Barbara Basting

Auf dem langen Marsch der Fotografie

Von Gustave Le Gray bis Andreas Gursky: Zwei Ausstellungen in Paris schlagen einen Bogen über 150 Jahre Fotografiegeschichte.

Paris ist, seit den ersten Experimenten von Nicéphore Niépce und Daguerre, die Weltstadt der Fotografie. Vier grosse Ereignisse haben das in diesem Frühjahr so deutlich gemacht wie selten: zuerst die Präsentation der «Mission héliographique» von 1851 in der Maison européenne de la photographie. Die «Mission» war die erste systematische fotografische Dokumentation französischer Baudenkmäler im Staatsauftrag. Auf Anregung von Prosper Mérimée, dem Schriftsteller, und unter der Leitung des Architekten Viollet-le-Duc schwärmten die fünf besten Fotografen der Nation in die Provinz aus. Ihre Ausbeute wurde nie vollständig publiziert. Einer der Teilnehmer, ein gewisser Gustave Le Gray, reichte seine Abzüge für den Salon von 1852 ein. Sie wurden abgelehnt. Die Zeit war noch nicht reif für Fotografie als Kunst. Erst 1980, als das Interesse an historischer Fotografie aufkeimte, wurde das Material aus den Archiven ausgegraben. Die jetzige Publikation ist eine kleine Sensation.

Das Archiv des Charles Nègre
Dann die Versteigerung der zweiten und dritten Tranche der legendären Fotosammlung von Marie-Thérèse und André Jammes bei Sotheby's. Dazu gehörte der Nachlass von Charles Nègre, einem herausragenden Fotografen des 19. Jahrhunderts. Jammes hatte das Konvolut, 300 zum Teil einmalige Abzüge, 1995 dem Musée d'Orsay für umgerechnet rund 4,5 Millionen Franken angeboten. Dem Staat war das zu teuer. Nach der spektakulären Auktion des ersten Teils der Jammes-Sammlung 1999 in London, bei dem mit 719 000 Euro für ein Seestück von Le Gray ein Rekordpreis für eine Fotografie erreicht wurde, erschien Jammes' Angebot günstig. Zu spät. Dieses Frühjahr konnten französische Museen und die Bibliothèque nationale nur noch durch das Vorkaufsrecht und Exportverbote dem davongaloppierenden Markt einige Stücke entziehen.
Schliesslich zwei Ausstellungen, deren Magie man sich kaum entziehen kann: Die eine, in der alten Bibliothèque nationale, ist eben jenem Gustave Le Gray (1829-1884) gewidmet, dessen «Grande Vague» die Begehrlichkeiten der Sammler geweckt hatte. Noch vor fünfzehn Jahren war sein Name höchstens ein paar Spezialisten für historische Fotografie bekannt. Die andere, im Centre Pompidou, gilt Andreas Gursky (Jahrgang 1955), dem Star aus der unerhört erfolgreichen Düsseldorfer Becher-Schule. Seine Fotografie eines Prada-Ladens wurde jüngst für rund 700 000 Euro versteigert. Nur wenige Hundert Meter voneinander entfernt sind also zwei Ouvres zu besichtigen, die der Markt zu absoluten Lieblingen gekürt hat.
Le Gray war zunächst Künstler, Absolvent der Akademie. Schon bald fühlt er sich von der damals aufregend neuen Technologie der Fotografie angezogen. Er experimentiert mit Emulsionen und erfindet 1849 das zukunftsweisende Wachspapiernegativ, das die (nicht reproduzierbare) Daguerreotypie und das Glasnegativ ablösen sollte. Die besten seiner vor Lebendigkeit vibrierenden Abzüge lassen einem den Atem stocken. Vor den Originalen ist sofort nachvollziehbar, warum Le Gray zu seiner Zeit hoch geschätzt wurde. Er hat nicht einfach «den Moment eingefroren», wie es die klischeehafte Rede über Fotografie will. Vielmehr hat er die Wirklichkeit transformiert. Mit seinen Kompositionen gab er als einer der Ersten der Fotografie jene künstlerische Würde, die dem Medium vor allem von der Malerei bis heute streitig gemacht wird.

