Barbara Basting

Bilder eines hyperdokumentierten Krieges

Nie zuvor spielten Bilder eine so zentrale Rolle wie im Irak-Krieg. Dabei stehen der Fotograf Bruno Stevens und der Maler Gerhard Richter für zwei prägnante Positionen.

Im Vorfeld zur jüngsten Ausgabe des Festivals «Visa pour l'image» in Perpignan, wo alljährlich im September Fotojournalisten aus aller Welt ihre neuesten Reportagen präsentieren, sorgte diesmal die Jury für Aufruhr: Hatte sie doch vorgeschlagen, die Bilder aus dem Gefängnis von Abu Ghraib auszuzeichnen. Die Begründung: Diese Bilder seien schon heute globale Ikonen. Dass der Festivalpräsident Jérôme Leroy den Vorschlag ablehnte, weil der Preis nur an Autorenfotografie vergeben werde und er auch gar nicht wisse, wem erdas Preisgeld schicken solle - «vielleicht dem Weissen Haus» -, ist hier nur eine Fussnote.

Wettbewerb ums «wahre» Bild
Schon zu Beginn des Irak-Kriegs stand fest, dass die professionelle Kriegsberichterstattung allein auf Grund der technischen Entwicklungen der 90er-Jahre völlig neue Dimensionen annehmen würde. Besonders der vom Pentagon geprägte Begriff des «embedded journalism» stand für einen «Kulturwandel» (so Bryan Whitman, stellvertretender Abteilungsleiter für Öffentlichkeitsarbeit im Pentagon) im Wettbewerb ums richtige, «wahre» Bild.
Die Strategien im visuellen Wahrnehmungsmanagement sind gegenüber dem Golfkrieg 1991 und dem Bombardement Serbiens während des Kosovo-Konflikts 1999 deutlich verfeinert worden. Die Medien waren gewappnet: Sie wussten, dass sie mehr Bilder denn je bekommen würden. Ebenso klar war auch, dass sie diesem Bildmaterial mit grösserer Skepsis als je zuvor begegnen mussten. Nie war die Herkunft (ob al-Jazeera oder CNN), die Kenntnis des Absenders wichtiger.
Dennoch hat sich kaum jemand ausgemalt, dass der Irak-Krieg und die anhaltenden Kampfhandlungen derart «hyperdokumentiert» werden würden, wie der AP-Fotograf Jérôme Delay kürzlich bemerkte. Auffällig auch, dass es - vom brennenden Bagdad über die gestürzte Statue Saddam Husseins bis zur Entdeckung des Ex-Diktators im Dreckloch, von den getöteten Zivilisten über die geplünderten Museen bis zum gelynchten Soldaten von Falluja, bis zu den Bildern aus Abu Ghraib - für fast jede entscheidende Phase des Krieges ein «typisches» Bild gab, das um die Welt ging.
Zweierlei charakterisiert die meisten dieser Fotografien: Sie sind hoch emotionalisiert - und sie haben die Kontrollmechanismen, denen sie doch so effizient unterworfen werden sollten, völlig ad absurdum geführt. Aber mehr denn je stellte sich auch die im Zeitalter einer stark bildlastigen Medienberichterstattung ohnehin zentrale Frage, was für Aussagen diese Bilder transportierten.

