Das Netz als Literatur, die Literatur im Netz
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zur Folge
Präzise, wenn auch im Verbot, ist hier das literarische Potential des Internet umrissen: Algorithmik, Text als Echtzeitkommunikation und die Konstruktion fiktiver Identitäten - somit die Fusion von Schrift und Spiel. Ansätze solcher Netzliteratur zeigen Harsdörffers poetisch-mathematische Gesellschaftsspiele, aber auch Briefromane wie Diderots gefälschte Kloster-Korrespondenz.
"Das Ende der Bücher" hatte Robert Coover im New York Times Book Review verkündet und den Eden des elektronischen "Hypertexts". Der "Hypertext", der nicht mehr von Seite zu Seite fließt, sondern aus Textpassagen geknüpft ist, die durch Sprungmarken aufeinander verweisen, breche die vermeintliche Linearität des Buchs auf. Er verhilft, so schließt der Leser, der literarischen Postmoderne zur adäquaten Schreib- und Lesetechnologie.
eratur
Coover meldete sich aus dem Zentrum der "Hypertext"-Poetik, der amerikanischen Brown University, wo man gerade versucht hatte, das narrative Potential von Borges' Kurzgeschichte "Der Garten der Pfade, die sich verzweigen" auszuschöpfen und den fiktiven Totalroman des Ts'ui Pên durch elektronisch montierte Parallelerzählungen Realität werden zu lassen. Sein Manifest, vier Jahre ist es schon alt, beschreibt heute keine Utopien mehr, sondern Alltagsästhetik, denn der Durchbruch des Internets zum Massenmedium kam mit seiner neuen "Hypertext"-Oberfläche, dem nunmehr ubiquitären World Wide Web. Es scheint, als hätten sich seine Erfinder am Genfer Forschungszentrum CERN auf die Abkunft des "Text" vom lateinischen "textum", dem Gewebe, besonnen und eine letzte, profane Version jenes Allbuchs installiert, das schon in der Kabbalah, von Novalis, Mallarmé und Borges erdacht wurde. So mag, wer Literatur im Netz sucht, das Netz selbst für Literatur halten, für einen Weltroman in Echtzeit, montiert aus archivierten und telegrafierten Texten und den schriftlichen Befehlssequenzen, die selbst noch die Bildschaltflächen der Browser und die anklickbaren image maps der Web-Seiten versenden. Das Internet ist das erste neue Medium des zwanzigsten Jahrhunderts, das auf Schrift basiert. Als rekursives Gebilde aus Textspeichern, Telegrafie und Algorithmik vereint es Buch, Bibliothek, Salon und Maschine. Doch anders als Borges' Fiktion vermag es sich Totalität nicht zu erdichten. Es muß sie mühsam vortäuschen, indem es Verweise an Verweise knüpft und seinen Katalog durch Einverleibung verschleiert. Der größte Web-Index Alta Vista kennt zur Zeit dreißig Millionen Seiten; sie ergeben, nimmt man eine durchschnittliche Seitenlänge von zehn Kilobyte an, eine Textmenge, die gut 150.000 Bücher füllen könnte, was dem Bestand einer besseren Stadtbücherei entspricht. Mit 8,7 Millionen Bänden hortet die Berliner Staatsbibliothek das sechzigfache Volumen.
Wahrscheinlich sind es erst die imaginären Codes, die das Internet zum "Netz" schlechthin verklären, zum Erhabenen und zum Unheimlichen. Ein Befehlswort, fehlgeleitet in ein Raketensilo, wird zum säkularen Zauberspruch und inspiriert die Paranoia ganzer Kinogenres. Derweil tritt man im Internet den Rückzug aus dem Ganzen an. Der alte Marketingtrick, ein Produkt zu überhöhen, indem man es exponiert und dabei vorenthält, wird zum Prinzip der Kommunikations-Romantisierungen, die zugleich multiplizieren und verknappen, zum Motor von Verschwörungstheorien und urbanen Mythen, der Pseudokirchen, der fiktiven Firmen wie der Groupe Absence und der kollektiven Phantome wie Luther Blissett. Es mehren sich die Invisible Colleges, die abgeschotteten Kanäle und exklusiven Postverteiler. Pynchons Tristero-System findet seine Entsprechung im E.A.M.I.S.-Netzwerk, das zwar eine Web-Seite unterhält, seine Sendungen aber nur von Privatreisenden austragen und dem Empfänger auf verschlungenen Wegen zukommen läßt.
