personen, Gruppen oder Institutionen vorangetrieben werden, die sich in irgendeiner Weise legitimieren müssen. Die Publikationstätigkeit im WWW zeichnet sich dadurch aus, dass es derartige Legitimationsnotwendigkeiten nicht gibt. Manche Beobachter befürchten, dass durch den Verlust der Normierung von Wissen auch die gemeinsame Diskursbasis verloren geht. Ich halte diese Befürchtung für übertrieben.
Das traditionelle Buch, vor allem wenn es schön gestaltet ist, hat ästhetische Qualitäten, an die das elektronische Medium (noch) nicht herankommt. Führt das zu einer Hierarchie der Publikationen?
Es gibt sowieso schon eine Vielfalt von Publikationsmöglichkeiten in unterschiedlichen Medien, das Internet wird eine weitere Form hinzufügen. Als Informationsmedium bietet es unmittelbaren Zugriff auf Informationen, die sehr individuell sein können und andere Strukturen aufweisen als die der Massenmedien, als Kommunikationsmedium eröffnet es neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Es wird vermutlich keines der etablierten Medien verdrängen, sondern neue Möglichkeiten der Wissensschöpfung eröffnen. Wie diese genau aussehen werden, das kann vorerst jedoch nur vermutet werden, weil wir in dieser Entwicklung erst am Anfang stehen.
Christiane Heibach ist wissenschaftliche Assistentin für vergleichende Literaturwissenschaft an der
Universität Erfurt. Soeben ist von ihr erschienen: Literatur im elektronischen Raum. Suhrkamp Taschenbuch
Wissenschaft stw 1605, 292 S., mit CD-ROM, 24.70 Fr.
Text erschienen in: Tages-Anzeiger Zürich, 2003-07-04; Seite 50