Barbara Basting
Zwischen Konformismus und Kunst
Die 8. Video-Biennale in Genf zeigt Tendenzen des Dokumentarfilms.
Mit der Digitalisierung der Bilder verschwimmen allmählich die Grenzen
zwischen Film und Video. "Die Genres mischen sich, beeinflussen einander
gegenseitig, der gemeinsame Nenner ist, dass sich Bilder auf einem Bildschirm
bewegen", diagnostizierte kürzlich Freddy Buache, Gründungsdirektor
der schweizerischen Cinémathèque in Lausanne. Die "Semaines
Internationales de Vidéo", die seit 1985 am Genfer Centre Saint-Gervais
ausgerichtet werden und eine der wichtigsten und ältesten Veranstaltungen
ihrer Art in Europa sind, haben aus dieser Diagnose die Konsequenzen gezogen.
Sie nennen sich fortan "Biennale de l'image en mouvement". Um
bewegte Bilder, unabhängig von der Technologie, der sie ihr Entstehen
verdanken, soll es in Zukunft gehen.
Für die beiden Organisatoren André Iten und Simon Lamunière
stand, wie der Titel "Autres fictions - Autres vues - Autres lieux"
ankündigte, dieses Jahr neben der Frage nach den Interferenzen zwischen
den Genres und Gattungen, zwischen Dokumentation, Fiktion, Kunst, vor allem
jene nach neuen Präsentations-, Produktions- und Vertriebsformen im
Vordergrund. Jean-Luc Godard, Galionsfigur und Veteran einer Filmarbeit,
die sich den massiven Zwängen, Konventionen und Erwartungen der Kinomaschinerie
beharrlich entgegenstemmt, stand Pate. Mit selten gezeigten Filmen aus den
siebziger Jahren war er auch prominent vertreten.
Wer sich den Gesetzen der finanzkräftigen Traumfabriken entziehen
will, findet ein Asyl am ehesten im Kunstbetrieb. Das wurde in Genf exemplarisch
am Weg der Produktions-Gruppe "Anna Sanders Films" deutlich. Nur
erweisen sich solche Ausweichmanöver als zweischneidig, da auch der
Kunstbetrieb Erwartungen hegt. Chris Dercon, heute Direktor des Boymans-van-Beuningen-Museum,
stellt daher in seinem äusserst anregenden Filmessay "Still/A
Novel" (1996) im Anschluss an die elegische Frage nach dem Ende des
Kinos jene nach möglichen Erben. Damit erfasst er den Ausgangspunkt
für eine weitreichende Debatte: Wie und wo sehen wir in Zukunft experimentellere
Filme, wenn die verkrusteten Strukturen der Filmindustrie, die streng definierten
Sendegefässe des Fernsehens die Vorauswahl immer stärker reglementieren?
Der von Dercon befragte Künstler Hartmut Bitomsky schlägt
vor, Museen mehr als bisher für neue Darstellungsformen zu öffnen,
sie als privilegierte Orte einer Auseinandersetzung mit jenen bewegten Bildern
zu verstehen, die dem Konformitätsdruck der Mediengesellschaft widerstehen.
Für das herkömmliche Selbstverständnis der Museen, die sich
gerade mit der Präsentation von Videos, sofern sie nicht in eine Installation
eingebunden sind, eher schwertun, wäre dies eine ernsthafte Herausforderung.
Dass nicht allein die äusseren Umstände der Produktion, sondern
auch die technologischen Normen des Mediums Video dessen Standardisierung
zur Folge haben, geht aus dem von der Biennale veranstalteten Wettbewerb
hervor. Die nach oben schnellende Zahl der Einsendungen - 727 Bänder
(gegenüber 567 vor zwei Jahren) hatte die Jury zu bewältigen -
zeigt das inflationäre Interesse gerade jüngerer Künstler
an audiovisuellen Medien. So attraktiv diese vordergründig sind, so
einfach die Handhabung zunächst erscheint, so heikel ist der Umgang
mit den vorprogrammierten Effekten. Die Jury beklagt denn in ihrem Bericht
auch einen "Video-Konformismus". Es zeichne sich eine Einheitsästhetik
ab, die fälschlicherweise als charakteristisch für das Medium
verstanden würde. Besonders die Zeitlupe und diverse Überblendungstechniken
erfreuten sich grosser Beliebtheit, führten aber häufig zu einer
Nivellierung der Arbeiten, zum Verlust der individuellen Handschrift. Die
gezeigte Vorauswahl von 36 Arbeiten würdigte als hervorstechende Tendenz
die neue Ausmarchung der Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion, Bericht
und Inszenierung.
Der erste Preis ging folgerichtig an den Libanesen Walid Ra'ad für
einen Dokumentarfilm, der den Libanonkrieg im Mosaik subjektiver Erzählungen
spiegelt, der zweite ex aequo an Ursula Biemann (Schweiz) für "Performing
the Border", einen eher klassischen Bericht über mexikanische
Grenzgängerinnen in Amerika und an Rainer Hallifritzsch, Ulrike Hemberger,
Karl Hofmann (Deutschland) für "Die 3. Generation des Wohlfühlens",
einen Film, der am Beispiel der Inbesitznahme des Potsdamer Platzes durch
Mercedes Benz neue Formen des Kapitalismus reflektiert. Preise erhielten
auch Ken Kobland (Amerika) für eine lyrische Studie über die Ost-West-Migration
und Nicolas Fernandez (Deutschland) für "Sein Zeit", einen
Essay über elementare Gesten.
Die kleine Ausstellung des Centre belegt die von der Jury festgestellte
Renaissance des unkonventionellen Dokumentarfilms mit herausragenden Beispielen.
Fiona Tan etwa hat Ausschnitte aus frühen Filmen von Forschungsreisenden
in Asien montiert. Strassenszenen, Besuche bei Eingeborenen, Gruppenbilder,
wie man sie von der Fotografie her kennt. Deren zeitenthobene Starre wird
hier in einem so grotesken wie traurigen Inszenierungs-Ballett aufgelöst,
das die emsigen Filmkurbler ihres unsensiblen Voyeurismus überführt.
Zwischen Dokumentation und Kunst hingegen bewegen sich Andree Korpys und
Markus Löffler in "Ruhleben", einer langsamen, unendlichen
Kamerafahrt durch verlassene Kasernen der Russen und Amerikaner bei Berlin.
Die Ruinen der jüngsten Geschichte wirken umso beklemmender, als auf
die Dokumentarfilm-Konvention der erklärenden, vermittelnden Off-Kommentare
radikal verzichtet wird.
Centre pour l'image contemporaine Saint-Gervais, Genf, Ausstellung bis 12.
Dezember. Katalog der Biennale (französisch/englisch) 30,- Franken.
www.centreimage.ch
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