Barbara Basting

Die Landvermesser der Gegenwart

Dokumentarische und enzyklopädische Verfahren sind in der gegenwärtigen Kunst sehr beliebt - als Antwort auf den Verlust alter Ordnungen und auf die Unübersichtlichkeit der Welt.


Im Kunstwerk soll das Chaos durch den Flor der Ordnung schimmern. NOVALIS Arbeiten mit dokumentarischem Anspruch spielen in der zeitgenössischen Kunst eine zentrale Rolle. Das brachte zuletzt die Documenta XI im vergangenen Sommer einem breiten Publikum zu Bewusstsein. Es konnte zum Beispiel die über mehrere Räume ausgebreitete, beeindruckende Langzeit-Fotoarbeit «Seemannsgarn» des Kanadiers Allan Sekula sehen. Sekula zeigt darin seine politisch scharfe Sicht auf Häfen als Zentren des globalen Handels.
Prominent ausgestellt waren auch die frühen Fotoserien der Düsseldorfer Bernd und Hilla Becher. Seit den 60er-Jahren fotografieren sie mit einem streng konzeptuellen Ansatz Industriearchitekturen wie Hochöfen und Wassertürme. Ihr technisch perfekter, scheinbar objektiver Stil hat eine einflussreiche Schule begründet. Thomas Ruff, Thomas Struth, Andreas Gursky sind ihre bekanntesten Exponenten, Candida Höfer vertritt Deutschland an der diesjährigen Biennale von Venedig.
Die Documenta-Macher griffen aber auch die Problematisierung des dokumentarischen Stils auf, die derzeit viele Künstler beschäftigt, allen voran Jeff Wall. Seine Fotografien erscheinen dokumentierend, sind tatsächlich aber bis ins kleinste Detail inszeniert und spielen raffiniert mit der Wirklichkeitsillusion jeder Fotografie.

Der simulierte Schaukasten
Die durch die Documenta fokussierte Reflexion über das Dokumentarische beschränkt sich nicht auf die in die Kunst eingewanderte Fotografie. Aktuelle Ausstellungen zeigen, wie beliebt quasi-dokumentierende, enzyklopädische Methoden heute sind. Der Amerikaner Mark Dion, dessen Schau unter dem Titel «Encyclomania» gerade in Deutschland tourt, konzipiert Installationen, die das frühneuzeitliche Wunderkammer-Prinzip aufgreifen. Er simuliert hinterlistig die Ordnungsmuster in den Schaukästen naturhistorischer Museen. Der Glaube an die überschaubare Darstellung der Welt im Glassturz hat abgedankt, aber die Sehnsucht danach bleibt.
Der Zugriff muss nicht nostalgisch sein. Der Schweizer Künstler Alex Hanimann hat jüngst in seinem Bildband «Horsepark» eine fesselnde Präsentation seines riesigen, über Jahre hinweg entstandenen Zeichnungsarchivs unternommen. Bilder, Dokumente, Zitate, gefiltert nach inhaltlichen oder formalen Kriterien, werden in objektivierender, auch abstrahierender oder teilweise idealisierender Umsetzung dokumentiert und anschliessend in ein subjektives Archiv eingegliedert.
Dieses Archiv hat Hanimann geordnet. Dabei kristallisierten sich wiederkehrende Themen (Beispiel: Tierbilder, Militärs, Schlaufenbilder) heraus. Sie dienten als Ordnungsmuster für ein riesiges Bildlabyrinth. Der quasi-enzyklopädische Ordnungsprozess hatte für den Künstler eine wichtige Funktion: «Ich bin so dem visuellen Material nicht mehr nur ausgeliefert, habe die Möglichkeit, es in meine subjektive Sicht zu integrieren, diese dadurch auch wieder zu verändern, zu korrigieren, zu schärfen.» Auf diese Weise entsteht ein vordergründig «dokumentierendes» Bildarchiv, das aber auf verschiedenen Ebenen subjektiv ist. Was sollen solche subjektiven Archive? «In einem subjektiven Filtrierungs- und Strukturierungsprozess werden Fragen zu bestimmten Sachverhalten neu gestellt. Aus subjektiven Blicken entstehen neue Perspektiven, die unser Denken, unsere Sicht auf die Welt erweitern und bereichern können», so Hanimann zu seinem bildnerischen «Mind-Mapping».
Auch in der Netzkunst werden intensiv neue Ordnungsmuster erprobt. Das wichtige Festival Ars electronica in Linz hat 2002 mit dem Thema «Weltkarten - Change the Map» gezeigt, wie ergiebig künstlerische Experimente mit der Visualisierung von Informationsflüssen sind. Eher spielerisch tut dies der Schweizer Beat Brogle mit seiner Netzarbeit www.onewordmovie.org. Nach Eingabe eines Suchbegriffs wird das Internet auf passende Filme hin abgegrast. Ein brisanteres Beispiel ist das französische Kollektiv «bureau d'études», das sich mit dem Projekt eines «World Monitoring Atlas» auf die Produktion von Grafiken spezialisiert hat, die globale Vernetzungs- und Machtstrukturen sichtbar machen.

