Barbara Basting
Alice im Pixelpark
Seit nunmehr zwanzig Jahren bietet das Festival Ars electronica in Linz
einen aktuellen Überblick über den jeweils neuesten Stand der
künstlerischen Auseinandersetzung mit elektronischen Medien, neuen
Technologien und deren gesellschaftlichen Auswirkungen.
Rebecca Allen ist Professorin am Department of Design der University of
California, L.A., und Künstlerin. Ihre interaktive Computerarbeit "Bush
Soul", mit der sie am diesjährigen Festival Ars electronica, dem
Mekka der Cyberpilger, vertreten ist, basiert auf einer hochentwickelten
Software und versteht sich gleichzeitig als Kunst. Damit ist sie repräsentativ
für viele der hier gezeigten und prämierten Werke. Diese versuchen,
avancierteste Technologien für eine neue künstlerische Grammatik
fruchtbar zu machen. In "Bush Soul" kann der Benutzer-Betrachter
mittels eines Joysticks seine Seele in Avataren, künstliche Stellvertreter,
hineinversetzen, die er dann durch eine virtuelle Landschaft dirigiert.
Die Avataren gewähren der Benutzerseele allerdings nur kurzzeitig Gastrecht,
ausserdem haben sie einen "Charakter" und machen nicht alles,
was der Joystick-Dirigent will. Der Joystick zuckt und ruckt dann heftig
in der Hand.
Die smarte Professorin kommt aus dem Computergame-Business. Doch ihr
Interesse gilt neuen, eher reflexiven Anwendungen, die die Wettkampszenarien
der Games überwinden. Zweieinhalb Jahre Arbeit zusammen mit einem Team
von Assistenten, die programmiert und Landschaften entworfen haben, stecken
in "Bush Soul". Solch lange Entwicklungszeiten sind ebenso wie
die Teamarbeit, so erfährt man auch von anderen Künstlern, für
derlei Arbeiten üblich und unumgänglich. Allen zielt mit ihrem
Werk auf den Kunstmarkt. Allerdings denke sie eher an Institutionen, erklärt
die Künstlerin mit schlauem Lächeln. Derlei Arbeiten sollten fürs
Publikum zugänglich sein. Auch wenn manche Kritiker sicher noch eine
Weile lang fragen, was daran Kunst ist.
Noch in anderer Hinsicht ist Allen repräsentativ für die Zunft:
Eine Grenze zwischen Kunst und raffinierter Softwareentwicklung zu ziehen,
hält sie weder für möglich noch für nötig. Warum
sich die novitätensüchtige Kunstszene noch nicht auf Cyberart
gestürzt hat? "Es besteht noch keine tragende Infrastruktur, ein
Netz von Kuratoren, Kritikern, Museumsleuten, die verstehen, was passiert."
Kommt hinzu, dass gerade interaktive Cyberart erfahren werden muss, schlecht
dokumentiert werden kann. Sie steht also, was ihre massenhafte Verbreitung
betrifft, dort, wo die Malerei vor Erfindung des Vierfarbendruckes stand.
Die "Ars electronica", die dieses Jahr ihr zwanzigstes Jubiläum
mit gebührendem Stolz und grossem Bahnhof feiert, präsentiert
sich in ihrem Kunstteil als wuchernder Pixelpark der Ideen und Visionen.
Die schwindelerregende Fülle von manipulierbaren Interfaces, digitalisierten
Soundscapes und virtuellen Bildern erzeugt beim Besuch eine Mischung aus
Faszination und Skepsis. Faszination, weil viele Werke und die Begegnung
mit den anwesenden Künstlern signalisieren: hier ist der Link zur Zukunft
oder wenigstens zur Zukunftssucht. Skepsis, weil weder die Grenzen zwischen
angewandter Technologie, Spielerei, Kunst, Kritik mühelos auszumachen
noch die aktuellen Mythen des Cyberspace leicht zu entlarven sind. Auch
scheint der Erkenntnisgewinn nicht immer auf der Höhe der Form.
Doch mit solchen Zweifeln deklariert man sich bei den Adventisten des
elektronischen Zeitalters als Spielverderber. "Kunst als Enklave der
Kritik wird obsolet, ja sogar verantwortunglos", antwortet Gerfried
Stocker vom Leitungsteam auf den gegenüber der "Ars electronica"
hartnäckig bestehenden Verdacht allzu grosser Technologiefreundlichkeit.
Gerade dort, wo die Künstler mit ihren Beiträgen wichtige aktuelle
Themen bearbeiten wollten - etwa die derzeit hochbrisante Debatte um Bio-
und Gentechnologie, die das diesjährige Motto "Life Science"
des Festivals geliefert hat - , seien sie ohnehin auf die Zusammenarbeit
mit den Experten der entsprechenden Industrie angewiesen. Derlei kann man
zwar bestreiten, und gewitzte Arbeiten wie das "Creative Gene Harvest
Archive" der Künstlergruppe Gene Genies Worldwide/USA - es versammelt
Haarproben von Koryphäen der Forschung zum Zweck der späteren
genetischen Rekonstruktion - ermutigen dazu. Doch für ein Laboratorium
wie die Ars electronica, das an der Schnittstelle zwischen Kunst und Technologie
operieren will, drängt sich dieser offensive Ansatz auf. Fragwürdig
wird er, wo er jene von der Mitsprache ausschliesst, die nicht auf der
schwindelerregenden Höhe der Debatte respektive dem letzten Stand der
Technologie sind.
