Barbara Basting

Das neue Unbehagen an der Kunst

Die Kunst navigiert zwischen Utopieresten und Betriebsnudelei. Niemand weiss mehr genau, was sie ist, kann und soll. Sicher ist nur eines: Alle wollen etwas von ihr.


Befund 1: Vor einiger Zeit an einer Podiumsdiskussion in Biel. Es geht um die Förderung der Schweizer Kunst. Die Gesprächsrunde, an der neben Kunstkritikern und Kuratoren auch ein Künstler und der Pro-Helvetia-Chef Pius Knüsel teilnehmen, dümpelt vor sich hin. Warum? Die berufsmässigen Kunstvermittler versuchen zu erklären, wie die Kunstszene sich derart vergrössert hat, dass es schwer fällt, den Überblick zu behalten. Weil aber niemand sein eigenes Tun grundlegend in Frage stellt, kann daraus keine radikale Betriebskritik werden. Das Publikum, mehr noch Pius Knüsel wird ungehalten: Wozu denn all diese Kunst? Was taugt wirklich etwas? Namen bitte, Lippenbekenntnisse. Die Kunstvermittler wehren sich: So nicht!

Die Kunst, ein Daseinsveredler?
Befund 2: Jedes Jahr werden rund 150 Künstler aus Schweizer Kunstklassen entlassen. Will heissen: Künstler zu sein, ist attraktiver denn je. Kunst steht dabei für vieles. Für die Daseinsveredlung, für den Gegenentwurf zu einer nur der Nützlichkeit und Rationalität unterworfenen Alltagswelt. Eben für einen Mehrwert, der nicht nur materiell greifbar und daher bei jenen begehrt ist, die ständig sehr nützlich und sehr rational sein müssen - für Mehrwert, der sich, gerade weil er so diffus ist, auch gut versilbern lässt. Die Dominanz des Marktes macht es heute unmöglich, auseinander zu dividieren, was junge Leute zur Kunst treibt: Ist es der Wunsch, sich in einer der letzten einigermassen offenen Nischen anzusiedeln? Oder ist Kunstschaffender inzwischen ein Beruf wie jeder andere, nur mit erhöhten Chancen, reich und berühmt zu werden - und mit entsprechenden Absturzrisiken?
Befund 3: Der palästinensisch-amerikanische Kulturkritiker Edward Said schreibt 1993 in seiner Studie «Kultur und Imperialismus», das hochverfeinerte Selbstbewusstsein der modernen Kunst habe nun seit gut einem Jahrhundert die Gemüter erregt. Im Rückblick wirke es aber immer abstrakter und hoffnungslos beschränkt auf einen kleinen Teil der Welt. Said meinte noch, neue Formen der Hybridisierung der Medien und Gattungen wiesen einen Ausweg. Es gibt inzwischen Stimmen, die sogar dies bezweifeln. Der australische Kunstkritiker Ted Colless etwa schreibt: All die Werte, die wir bisher der zeitgenössischen Kunst zugerechnet haben - ihre Innovationskraft, ihr theoretisches Erregungspotenzial, ihr kritischer Biss - seien inzwischen genauso gut in den technologischen und kommerziellen Bereichen der Kultur greifbar. Mit anderen Worten: Das Gärtlein, das die Kunst der Avantgarde für sich erkämpft hat, ist in einer allgemeinen Parklandschaft aufgegangen. Die Kunst hat sich einen enormen Stellenwert erarbeitet. Aber ihr Avantgarde-Störpotenzial ist mit der zunehmenden Institutionalisierung gefährdet.