Ein aufgeweichter Begriff
Der Begriff des Dokumentarischen gilt in der Kunsttheorie längst als unscharf. Der renommierte Fotohistoriker Timm Starl bringt es auf den Punkt: «Jede Fotografie ist ein Dokument, indem sie auf etwas verweist, das gewesen ist.» Die Geschichte der Fotografie in den Massenmedien hat klar gemacht, dass gerade «realistische» Bilder besonders trügerisch sein können. Nicht weil sie gestellt wären; das lehnte die bis in die 80er-Jahre hinein prägende «Straight Photography» ab, für die Fotografen wie Henri Cartier-Bresson, Robert Frank oder William Klein stehen. Aber hinter jedem fotografischen Bild steht eine Ideologie, die sich der Wahl des Sujets, der Ästhetik oder im Kontext des Erscheinens äussert. Die Bilder vom Irak-Krieg sind das jüngste Beispiel.
Deswegen löste die breite Präsenz der dokumentierenden Fotografie an der Documenta XI auch heftige Diskussionen aus. Und zwar weniger wegen der konservativen Frage, ob das Kunst sei. Aus ideologiekritischer Sicht steht eher die Suggestionskraft und die Definitionsmacht des Dokumentarischen zur Debatte. Denn dieses zeigt nie einfach nur Wirklichkeit, sondern wertet sie auch. Dass Bilder, die widrige Verhältnisse darstellen, politisches Handeln auslösen, ist ein weiterer, verbreiteter Trugschluss. Die Erkenntnis, dass es keine neutrale, objektive Fotografie gibt, ist heute die Ausgangsbasis jüngerer Fotografen. Typisch etwa das seit 1991 bestehende Pariser Kollektiv Tendance Floue. Die «"wahre Geschichte , die in der Fotoreportage erzählt wird, ist mittels Bildern konstruiert, die die Wirklichkeit übersetzen», so das Credo der Gruppe. Ihr Anliegen ist es konsequenterweise, «ausgehend von verschiedenen dokumentarischen Quellen neue Fiktionen zu schaffen, Fragen zu stellen, wie unsere Realität beschaffen ist». Der programmatische Name der Gruppe bedeutet nicht, dass man unscharfe Bilder macht oder Realitäten verschleiert; eher formuliert er das Bekenntnis zum subjektiven Bild. «Wir ziehen nicht los, um objektive, sondern um subjektive Fotografien zu machen. Wir sind nicht schnell, sondern legen den Akzent eher auf längerfristige Arbeiten», so der Fotograf Mat Jacob.
Das Kultbuch «Nous n'irons plus au paradis» über die Welt nach dem 11. 9. 2001 demonstriert den Zugriff ebenso wie die Studie «Ateliers», wo die zwölf Tendance-Floue-Fotografen Werkstätten der Pariser Metro besucht haben. Die zwölf sehr unterschiedlichen Mini-Bildreportagen sind programmatisch ohne Legenden publiziert, wie sie zum klassischen Fotojournalismus gehören. «Die Abfolge der Bilder ist schon ein grosser, aus Bildern gemachter Satz. Der Bildbetrachter ist noch wenig reif dafür, weil die Dokumentarfotografie erst ein Jahrhundert alt ist. Wir erfinden eine Sprache, die von der zeitgenössischen Welt spricht. Wir stecken in einer Forschungsphase. Die Dinge werden sich rasch entwickeln. Bald schon wird man sich per Mail eher Bilder als Texte schicken. «Ateliers» ist immerhin noch von einem Text des Schriftstellers François Bon begleitet.
Noch radikaler verwirklicht der Band «End Commercial - Reading the City», hinter dem eine Werbeagentur steht, das textlose Bilderbuch. Es enthält ein fotografisches Inventar aus den New Yorker Strassen, sozusagen ein Gegenstück zu William Kleins epochalem «New York» (1954/55). Keine Zeile Text. Nur am Anfang gibt es ein Diagramm, das eine spezifische «Ordnung der Dinge» vorschlägt. Es handelt sich um lauter sprechende Details, die das Gesicht einer Grossstadt prägen. Unter dem Stichwort «Handel» etwa findet man die Untergruppen «Strassenhändler» oder «Einkaufswagen». Also selektiv herausgegriffene, symptomatische Phänomene, die dann wie in einer ethnologischen Studie breit belegt werden. Das Wahrnehmungsraster wird soweit möglich offen gelegt. Die Definitionsmacht der «Dokumente» wird also offensiv thematisiert. «End Commercial» liefert ein Bilderpuzzle, von dem man sich kaum losreissen kann. Die Faszination liegt zu einem wesentlichen Teil in der verführerischen, klaren Strukturierung eines absichtlich oberflächlichen Blicks auf eine heutige Metropole.