Fortsetzung der Malerei
Andreas Gursky ist der Sohn eines Werbefotografen. Er hat sich zwar an der klassischen Fotografie geschult. Aber auch ihn hat die heute neueste Technologie, die Digitalisierung, zu neuen Bildlösungen inspiriert. Seine am Computer bearbeiteten Fotografien im XXL-Format, mit Sujets wie Luxus- oder Trash-Geschäften, der Tokioter Börse, der Love Parade oder einem Madonna-Konzert sind schockgefrorene Kondensate der modernen Welt.
So unterschiedlich das Werk von Le Gray und Gursky anmutet, eines ist beiden gemeinsam: Sie verstehen ihre Fotografie als Kunst, als Fortsetzung der Malerei mit anderen Mitteln. Gustave Le Gray aber scheiterte um 1850 mit dieser Auffassung. Seine mangelnde Geschäftstüchtigkeit mag dazu beigetragen haben; er verschuldete sich und versuchte seinen Gläubigern zu entkommen, indem er 1861 mit Alexandre Dumas zu einer Orientreise zwecks Buchpublikation aufbrach. Doch Le Grays Projekt blieb erfolglos, er starb fast völlig verarmt. Aber viel mehr noch hat Le Grays trauriger Lebensroman mit seiner kompromisslosen Auffassung der Fotografie zu tun. Zu seiner Zeit tendierte sie hin zum günstigen Reproduktionsmedium. Dieser Entwicklung wollte er sich nicht beugen. Er war zu sehr Tüftler, um kommerziell erfolgreich zu sein.
Gursky hingegen hat heute als Künstler gerade deswegen Erfolg, weil er sich vom Bilderwust in Presse und Werbung bewusst absetzt. Das Kalkül ist klar: Die Fotografie ist im Laufe ihrer Geschichte banal und alltäglich geworden. Will man ihr neue Aufmerksamkeit erschliessen, muss man sie dieser Profanisierung wieder entziehen. Gurskys monumentale Aufnahmen, von denen rund vierzig im Centre Pompidou zu sehen sind, geben der Fotografie wieder etwas von ihrer Aura, die sie durch die Rotationsmaschine verloren hat. Sie feiern das unreproduzierbare Original. Was nicht hindert, dass dessen kultischer Wert längst durch Reproduktionen geschaffen wird: so durch Ventilation seiner Arbeiten in Zeitschriften und Katalogen. Der enthusiastischen Rezeption von Gursky und seinesgleichen kommt auch zugute, dass die Fotografie heute das zugänglichere Medium ist. Zur Aufwertung der Fotografie, von der Gursky und postum Le Gray profitieren, trägt aber auch die beispiellose Ausweitung des Kunstbegriffs im 20. Jahrhundert bei. Nicht das Medium zählt, sondern der Kontext der Präsentation und Rezeption.

Rückkehr zu den Anfängen
Heute lassen gerade Le Grays sorgfältige Abzüge die Geschichte der Fotografie als Geschichte eines Verlusts erscheinen. Mit der Perfektionierung und Industrialisierung des Mediums sind genau jene handwerklichen Qualitäten verloren gegangen, die es am Anfang seiner Geschichte zur Kunst machten. Andererseits zeigt sich eine Parallele zu dem, was die Künstlerfotografen im digitalen Zeitalter umtreibt: Wie kann man mittels präziser Manipulationen dem Bild wieder jene Qualität geben, die eben gerade nicht auf der Abbildung der Wirklichkeit, sondern auf ihrer Überformung beruht?
Die zentrale Einsicht auf dem Weg von Le Gray zu Gursky: Die Fotografie ist, obwohl sie das seit mehr als 150 Jahren erfolgreich vorspiegelt, kein bloss abbildendes Medium. Jede Fotografie ist eine Überformung der Wirklichkeit, die sie abzubilden vorgibt. Wenn Le Gray seine Marines aus Collagen mehrerer Negative produziert - was unterscheidet ihn dann noch von einem Gursky oder Jeff Wall, der diese Technik seit Jahren perfektioniert?
Le Gray und Gursky so kurz nacheinander zu sehen, erschüttert eine der hartnäckigsten Gewohnheiten beim Betrachten von Fotografie: Noch immer vertrauen wir ihrem vermeintlichen Realismus. Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Reportagefotografie und der Fotografie als Reproduktionsmedium. Dies hat den Blick einseitig geprägt. Fotografen wie Gursky lassen uns die Geschichte der Fotografie aus einem neuen Blickwinkel sehen - aus jener Perspektive, die vor 150 Jahren schon ein Le Gray so hartnäckig verfolgt hat.


Gustave Le Gray: Nationalbibliothek, Rue Richelieu, bis 16. Juni 02.
Andreas Gursky: Centre Pompidou, bis 29. April 02.
Kataloge (Texte nur auf Französisch): Gustave Le Gray 1820-1884. Gebunden, Gallimard, Paris 2002. 400 S.,70 Euro. - La Mission Héliographique, Editions du Patrimoine (www.monum.fr), 69 Euro.
AndreasGursky (Hg. Peter Galassi), 78 Euro..

Text erschienen in: Tages-Anzeiger Zürich, 2002-04-1515; Seite 45