Groteske Informations-Verstopfung
In allen drei Befunden artikuliert sich exemplarisch ein Unbehagen an der Kunst. Ihm sind selbst ihre engagiertesten Verteidiger ausgeliefert. Zur «Betriebsmüdigkeit» gesellt sich der Glaubensverlust. Nehmen wir die heutzutage auch nur noch mässig gemütlichen Redaktionsstuben. Was hier tagtäglich an unterschiedlichsten Hinweisen auf Kunstveranstaltungen eintrudelt, erzeugt eine geradezu groteske Informations-Verstopfung.
Ist es da nicht langsam schnuppe, was man auswählt, Hauptsache Kunst? Zugegeben, der Zynismus dieses Gedankens, der die zu besseren Sortieranlagen herabgewürdigten «Vermittler» schon einmal erfassen kann, ist schwer zu ertragen. Er verträgt sich schlecht mit jenem Idealismus, mit jenem Utopie- und Weltverbesserungsversprechen, die der Kunst seit der Moderne immer noch anhaften und die zu verteidigen die Kunst- und Kulturkritik einst - das war übrigens auch die Glanzzeit des inzwischen schwächelnden Feuilletons - angetreten ist.
Eins scheint immer klarer: Die Menge und Vielfalt an verfügbarer Kunst schwächt die Eindeutigkeit ihrer Aussage und damit ihre Rolle in der Gesellschaft. Denn einzelne Positionen haben es immer schwerer, überhaupt noch zu einer grösseren Gemeinschaft vorzustossen. Das liegt weniger daran, dass zu viel Kunst «warme Luft» wäre (das war schon immer das schlechteste, weil nur dem Ressentiment entsprungene Vorurteil). Es liegt viel eher daran, dass höchstens noch in bestimmten special-interest Nischen ein wirkliches Gespräch, eine intensivere Auseinandersetzung möglich ist. Ist heute noch ein Künstler, eine Künstlerin denkbar, die zu einer picassoartig über Jahrzehnte hinweg dominierenden Künstlerfigur werden könnten? Nein. Es geht nicht mehr und ist auch nicht mehr wünschenswert. Dort, wo dieses Gespräch dann doch stattfindet, wird es oft seltsam hermetisch. Es hat eine Selbstbezüglichkeit erreicht, die abschrecken kann und oft genug auch soll.

Alles eine Frage der Perspektive?
Die Kunst ist also längst abgekoppelt von ihrer am Anfang des 20. Jahrhunderts so leidenschaftlich vertretenen Vorkämpferrolle für eine bessere Gesellschaft. Ob etwas Kunst ist oder nicht, ist, wie Niklas Luhmann in seiner Studie «Die Kunst der Gesellschaft» 1995 formuliert hat, heute nur noch eine Frage der Perspektive. Daher kann die Kunst kein Stein des Anstosses mehr sein, sondern höchstens Stolpersteinchen liefern. Sie ist als solche, wie schon der Begriff «Kunstsystem» verrät, bestens etabliert. Und der Kunstkritiker kämpft nicht mehr an der vordersten Spitze einer selbstbewussten Phalanx, sondern ist nur noch der Rubrikenverfasser eines «K-Tip» für den gehobenen Anregungs- und Dekorationsbedarf. Es kann nicht wirklich als betörende Aufgabe gelten, einen solchen Bedeutungsverlust der Kunst weiter kaschieren zu helfen. Was tun?
Erst einmal ist es sehr zu begrüssen, dass es diese Vielfalt gibt, diesen nur noch partiell überschaubaren Ideenwettbewerb. Denn sie stehen für eine der verrücktesten Erfolgsgeschichten des 20. Jahrhunderts. Aus der Perspektive der Kunstkritik, der -vermittlung oder der -förderung, die immer nach Überblick streben, ist Vielfalt natürlich eine unbequeme Sache. Aus der Benutzerperspektive hingegen ist sie erfreulich: Das Kunstnetz ist dicht wie nie. Wer in Muttenz, Bregenz, Thun, Glarus oder Biel wohnt, kann sich vor Ort mit zeitgenössischer Kunst befassen. Am Ende aber braucht es für das Urteil wieder den Vergleich, Reisen und auch eine denkerische Anstrengung.
Das Ende der Moderne, so wurde vielfach gesagt, ist das Ende der «Meistererzählungen», der Vorherrschaft der Zentren und Autoritäten. Der Gedanke vom «rhizomatischen» Denken, der - wie in der Idee des Internets - von unzähligen kleineren und grösseren Knotenpunkten ausgeht, ist vielleicht nirgendwo so schön konkretisiert wie in der inzwischen fast weltumspannenden zeitgenössischen Kunst mit all ihren Verästelungen. Es spielt gar keine Rolle mehr, ob man den totalen Überblick hat: Es zählt mehr, ob man an einer Stelle andocken, einsteigen, sich dann weiterarbeiten kann. Und am Schluss zählt auch nicht mehr, wer die wahre Ware Kunst vertritt, sondern ob das Angebot so ist, dass man Lust hat, sich als Beobachter neugierig in ein Feld vorzutasten und sich dort eine eigene Reise- und vielleicht auch Erkenntnisroute zu entwickeln. Das ist eine Freiheit, mit der schwer umzugehen ist; deswegen auch der Zulauf zu Kunstveranstaltungen, die Orientierung versprechen. Documentas oder Biennalen, grosse Ausstellungen winken eben noch einmal mit der Illusion der Meistererzählungen. Und deswegen ist - wir kehren hier zur eingangs erwähnten Podiumsrunde zurück - der Ruf nach Zuordnungen, die eigentlich niemand mehr leisten kann, so gross. Deswegen ist auch die Kunstkritik aus einer Perspektive, die sichere Orientierung will, zum Scheitern verurteilt. Sie kann nur noch versuchen, Schneisen zu schlagen, aber keine vollständigen Landkarten mehr zeichnen.
Kunst hat längst nicht mehr die Stosskraft einer geschlossenen Doktrin wie zu den besten Avantgarde-Zeiten. Aber erstens sind diese zum Mythengebiet geworden. Und zweitens, die Einsicht verdankt sich Boris Groys, hat gerade der Utopismus der Moderne sein Pendant in den totalitären politischen Doktrinen der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Das macht seine Beschwörung je länger desto mehr problematisch. Was kann also heute noch der Leitgedanke sein für einen Umgang mit zeitgenössischer Kunst? Was der Qualitätsmassstab?