Die fliehende Zeit einfangen
Neben dieser forcierten räumlichen Ordnung des Dokumentarischen verstärkt sich das Interesse an der Zeitachse der Wahrnehmung. Tendance Floue ist damit nicht allein; Joachim Brohms Arbeit «Areal» etwa, die in Winterthur zu sehen war (TA vom 25. 11. 2002), ist ein brillantes Beispiel. Seine fotografische Beobachtung eines begrenzten Terrains während zehn Jahren zieht in Bann, weil sie die sonst nur intuitiv wahrgenommene, rasante Veränderung unseres Alltags sichtbar macht. Auch hier erzeugt die Erzählung aus vielen Bildern eine fesselnde Tiefenschärfe. Nennen könnte man neben dem eingangs erwähnten Sekula auch den Engländer John Davies, der seit Jahren die Entwicklung europäischer Kulturlandschaften fotografiert.
Wie beliebt die dokumentarischen Tendenzen sind, wird vor allem an der Modefotografie deutlich, die gerne rauere soziale Verhältnisse als Kulisse nimmt. Im Januarheft der trendigen britischen Modezeitschrift «I-D» etwa zeigte eine Fotostrecke die herumlungernden Mitglieder einer Gang. Tatsächlich handelte es sich um Models, die in teure Streetstyle-Markenkleidung gesteckt wurden. Gleich auf diesen Beitrag folgte ein Artikel, der Kinder in der Westbank behandelte. Allerdings waren die begleitenden Farbfotografien von ärmlich gekleideten Kindern vor Hausruinen den Modeaufnahmen zuvor so ähnlich, dass der auf Mode geeichte Blick wohl eher ihre Kleidung wahrnimmt als ihr Schicksal. Das zeigt, wie anfällig der dokumentierende Stil für Instrumentalisierungen ist.

Die Lust an der «sichtbaren Welt»
Die so unterschiedlichen Beispiele erklären, warum das Dokumentarische eine solche Konjunktur hat. Es liefert «realistische», also vordergründig leicht verständliche Bilder. Sie befriedigen unsere Neugierde und je nachdem auch die Lust an der fotografischen Verdoppelung der Welt als Bestätigung unserer Eindrücke. Die Tendenz zum Dokumentarischen liesse sich aber auch vor dem Hintergrund des Booms der Mystery- und Fantasy-Welten in der kommerziellen Kultur interpretieren; man denke an die gewaltige Tolkien-Renaissance. Das Fantastische dient als Gegenwelt und Fluchtraum, in den man sich angesichts einer komplexen Welt zurückzieht. Darin liegen sogar Berührungspunkte mit dem Dokumentarischen. Ein Unterschied liegt in der Aufforderung zur Beurteilung der Realität, die der dokumentarische Zugriff erheischt. Dokumentierende Bilder dienen wie in den Anfängen der Reportagefotografie der Erschliessung neuer Welten, aber mehr noch der Konstruktion von Wirklichkeit und - gerade im Bereich der Kunst - auch der kritischen Befragung solcher Konstruktionen. Das ist sogar eine der besten Legitimationen heutiger Kunst: in einer medialen, bilderreichen Welt Modelle für den kritischen Umgang mit Bildern zu entwickeln. Wo die «sichtbare Welt», wie ein prächtiger Bildband des Künstlerduos Fischli/Weiss heisst, immer schnelleren Veränderungen unterworfen ist, wo sie gerade auf der Ebene der Sichtbarkeit überhaupt nicht mehr zu verstehen ist, können Bilderzählungen, die schlüssige Ordnungen und Strukturen des Sehens vorschlagen und aus der Flut der Bilder überschaubare Geschichten herausdestillieren, aber auch als Tranquilizer wirken.
Die Konjunktur des Dokumentarischen ist damit zweischneidig. Sie öffnet neue Horizonte, indem sie neue Sehraster vorschlägt, vorhandene Muster des Verfügens über Wirklichkeit aufbricht. Gleichzeitig tröstet sie aber auch über die als immer lastender empfundene Unübersichtlichkeit der heutigen Welt hinweg.


Joachim Brohm, Areal, Steidl-Verlag, Göttingen 2002.
Bureau d'études: http://utangente.free.fr/index2.html.
John Davies, Seine Valley, Le Point du Jour Editeur, 2002 (www.lpjour.com).
Mark Dion, Encyclomania, Verlag für moderne Kunst, Nürnberg 2003. Kunstverein Hannover, 5. 7.-17. 8.
End Commercial, Hatje-Cantz, Ostfildern 2002.
David Fischli/Peter Weiss, Sichtbare Welt, Verlag der Buchhandlung Walter König, Köln 2000.
Alex Hanimann, Horsepark, Verlag für moderne Kunst, Nürnberg 2002.
Allan Sekula, Seemannsgarn, Richter-Verlag, Düsseldorf 2002. Generali Foundation, Wien, 16. 5.-17. 8.
Tendance Floue: Nous n'irons plus au paradis, Ed. Jean di Sciullo, Paris 2002; Ateliers, Ed. Alternatives,
Paris 2002; www.tendancefloue.com
Jeff Wall, Museum moderner Kunst, Wien, 22. 3.-25. 5.

Text erschienen in: Tages-Anzeiger Zürich,2003-05-06; Seite 57