In den Neunzigerjahren veränderten sich die Vorstädte rasant. Eine hervorragende Ausstellung von Joachim Brohm im Fotomuseum Winterthur macht das sichtbar.
«Aral» heisst die Tankstellenkette mit der blauen Raute. «Areal» heisst, schön und verwirrend ähnlich, das fotografische Langzeitprojekt von Joachim Brohm. Darin taucht das Aral-Signet wie ein Leitmotiv immer wieder auf. Mal sehen wir es weit entfernt auf einem Fabrikdach, dann wieder von ganz nah, mal von hinten (wo es zur Uhr wird) oder nächtlich illuminiert. Eine elegische Chiffre für die ablaufende Aral-Zeit. Eine Orientierungsmarke in einem komplexen Bildermosaik. Am Schluss wissen wir, welch verschiedene Gesichter das Areal hatte. Aber das Aral-Zeichen ist verschwunden.
Das «Areal», es befindet sich an der Münchner Peripherie, gehört zu jenen wüsten Gewerbezonen und Industriebrachen, die in den florierenden Neunzigerjahren aufgewertet, sprich einer Immobiliengesellschaft zugeschlagen wurden. Die Tanks und Werkhöfe des zuvor ansässigen Treib- und Baustoffhändlers Raab Karcher (auch ihnen begegnen wir in der Fotoserie mehrfach) kamen weg. Am Ende wurde eine hoffnungssichernde «Parkstadt» aus dem Boden gestampft. Kein Einzelfall, im Gegenteil. Nicht nur in Deutschland wurden so die letzten Hinterlassenschaften der Nachkriegszeit im Weichbild der Grossstädte getilgt, um der Dienstleistungsgesellschaft eine neue Heimat zu schaffen.
Ein Flaneur mit Scharfblick
Joachim Brohm, Jahrgang 1955 und mit seinem nüchternen, kompositorisch dichten Stil unverkennbar ein Schüler des an der Documenta 11 prominent vertretenen Allan Sekula, interessiert aber gerade nicht der rabiate Szenenwechsel zwischen Vorher und Nachher, sondern das langsame Ruckeln der Zeit. Ihn fesseln die kleinen Veränderungen, die nur ein aufmerksamer Flaneur wahrnimmt. Von 1992 bis 2002 hat Brohm mit einer Kleinbildkamera immer wieder das Aral-Areal durchstreift. Rund dreihundert der dabei entstandenen Aufnahmen decken im Fotomuseum Winterthur unsentimental und doch bestürzend das Muster heutiger Brachial-Sanierungen und Masterplan-Geländeversiegelungen auf.
Mit dem Wildwuchs der «terrains vagues» am Saum der Städte werden zugleich die Erinnerungen an störende Hässlichkeiten und Schattenseiten der Wohlstandsgesellschaft getilgt, die, wie «Areal» auch zeigt, Nischen für mancherlei Zwischennutzung bieten. Und wohin, die Frage stellt Brohms Arbeit implizit, werden nun Schmutz und Dreck der Produktion ausgelagert? Wohin verlagern sich die Zwischen- und Endlager des Gewerbes?
Manche Aufnahmen Brohms, die Abbruchholz und Schrott fast zu poetisch zelebrieren, erinnern nicht von ungefähr an die trendigen Installationen der Trash-Art. Sie bringen damit etwas Symptomatisches zu Bewusstsein: Dass nämlich der Trash ausgerechnet in der Kunst einer auf Perfektion eingeschworenen Gesellschaft seinen Siegeszug antreten konnte. Hingegen stört er im wirklichen Leben. Denn da sehnt man sich angesichts der heftigen Wirklichkeit lieber eine heile Welt herbei.
Die Aufnahmen sind einzelnen Jahren zugeordnet. Aber Brohm geht es um weit mehr als um sture Schematik oder die pedantische Repetition von Motiven. Sein Bilderparcours durch das Gelände folgt keinen fixen Routen oder Blickroutinen. Das Ganze beginnt an der Strassenkreuzung Hittorf-/Neusserstrasse. Doch schon bald schauen wir von einem Dach aus in einen Werkhof, dann wieder sehen wir die Rückwand eines alten Schrankes mit der Filzstift-Inschrift «Helmut» in Nahansicht.
Die Metamorphose der Fahrräder
Die Kamerastandorte schmiegen sich den Veränderungen des Areals an. Nach und nach erst gewinnt der Betrachter eine präzisere Vorstellung der kartografierten Zone. Doch dabei handelt es sich nur um die Illusion eines Gesamteindrucks. Denn im Laufe der Vermessungsaktion verändert sich die Gegend ständig. Ein Wellblechhangar wird blau, später kunterbunt bemalt und verschwindet schliesslich. Es tauchen Fahrräder in verschiedenen Alterungszuständen auf; die letzte Metamorphose sind die Mountainbikes der Kinder in der «Parkstadt».
Brohms Arbeit fesselt aber nicht allein durch ihre raffinierte erzählerische Webtechnik, die die Verflüssigung von Raum und Zeit festzuhalten versucht. Der Fotograf ist auch ein sensibler Ästhet, der den sinnlichen Reichtum an Farben und Strukturen, Materialien und Oberflächen der Werkhofwelt mit wahrer Hingabe und scharfem Auge erliegt. Jede Aufnahme ist durch die Wahl des Ausschnitts ein Kunstwerk; dabei wirken manche Kompositionen in ihrer surrealistischen Kombinationskomik so durchkalkuliert, dass man kaum noch an Zufall, sondern eher an die inszenierten Arrangements eines Jeff Wall denkt.
Die modisch bleiche, leicht milchige Tonigkeit der Farbabzüge, die auffällige, fast vollständige Abwesenheit von Menschen verleiht der Arbeit eine gespenstische Dimension. Die Geschichten, die sich zwischen Baumarkt, Diamant-Club, Radts Kantine und den Immobilienplakaten der Baywobau abgespielt haben mögen, bleiben ausgespart. Sie sind die Leerstelle, auf die Brohms melancholisches Spurenverzeichnis verweist.
Die «Areal»-Arbeit fasziniert; sie provoziert ein erschrecktes Innehalten, weil sie den systematischen, besinnungslosen Entzug von gewachsener Zeitgeschichte illustriert. Ein Vorgang, der Alexander Kluges berühmten Buchtitel vom «Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit» von 1985 in Erinnerung ruft. Wenn Kurator Urs Stahel im Kabinett des Museums zusätzlich die Porträts der französischen Fotografin Valérie Jouve zeigt, die Menschen wie Wahnfiguren in der urbanen Unbehaustheit festhält, liefert er das Personal zu Brohms meisterlicher Topografie von Suburbia.
Bis 5. 1. 2003, Katalog 59 Franken..
Text erschienen in: Tages-Anzeiger Zürich, 2002-11-25