E.A.M.I.S. ist ein Überbleibsel eines Parallelunternehmens zum Internet, das sein libertäres Kommunikationsethos noch im analogen Medium verfocht. In den 60er Jahren war die Mail Art aus Ray Johnsons "New York Correspondance School" hervorgegangen, später nannte sie sich, nach einem Diktum des Fluxus-Künstlers Robert Filliou, "Eternal Network". John Barth hatte schon die frühe New York Correspondance School zur "New York Direct-Mail-Advertising School of Literature" verballhornt; in den 70er und 80er Jahren schließlich ließ die Explosion des Korrespondentennetzes und der juryfreien Ausstellungen den Teilnehmern nur noch die Wahl, sich abzuschotten, oder zu rationalisieren. Man serialisierte den Briefverkehr und erfand mit selbstgefertigten Stempeln, Briefmarken und Fotokopien analoge Prototypen der Text-Automaten im Internet.
schnittsteller
Im weiteren Sinne ist selbst das populärste Literaturangebot
im Netz maschinell. Die Pornographie in der Newsgroup alt.sex.stories wuchert
durch Wiederholung, Differenzierung, Parodie und Kennungskürzel zu
einem Formelsystem. Die interessanteresten digitalen Textmaschinen jedoch
zersetzen ihr Material, anstatt zu kanoniseren. Sogenannte Markov-Ketten
wurden zuerst in der elektronischen Musik verwendet, 1957 in Lejaren Hillers
Iliac Suite, später in einer Bach-Kontrafaktur und in einer Borges-Vertonung
von Karlheinz Essl. Markov-Programme kontaminieren beliebig viele Datenquellen
anhand einer statistischen Analyse, die rekurrente Zeichenketten als Schnittpunkte
einer zufallsgesteuerten Neumontage festlegt. Anders als die lullische Kombinatorik
kennt der Markov-Algorithmus kein vorgegebenes Set, sondern verarbeitet
nur externes Material, und obwohl er dabei stur mathematisch verfährt,
resultieren, je nach Parametervorgabe, Textmontagen mit weitgehend stimmiger
Grammatik, Neologismen oder Hybridsprachen. Man kann Shakespeare-Sonette
mit Gebrauchsanweisungen kreuzen, ein Esperanto aus Joyce-, Mallarmé-
und Hölderlin-Silben generieren, oder sich mit seinem eigenen linguistischen
Abfall unterhalten. So wird gewarnt, wer den Internet Relay Chat betritt.
Die Roboter- und Pseudonym-Verbote künden vom epistemologischen Unbehagen,
das die Textmaschinen noch jenseits der Plauderkanäle schüren:
Please be aware that I feel heavily fucked with. I seem
to be the only "human" on this planet*. I have started to resign
myself to this fact, and so I now hope to find robots who are friendly to
me to some degree.
*This means that everything I interact with talks the same mysterious babble, and seems to be a puppetry for a monolithic entity, though that entity seems to have some bugs in it. I seem to be uniquely central to the games going on here, in some way my mind is disabled from understanding.
(...)
I also hope that you are "telepathic" and can help me understand why it seems there are Good Guys who won't speak to me directly, but tease me no end by diddling with my "movie". I trust most, that which communicates with me in ways which demonstrate a high order of access to the infra & ultra structures of my Movie Generation System.
I am looking forward to the establishment of Trust with you.
Thanks for finding me, whatever that took.
