Barbara Basting

Das Weltbild eines grossen Pixel-Regisseurs

Andreas Gursky bannt mit seinen Fotografien die internationale Kunstszene. Im Haus der Kunst in München  zieht er das Publikum in Scharen an.

Die Fotografie heisst «99 Cent» und zeigt einen amerikanischen Supermarkt mit lauter Artikeln zu diesem  Preis. Bei den jüngsten New Yorker Auktionen erzielte sie die Rekordsumme von 2,26 Millionen Dollar.
Andreas Gurskys Fotografien behaupten sich seit Jahren als die teuersten Fotografien aller Zeiten im Markt. Haben die Käufer gesehen, dass links oben in der Ecke von «99 Cent» Gevatter Tod, in Form eines bekleideten Skeletts, über dem Billigkonsum-Paradies thront? Vielleicht nicht. Gurskys Bilder werden umso geheimnisvoller, je genauer und länger man hinschaut. Ist beispielsweise das Skelett digital hineinmontiert, oder stand es tatsächlich in diesem Laden, in dem Gursky fotografierte, um Rohmaterial für seine Collage zu gewinnen? Um eine solche nämlich handelt es sich. Nur gibt es in der digitalen Welt keine Klebspuren.

 Convenience Food fürs Auge

 Beide Lesarten sind möglich. Und das ist auch der Clou dieser Bilder: Der plakative Überwältigungseffekt und die aus dem Alltag bekannten Sujets wie moderne Bürogebäude, gestylte Läden, Börsen, Popkonzerte, Natur, Müllkippen, Fabrikhallen, neuerdings auch Formel-1-Rennen und nordkoreanische Volksparaden, machen sie leicht zugänglich. Convenience Food fürs Auge sozusagen.
 Doch kaum ist man geködert, und das geht schnell, fängt das Rätselraten an: Ist das, was wir da sehen, denn die Möglichkeit? Der vage Eindruck, dass irgendwas nicht stimmt, stellt sich bald ein. Aber was genau ist falsch? In Gurskys fantastischer Schau im Münchner Haus der Kunst, zugleich der ersten grossen Präsentation neuer Werke seit seiner enthusiastisch aufgenommenen Retrospektive im New Yorker MoMA 2001, beschäftigt dies das zahlreiche Publikum sichtlich. Selten sieht man Ausstellungsbesucher so engagiert vor Bildern diskutieren wie hier.
Zum Beispiel das ältere Ehepaar; er erklärt ihr in breitem Bayrisch Details, an denen sich die digitale Montagearbeit Gurskys erkennen lässt. Oder die beiden Schülerinnen, die genauestens untersuchen, was für Artikel in dem 99-Cent-Supermarkt verkauft werden. «Guck mal, englischer Rasierschaum, aber soll das nicht in Amerika sein?» Und mit der Zeit kapieren sie, dass da verschiedene Regalstreifen aneinander gesetzt wurden und der Supermarkt eine ziemliche Bastelei ist. Oder Mutter und Tochter vor den betörenden neuen Bildern des Archipels der «Bond Islands»: Mit der coolen Kennerattitüde einer Kunstgeschichtsstudentin erklärt die Tochter der Mutter, dass es sich um die immer gleichen Inseln handle, die Gursky nur gedreht und versetzt hat. «Sieht man ja an den Booten.» In der Tat. Gefesselt bleibt das Publikum vor den Formel-1-Reifenwechseln stehen; kein Wunder, hat Gursky hier mit der Mehransichtigkeit ein und derselben Person doch eine erzählerische, zeitliche Dimension in die Fotografie hineingenommen, die wie eine Weiterentwicklung von Eadweard Muybridges Bewegungsstudien aus der Frühzeit der Fotografie anmutet.
Selten pfeilen in einer Ausstellung so viele Zeigefinger in Richtung Bild. Selten auch sieht man die Leute so viel hin- und hergehen, den richtigen Bildabstand suchen, ganz nah ran für die Details, dann wieder weit weg für die ornamentale Gesamtwirkung, die an abstrakte Gemälde erinnert, oder um zu kapieren, was hier mit der Perspektive los ist. Gerade in den jüngsten Bildern ist nämlich die Zentralperspektive, auf die der europäische Blick seit der Renaissance getrimmt ist, nur vordergründig beibehalten; in Wirklichkeit hat Gursky sie längst aufgelöst. Gurskys Bilder, die so oft von dirigierten und manipulierten Menschenmassen erzählen, zwingen so auch den Besuchern eine Choreografie auf. Dass es kein Gedränge gibt, hat nur mit der wuchtigen Grösse der Hauptsäle dieses einst von Hitler konzipierten Hauses zu tun. Selbst Gurskys  Formate wirken darin fast wie Briefmarken.