Deren verführerische, aber auch nachdenklich stimmenden Seiten zeigen
die Werke der Preisträger des renommierten "Prix Ars Electronica"
aus diversen Kategorien von Netart über Computeranimation bis zur interaktiven
Computerkunst. In dieser Sparte gibt es betörende Interfaces wie "HAZE
Express" von Christa Sommerer und Laurent Mignonneau zu bewundern:
eine Fahrt im Nachtexpress, den Blick aus dem Zugfenster fesseln farbige
kristalline Strukturen, die sich auf Berührung hin verändern.
Lynn Hershmans "Difference Engine #3" (Goldene Nica für
"Interactive Art" ), eine "interaktive Multi-User-Skulptur
zum Thema Überwachung, Voyeurismus, digitale Absorption und spirituelle
Transformation", fordert den Betrachter mit ihrem hohen konzeptuellen
Anspruch heraus. Daniel Rozins "Easel" ist ein ironischer Widergänger
der Malerei. Auf einer Leinwand kann man mit einem realen Pinsel, der in
virtuelle Farbtöpfe getaucht wird, sein eigenes Pixelporträt verändern,
das eine über der Staffelei montierte Kamera aufgenommen hat. Der Reiz
verliert sich leider relativ schnell. Bemerkenswert Luc Courchesnes "Landscape
One", wo man mit virtuellen Personen in einem Park Kontakt aufnehmen
und auf diese Weise den Park erforschen kann. Das braucht - wie viele der
gezeigten Werke - Zeit und Geduld, will man über die banal wirkende
Einstiegsebene hinausgelangen.
Überhaupt scheint es ein Kennzeichen neuester Cyberart zu sein,
dass sie den auf momentanes Erfassen von Bildern und Situationen konditionierten
Blick wieder zu mehr Ausdauer zwingt. Das Stadium der virtuosen Effekthascherei
ist allmählich überwunden. Der Weg führt zwar nicht zurück
ins Holozän der Kunst, als Bilder rar und Gegenstand der Kontemplation
waren. Aber er führt zum Verweilen vor einem Bildschirm, einer Benutzeroberfläche,
in einer interaktiven oder gar immersiven Struktur, deren Geheimnisse sich
nicht im Vorbeigehen erschliessen und deren Qualität sich nicht zuletzt
daran bemisst, wie stark sie den Betrachter-Benutzer für ihr Forschungsanliegen
oder ihre erzählerische Bildregie zu gewinnen vermögen. An die
Grenzen der Geduld des Besuchers stossen dabei Künstler wie Eduardo
Gac mit "Genesis", deren ausgeklügelte Langzeitprojekte visuell
unbefriedigend sind. Auch beim "Hamster"-Projekt (Christoph Ebener,
Frank Fietzek, Uli Winters), einer Versuchsanordnung, die eine "Symbiose
zwischen einer Hamsterpopulation und einer Gruppe intelligenter Roboter"
vorführt, werden dem Besucher greifbare Resultate vorenthalten.
Die "Ars electronica" ist eine pulsierende Informationsbörse.
Auf direkte Weise findet der Austausch in "OpenX" statt, wo die
Betreiber unkonventioneller, nichtkommerzieller Netprojekte an Computern
auf neugierige Besucher warten. Ernest, kalifornischer Netaktivist beim
Projekt "rtmark" (http://rtmark.com), das für subversive
netzkritische Aktionen unter Insidern recht bekannt ist, zeigt auf seinen
Bildschirmen die Homepage von Novartis, deren Kooperation am "LifeScience"-Symposium
Turbulenzen ausgelöst hat. Natürlich eine Leimrute, denn "60
Jahre Sponsoring in Linz 1939-1999" sind sein eigentliches Thema. Die
Gruppe "c5" (http://www.c5corp.com) aus dem Silicon Valley verunsichert
mit abgehobenen Forschungen zum Informationsfluss im Netz; zu greifbareren
Zwecken benutzt dieses der unabhängige serbische Sender B92 (http://www.freeb92.net).
Die Vernetzung der Cyberart-Szene schreitet ebenfalls fort: ENCART, das
"European Network for Cyberart" ( http://www.encart.net)) soll
in Zukunft als gemeinsame Netz-Arbeitsplattform von vier führenden
europäischen Medienkunstinstituten (Ars Electronica Linz, C3 in Budapest,
V2 in Rotterdam und ZKM Karlsruhe) dienen; neben Seminaren, Vorträgen
und Workshops will man auch Artists-in-Residence-Programme gemeinsam organisieren.
Bemerkenswert ist das Suchsystem "Starrynight", mit dem das expandierende
Web-Kunstarchiv Rhizome (http://www.rhizome.org) aufwartet. Mark Tribe,
der Rhizome seit 1996 betreibt, erzählt, wie ihm die Idee dazu vor
einigen Jahren während einer Ars electronica kam. "Damals war
dieses Festival die einzige Möglichkeit, solche Kunst zu sehen. Es
wurde mir klar, wie wichtig es wäre, ein Forum für den kritischen
Diskurs zu entwickeln, der die Entstehung neuer Medien unbedingt begleiten
muss." Jenseits der grossen Themen und Namen, denen man in Linz auf
Schritt und Tritt begegnet, zeigt OpenX, dass die virtuelle Landkarte noch
genügend weisse Flecken für einfallsreiche Denker, Macher, Pioniere
bietet.
Ausstellung prämiierter Beiträge im OK Centrum für Gegenwartskunst
bis 19. September; Dauersausstellung neuer Cyberart im Ars Electronica Center.
Katalog der prämiierten Arbeiten aller Sparten: "Cyberarts 99",
Springer Verlag Wien/New York, Katalog "Life Science" . (www.aec.at)