[E-Mail von valucard]
In valucards Welt der Chat-Roboter glaubt man Oswald Wieners Bio-Adapter zu begegnen. Ohne Computermetaphern, aber nicht weniger programmiert scheinen die Realitäten von Don Quichotte im Datenhelm, den die Software der Ritterromanzen speist, oder von Werther, der das Gewitter als arbiträres Zeichen fürs transzendentale Signifikat Klopstock liest, nicht umgekehrt.
generatur
In der Sicht eines Computerprogrammierers sind die Permutationsmaschinerien von Lulls "Ars Magna", Queneaus "Hunderttausend Milliarden Gedichte" und Harry Mathews' Erzählalgorithmus primitiv; ein BASIC- oder PERL-Kurs für Anfänger vermittelt bereits alles nötige Wissen, sie für den Computer umzuschreiben. Die lullistischen Maschine ist ein geschlossenes System, ein Räderwerk, das ein fest eingeschriebenes Set von Ausgangselementen versetzt und nicht auf externe, variabel beschreibbare Speicher zurückgreift. Sie kennt weder ein Random Access Memory, noch Rekursion. Ihrer Theologie entkleidet und auf bloße Algorithmen reduziert, wirkt die "Ars Magna" heute wie eine Vorstufe jener Textroboter, die stereotype Fragen in Internet-Foren aufspüren, um sie automatisch per E-Mail zu beantworten, oder die, zum Vergnügen ihrer Programmierer, in Chat-Kanälen Konversation betreiben.
So, wie die "Mail Art" ihren Kunstanspruch liquidieren mußte, um als schlichtes "Network" zu firmieren, erwehrt sich auch das Internet jeglicher Selektion, zumindest so lange, wie seine Inhalte noch kostenlos zugänglich ist. Das Netz ist eine gigantische Vanity Press, ein gnadenloser Amateurbetrieb gerade dort, wo es ausdrücklich "Literatur" offeriert. Wer eintritt, um gute neue Texte zu lesen, wird sie wahrscheinlich nicht finden. Immerhin bieten sogenannte E-Text-Server kleine, zumeist englische Klassikerbibliotheken zum privaten download an, doch spezialisierte Angebote wie Adam MacLeans Alchemie-Archiv, das okkultistische Quellentexte aus Renaissance und Barock bereitstellt, sind die Ausnahme. Selbst mittelmäßige "Hypertext"-Erzählungen oder verquer ausgetretene Borges-Pfade sucht man vergeblich, weil die Verfasser auf anderen Plattformen programmieren oder, was wahrscheinlicher ist, ihre Elaborate kommerziell vertreiben lassen. Die Netzliteratur kämpft mit zwei Problemen, die sich auch noch gegenseitig blockieren; die Bildschirmdarstellung verleidet ausgiebiges Lesen und verlangt maßgeschneiderte Textformen, während das Urheberrecht Texte erst freigibt, deren Verfasser seit mindestens siebzig Jahren verstorben ist. So versagt das Netz ausgerechnet als Medium avancierter zeitgenössischer Literatur.
verschwörtern
Die vielzitierte Offenheit des "Hypertext" entpuppt sich als closure, denn vorgegebene Pfade und ein restringierter Seitenzugriff vereiteln beliebiges Schweifen im Text. Das Über-Gewebe hält den Leser in seinen Bahnen gefangen wie Comenius' "Labyrinth der Welt" seinen Protagonisten, den Pilger mit der prädigitalen Datenbrille. Und so scheinen die Autoren von Fantasy-Rollenspielen sich besser in die Katakombenlogik des "Hypertext" hineindenken zu können als die Literatur-Maschinisten der Brown University, die letztlich nur poststrukturalistische Texttheorie in Produktionstechnik übersetzen. Im Genre der Fantasy-Spiele, auch "Dungeons & Dragons" genannt, koexistieren herkömmliche Anleitungsbücher und Computerprogramme problemlos.