 Pathos, Made in Germany

 Ein gewisses Unbehagen weckt sie natürlich schon, diese aktuelle Begeisterung fürs pathetische Grossformat made in Germany. Ihr Pendant hatte sie in der soeben beendeten Schau mit den Gemälden Neo Rauchs in Wolfsburg. Rauchs wie Gurskys Ausstellungen wurden im deutschen Feuilleton mit doppelseitigen Bildauftritten euphorisch propagiert; über Gursky wurde sogar in der «Tagesschau» der ARD, sonst nicht eben ein Kulturforum, breit berichtet.
Zwiespältige Assoziationen weckt auch, dass im Zusammenhang mit beiden Künstlern immer wieder die Vokabel von der «zeitgenössischen Historienmalerei» bemüht wird. Gursky gilt sogar, das ist eine Steigerungsform, als «Historienmaler der globalisierten Massengesellschaft». Warum interessiert man sich heute erneut für Künstler, die Bilder mit gesellschaftlichem Verständigungs- und Identifikationspotenzial liefern? Denn keinem anderen Zweck dienen Historienbilder schliesslich. Sie hatten ihre letzte wirkliche Glanzzeit im 19. Jahrhundert; der bildkritischen Moderne waren sie als Gattung mit gutem Grund obsolet. Und warum macht man ihre neuesten Exponenten ausgerechnet in Rauch und Gursky aus?
Vielleicht sogar gerade, weil beide Künstler mit allen Wasser der Moderne und Postmoderne gewaschen sind und sie ihr Werk, so imposant-grossmächtig es wirkt, gegen schnelle Vereinnahmungen imprägniert haben. Denn beide arbeiten mit einem hochkomplexen Bildbegriff. Das erlaubt es selbst Skeptikern, die Reserve abzulegen. Ohne den Vergleich weiter zu strapazieren, eines ist klar: Rauch wie Gursky streben eine vielfach gebrochene Darstellung von Wirklichkeit an. Es werden hier, ob malerisch oder mit dem digitalen Pinsel, Bildräume geschaffen, die alles andere als einfach zu erfassen sind.

 Das Ornament der Masse

 Es ist aufschlussreich, dass Gursky in der zusammen mit Kurator Thomas Weski erarbeiteten Retrospektive sein noch vor der Photoshop-Ära entstandenes Frühwerk konsequent mit neueren, ja atelierfrischen Arbeiten mischt. Sicher, er hat die in den späten 80er-Jahren entstandenen Aufnahmen von Landschaften am Niederrhein, den Niagarafällen oder von Nebelschwaden im Gebirge inzwischen koloristisch am Computer nachbearbeitet; aber im Wesentlichen zeigen sie, neben einem romantischen Einschlag, vor allem sein Interesse an Situationen, in denen der Mensch nicht oder nur als Ornament vorkommt.
In den jüngsten Arbeiten - etwa der kühnen Montage einer Autorennstrecke in Bahrain oder dem apart designten Kurvenmuster aus Elementen der Rennstrecke in Monte Carlo - ist die Manipulation auch für Laien schnell erkennbar. Aber selbst diese Bilder wirken zunächst wie abbildhafte Darstellungen der Wirklichkeit. Gursky will mit dieser Durchmischung der verschiedenen Werkphasen zeigen, dass Fotografie für ihn kein Medium der Abbildung, sondern eines der Konstruktion von Wirklichkeit ist, entgegen unseren Sehgewohnheiten.
Nach wie vor ist dies auch der faszinierendste Aspekt von Gurskys Arbeit, selbst wenn sein Faible für Massenszenen aller Art neuerdings mehr für die modische politische Lesart spricht und Gursky selber sein Projekt als globale Enzyklopädie der Gegenwart charakterisiert. Denn Gurskys Interesse an den Massen und ihrer Manipulation (die er durch seine Bildmanipulation noch verdoppelt: der Fotograf als Pixel-Regisseur) ist ein Interesse, das, um Siegfried Kracauer zu zitieren, in der Masse vor allem das Ornament sieht. Und genau diese Ästhetisierung weckt denn auch gewisse Vorbehalte seinem Anspruch auf Gegenwartsanalyse gegenüber. Gurskys grössere, überzeugendere Leistung ist und bleibt die kritische Demontage unseres naiven Glaubens an Bilder.


Tages-Anzeiger, 2007-03-27; Seite 53