Eines der härtesten Bilder vom Krieg
Mehr als ein Jahr nach Kriegsbeginn liefern zwei gewichtige Publikationen Antworten, die zunächst gegensätzlicher nicht ausfallen könnten.
Der 1959 geborene und bis 1998 hauptberuflich als Toningenieur tätige Belgier Bruno Stevens geht mit seiner umfangreichen Fotoreportage «Bagdad - Au-delà du miroir» zunächst den klassischen Weg der Dokumentation. Er tut dies - wie heute meist üblich - in Buchform. Stevens hat in Magazinen wie «Stern» und «Paris-Match» veröffentlicht und schon zweimal den wichtigen World Press Photo Award gewonnen. Wie viele Reporter hat er die heutigen Krisenherde von Afghanistan über den Kongo bis Palästina besucht. Der «New Yorker» publizierte vor kurzem ein Portfolio mit seinen Bildern aus Darfur (www.newyorker.com/online). Stevens hat auch während mehrerer Monate vor, während und nach Kriegsausbruch in Bagdad fotografiert.
Von ihm stammt eines der härtesten Bilder des Irak-Krieges, das mehrere europäische Zeitungen publizierten. Es zeigt in Nahaufnahme eine bei der Bombardierung eines Marktes in Bagdad abgerissene Hand. Das Skandalöse der Aufnahme liegt in ihrer Direktheit. Die Hand liegt in normaler Ruheposition auf einer grünen Holzplatte - und ist doch nur noch Fleisch. Das Foto ist so grausam, weil es völlig unpathetisch ist. «Dieses Bild musste gemacht werden, es konnte kein Tabu geben», antwortete Stevens auf Fragen nach den moralischen Grenzen der Fotografie. «Danach ist nur noch die Art und Weise entscheidend.» Stevens Bildsprache ist gerade dort, wo es ums Leiden und Sterben geht, so nüchtern wie überhaupt möglich. So vermeidet er den Mitleidskitsch.
Diese Aufnahme findet sich nun, zusammen mit einigen anderen Bildern von Opfern, auch in seinem Buch. Aber es ist nicht wegen seiner Schockbilder ein Markstein, Im Gegenteil, der Fotograf tut alles, um die Sensation des Grauens zu vermeiden, die Exzesse einzubetten - in einem anderen Sinne freilich als das Pentagon.
Die Publikation ist aus anderen Gründen von herausragender Bedeutung und vergleichbar etwa mit «Vietnam Inc.» von Philip Jones Griffith oder «Farewell to Bosnia» von Gilles Peress. Zunächst ist Stevens der erste Fotograf, der seine Fotografien vom Irak-Krieg zu einem komplexen Bildbericht komprimiert hat. Zudem hat er dies auf so facettenreiche Weise getan, dass Propagandisten jeglicher Couleur es schwer haben dürften, seine Bilder zu vereinnahmen. Die Aufnahmen von Opfern des Saddam-Regimes stehen in der Nähe solcher, die die primitive Freude der Palast- und Museums-Plünderer zeigen. Der Jubel über die Befreiung vom Diktator und die brutalen Übergriffe von GIs werden ebenso direkt miteinander konfrontiert. Entscheidend dabei ist: Stevens beweist zwar ein sicheres Auge für die ästhetische Dimension, die zur Wirkung einer Fotografie beiträgt. Aber er ordnet ihr sein humanitäres Engagement nie unter. Wenn es hart auf hart geht, ist er ein trockener, geradliniger Beobachter. Das Herunterdimmen des Pathos in der Kriegsberichterstattung ist vielleicht die einzig mögliche Herangehensweise, um das «Leiden anderer» (Susan Sontag) so zu zeigen, dass Bilder kein rührseliger Ersatz für vernachlässigtes politisches Denken und Handeln werden.

Eine Zeitkapsel voller Text
Die andere Publikation heisst «War Cut». Es ist ein «Künstlerbuch» von Gerhard Richter, dem international bekanntesten deutschen Maler. Sein RAF-Zyklus (1989; heute im MoMA New York) über den Tod der Baader-Meinhof-Terroristen 1977 ist einer der bedeutendsten Beiträge zu einer neueren Historienmalerei, einer triftigen künstlerischen Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte.
Ausgerechnet Richter, der besonders für seine frühen Gemälde (ab 1962) oft fotografische Vorlagen verwendete, etwa Aufnahmen von Kampfflugzeugen, Bombenabwürfen oder zerstörten Städten, verzichtet in «War Cut» auf jede Gegenständlichkeit. Der Bildteil des Buches besteht aus 216 Detailaufnahmen, die er 2002 von seinem «Abstrakten Bild Nr. 648-2», (1987) anfertigte. Für den Textteil hat Richter die FAZ vom 20./21. März 2003, vom Tag des Kriegsbeginns und jenem zuvor, als Rohmaterial verwendet. Richter hat jede Buchdoppelseite in vier postkartengrosse Segmente unterteilt. Jedes Segment kann wahlweise Text oder Bild enthalten, und alle möglichen Kombinationen - von der ganz leeren Seite (am Anfang) über die diversen gemischten Bild-Text-Seiten bis zur reinen Bild/reinen Textseite (in der Mitte des Buches) - spielt er nun völlig stur durch. Die Zeitungstexte laufen ohne Auszeichnungen - also ohne typografisch markierte Autoren- oder Titelzeilen - durch.
Die Collage «War Cut» musste sich den Vorwurf des Formalismus gefallen lassen. In einem Gespräch mit dem Richter-Kenner und Kunstkritiker Jan Thorn-Prikker rechtfertigte der Maler sein Vorgehen: «Je dramatischer die Ereignisse sind, desto wichtiger ist die Form.» Dennoch: Die Wahl eines abstrakten Bildes, in das sich manches von der Feuersbrunst bis zum Totenkopf hineinsehen lässt, liess «War Cut» als unpassende, weil ästhetizistische Reaktion auf den Krieg erscheinen.
Blättert man das Buch aber nicht nur durch, sondern liest auch darin, verändert sich diese Einschätzung. Richter hat zwar eine absichtlich zufällige Auswahl von Texten getroffen. Aber sie spiegelt erstaunlicherweise sehr gut die Stimmung, die Ängste und Hoffnungen, kurz das mentale Klima bei Kriegsbeginn. Mehr noch, gerade weil Richter die Ressorts durcheinander wirbelt und die Autoren unterschlägt, entsteht ein fast homogener Text, der von der Spekulation über die Entwicklung des Ölpreises bis zum wütenden Artikel der Schriftstellerin A. L. Kennedy zur Politik Tony Blairs all die Themen berührt, die damals die Diskussionen prägten. Richter legt hier eine Zeitkapsel im Sinne Warhols an. Aus der Informationsüberfülle greift er einen willkürlichen Ausschnitt heraus - und erreicht genau damit ein erstaunlich präzises Abbild der medialen Vermittlung, die im Falle einer Qualitätszeitung bei aller Parteilichkeit doch eine fortlaufende, erstaunlich differenzierte Chronik der Ereignisse liefert. Zugleich spiegelt sie auch die kühle, professionelle Distanz des News Business wider: Es ist Krieg, und alle schauen zwar hin, am Ende aber ist es doch ein Konflikt wie viele andere, der «gecovert» wird.