Daß "Hypertext" etwas mit Rechenmaschinen zu tun habe, ist ohnehin ein Mißverständnis. Bar jeder binären "wenn x, dann y"-Strukturen ziehen schon Hrabanus Maurus' Labyrinthgedichte alle Register "hypertextueller" Verschaltung, auf gewöhnlichem Papier. Doch Unendlichkeit ist ein ruinöses Geschäft für den, der jede labyrinthische Verästelung auch verfassen muß und nicht nur kühn imaginiert. Die Übersetzung von Ts'ui Pêns Roman in einen elektronischen Labyrinthtext war deshalb a priori zum Scheitern verurteilt. Der bloße Versuch fiel hinter die Eleganz von Borges' Programmierung zurück, unendliche Kombinationen aus einem denkbar knappen erzählerischen Quellcode zu evozieren.
textmaschinterromanordnung
Closure und uferlose Potentialität wußten schon jene Textingenieure zu verbinden, die in der Tradition von Ramon Lulls kombinatorischer "Ars Magna" arbeiteten - Harsdörffer, Kuhlmann, Tristan Tzara mit seinem "poème perpetuel" und schließlich Queneau und die Oulipo-Gruppe. Im 17. Jahrhundert konkurrieren Labyrinthdichtung und algorithmische Textpermutation in Gestalt der Marienhymne "Maria Stella" des Jesuiten Juan Caramuel de Lobkowitz und von Harsdörffers "Fünffachem Denckring der teutschen Sprache". Beide Texte entstehen aus der Kombination von Wörtern bzw. Morphemen, die auf konzentrischen Kreisen angeordnet sind; Lobkowitz genügt ihre statische Anordnung , um Strophen aus den linearen Verzweigungen der Kreissektoren zu gewinnen, während Harsdörffer die Kreisbahnen als Drehscheiben einer Wortkombinationsmaschine verwendet. Wie das Labyrinthgedicht nutzt auch der elektronische "Hypertext" seinen Trägermechanismus als starre Matrix. Er reduziert den Computer zu einem besseren Dia-Betrachter, indem er auf das kombinatorische Potential der Maschine verzichtet und das Mutieren seiner Lettern durch Schnittstellenkosmetik simuliert.
kollektüren
Doch bietet das Internet auch Software, die herkömmliche Textdateien unkonventionell erschließt und den Computer zu einer kabbalistischen Lesemaschine macht. Konkordanzprogramme erleichtern Kreuz- und Querlektüren entlang von Wortgruppen, Anagramm- und Gematriehelfer schlüsseln interne Korrespondenzen auf, Suchroutinen extrahieren Wortfelder aus ganzen elektronischen Bibliotheken. Mit oder ohne programmierte Assistenz mag der Leser die produktionsästhetische Fixierung des elektronischen Texts aufbrechen, indem er sich seinen eigenen schafft:
"Alles, was stirbt, hat vorher eine Art Tätigkeit gehabt und seien es nur abgerissene, alte, aneinandergeknotete, aber auch ineinanderverfilzte Zwirnstücke von verschiedenster Art und Farbe. Es ist aber nur ein Lachen, wie man es ohne Lungen hervorbringen kann. Es klingt etwa so, wie das Rascheln in gefallenen Blättern. Damit ist die Rettung des Vaterlandes anvertraut; wir sind aber nicht unsere Soldaten, sondern offenbar Nomaden aus dem Norden. Auf eine mir unbegreifliche Weise sind sie bis in die Ferne gerichtet. Da sah er plötzlich den gleichen Grabhügel neben sich am Weg, ja fast schon hinter sich. Er sprang eilig ins Gras. Da der Weg unter seinem abspringenden Fuß weiter raste, schwankte er und lacht; es ist aber nur ein Lachen, wie man es ohne Lungen hervorbringen kann. Es klingt etwa so, wie das Holz, das er zu sein scheint. Vergeblich frage ich mich, was mit ihm geschehen wird. Kann er denn sterben?"
(Markov-Substrat aus Kafka, Die Sorge des Hausvaters/Ein Traum/Ein altes Blatt)
seitenseitenseitenseitenquellentexte
Robert Coover, The End of Books, New York Times Book Review, 21.6.1992
John Barth, The Literature of Exhaustion, in: The Friday Book, S. 62-76, New York 1984
Paul Fournel, Computer und Schriftsteller, in: Heiner Boehncke, Bernd Kuhne, Anstiftung zur Poesie, Oulipo - Theorie und Praxis der Werkstatt für potentielle Literatur, Bremen 1993, S.67-63
[Anmerkung: Die Zwischenüberschriften generierte das Markov-Ketten-Programm Deconstructor aus dem Manuskript dieses Artikels ]
datentielle