Die Unsicherheit kann produktiv sein
Es wird immer deutlicher, dass die für unsere Gesellschaft wesentlichen künstlerischen Ansätze heute jene sind, in denen eine produktive Auseinandersetzung mit der kommerziellen Mainstream-Bilderwelt stattfindet. Immer klarer wird aber auch, dass in einer globalisierten Marktwirtschaft, wo alles immer stärker normiert wird, jene Künstler eine besondere Anziehungskraft entwickeln, die in der Lage sind, ganz eigene Welten zu konstruieren. Das kann in der Malerei der Fall sein: dass plötzlich die Handschrift, das individuell Gestische, die Verlangsamung wieder besonders attraktiv wird. Es können aber auch Arbeiten sein, in denen sich eine persönliche Recherche sedimentiert hat, die als Gegenpol zu einer wachsenden Homogenisierung wirkt. Dies können nur Anhaltspunkte sein. Einen allgemein verbindlichen Leitfaden, gar einen Kanon gibt es längst nicht mehr. Dafür gibt es viele Nischen. Was sich breit durchsetzt, bestimmt dennoch immer stärker der Kommerz, der sich von der Kunst noch nie trennen liess. Die Kunstkritik stochert im Nebel. Ihre Fundstücke haben oft genug Zufallscharakter. Also gibt es nur eines: sie gründlich von allen Seiten anschauen, ihr spezifisches Gewicht prüfen, sie weglegen oder behalten. Niemand kann heute mehr autoritativ behaupten, dass man etwas unbedingt gut finden muss und ansonsten ein Banause ist. Unter diesen Prämissen kann die Unsicherheit im Umgang mit der Kunst, das Unbehagen an einer nicht mehr beherrschbaren Fülle sich auch als produktiv erweisen. Man sollte einfach nicht so töricht sein, auf diesem Terrain Gewissheiten und Antworten zu erwarten. Sondern eher ein Training in der Kunst, die richtigen Fragen zu stellen.
Die Menge und Vielfalt an verfügbarer Kunst schwächt ihre Rolle in der Gesellschaft.


Text erschienen in: Tages-Anzeiger Zürich, 2003-09-01; Seite 45