Das Nichtabbildbare
Warum aber verzichtet der Künstler ausgerechnet auf Fotografien? Richter hat in seinem bisherigen Schaffen viel über Fotografie - auch im Verhältnis zur Malerei - und ihre Macht in der Mediengesellschaft nachgedacht. Wenn er also mit «War Cut» einen gezielten Entzug dokumentarischer Bilder probt, darf man dahinter ein Kalkül vermuten. Die emotional besetzten Bilder vom Geschehen, die «Ikonen», wir haben sie sowieso längst im Kopf, können sie unmittelbar abrufen. Was uns aber entschwindet, was wir vielleicht sogar nie wirklich zur Kenntnis genommen haben vor lauter Bildern, sind die in Texten festgehaltenen Hintergründe, das Nichtabbildbare einer nuancierten Berichterstattung. Dass diese von bestimmten Interessen geprägt ist - etwa den Auswirkungen eines Krieges auf die Wirtschaft -, wird dabei ebenfalls sichtbar.
Der Künstler kennt die Erwartungshaltung des massenmedial getrimmten Publikums - und denkt nicht daran, sie zu bedienen: «Die Leute warten doch bloss, dass sie Leichen sehen. Sie sind ja begierig auf Sensationen», hatte Richter in einem früheren Interview mit Thorn-Prikker gesagt. «Fotos sind doch fast Natur. Und wir bekommen sie sogar frei Haus, fast so ungestaltet wie die Wirklichkeit, nur kleiner. Wir wollen doch diese schrecklichen Bilder sehen, sie ersparen uns vielleicht sogar die öffentlichen Hinrichtungen, vielleicht sogar die Todesstrafe.»
Damit ist er gar nicht so weit von den Einsichten entfernt, die Bruno Stevens anlässlich seiner Arbeit «Fences» (über den israelischen Mauerbau) 2003 formuliert hat: «Die öffentliche Weltmeinung ist die Geisel der globalen Newskultur, die diktiert, welche Informationen die Massen erreichen. Normalerweise werden eher "harte Ereignisse gezeigt als Spannungen, als Ursachen oder Folgen eines Konflikts.» Es klingt widersprüchlich, aber sowohl das Fotobuch von Stevens mit seiner unbestechlichen Haltung wie auch das überlegte Ausweichmanöver Richters sind wichtige Inseln der Reflexion, dringend nötige Widerstände innerhalb des stetigen Bilderflusses.
Bruno Stevens, Bagdad - Au-delà du miroir, Ludion Press, Gent 2004, 239 Seiten, ca. 40 Euro (www.ludion.be). (Auch auf Englisch erhältlich.)
Gerhard Richter, War Cut, Verlag der Buchhandlung Walter König, Köln 2004, ca. 324 Seiten, 58 Euro.

Tages-Anzeiger, 12.10.2004; Seite 12