Das Internet ist das erste neue Massenmedium des zwanzigsten Jahrhunderts, das auf alphabetischen und numerischen Codes basiert, das heißt: auf Text. Nicht nur die Daten, die in ihm übertragen werden - E-Mail-Nachrichten, Web-Seiten und selbst Töne und Bilder - sind als Text codiert. Auch die Programme, die für diese Datenübertragung sorgen, sind Texte, die Computer mit Maschinenbefehlen ansteuern.
Damit erübrigt sich die Frage, ob es Literatur im Internet gibt. Das Internet ist eine Literatur, ein Buchstabenwesen. Seine Poesie zu finden, ist Aufgabe des Lesers. Es gibt gute Gründe, den selbstmodifizierenden Code eines ingeniös konstruierten Computerviruses für interessantere Literatur zu halten, als zum Beispiel die Dichtungen, die sich im Electronic Poetry Center http://epc.buffalo.edu/ der State University of New York at Buffalo versammelt finden.
Dichtung, die vom Buch ins Netz - von der Gutenberg- in die Turinggalaxis - migriert, unterwirft sich denselben Bedingungen, unter denen Text im Netz sich figuriert. Als Netzdichtung wird sie erst dann interessant, wenn sie digitale Sprachcodes reflektiert und mit ihnen dichtet. Netzdichtungen, die Schreibpapier und Druckseiten im Web-Browser emulieren, sind nicht Gegenstand meines Vortrags.
Literatur à la Null [het99], ampool und Rainald Goetz, die das Internet als temporäre Schreib- und Distributionsplattform benutzt, ist als genuine Netzliteratur uninteressant, weil sie besser auf dem Papier gelesen werden kann.
Man könnte dagegen einwenden, daß Dichtung, die in einem elektronisch vernetzten Diskurs entsteht und diesen reflektiert, auch dann Netzdichtung ist, wenn sie im Buch erscheint oder mündlich vortragen wird. Tatsächlich ist dieses Argument häufig zu hören, wenn es darum geht, Netzkünste zu definieren.
Eine so umfassenden Begriff von Netzdichtung halte ich deshalb nicht für hilfreich, weil mit ihm mittel- und langfristig nichts mehr zu unterscheiden sein wird. Schon jetzt gehören elektronische Netzwerke wie Telefon und Fax zur literarischen Produktionstechnik, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die Korrespondenz von Autoren, Lektoren, Übersetzern, Setzern und Druckern vollständig ins Internet verlagern wird. So werden Bücher im selben Maße ,,Internetliteratur`` sein, wie sie heute bereits Schreibmaschinen- und PC-Literatur sind.
Bücher werden das wichtigste Medium der Literatur bleiben, solange Computer mit Bildschirmflimmern, Lüfterlärm und fragiler Software eine feindliche Umgebung fürs konzentrierte Lesen schwieriger Texte schaffen. Dichtung, die tatsächlich im Internet für das Internet geschrieben wird, bleibt vorerst die Ausnahme. Nur um die Frage, was eine Literatur auszeichnet, die, um lesbar zu sein, Computer und Internet zwingend voraussetzt, soll es hier gehen.
Die Frage, weshalb es zuwenig interessante Dichtung im Netz gibt, könnte deshalb auch anders lauten: Weshalb gibt es zuwenig Dichtung im Netz, die ihrem Medium gerecht wird?
Netzdichtung ist nur eine von vielen Netzkünsten. Seit Mitte der 1990er Jahre gibt es eine erfolgreiche konzeptualistische Netzkunst, die unter anderem in der Ausstellung net.condition des Karlsruher ZKM präsentiert wurde.1 In der Netzmusik vollzieht sich zur Zeit ein technischer Umbruch, dessen trivialster Aspekt herunterladbare Tonaufnahmen im mp3-Format sind. Internet-gestützten, teilautomatisch erzeugte Partituren und Kompositionen wie jene von Karlheinz Essl http://www.essl.at weisen weit über diese Konserven hinaus.
Es scheint, als ob die Netzdichtung gegenüber anderen Netzkünsten heute in eklatantem Rückstand ist. Manche Netzliteraturkritiker haben deshalb stillschweigend die Netz-Konzeptkunst zur besseren Netzdichtung erklärt.2 Ausgeprägt ist der Rückstand der Netzliteratur auch im theoretischen Diskurs über das Internet, den seine Protagonisten führen. Während im Umfeld anderer Netzkünste Politik und Machtstrukturen des Netzes schon seit Jahren kritisch reflektiert werden, kreisen internationale Netzliteratur-Diskussionen nach wie vor um naive Freiheitsverheißungen von ,,Hypertextualität`` und ,,Multimedialität``.
So ist die Geschichte der Netzdichtung eine Geschichte konzeptueller Mißverständnisse. Von diesen Mißverständnissen zeugt beispielhaft der Einband des vor kurzem erschienenen Sammelbands Hyperfiction [SB99].
Der Untertitel des Buchs lautet ,,Hyperliterarisches Lesebuch: Internet und Literatur``. Darunter abgebildet ist eine CD-ROM. Es bleibt nicht bei der Abbildung, tatsächlich liegt dem Buch eine CD-ROM bei, die fast alle der ,,Netzdichtungen`` enthält, auf die sich die gedruckten Beiträge beziehen.
Mit anderen Worten: Diese sogenannte Internet-Literatur braucht gar kein Internet.3
Betrachtet man den Buchtitel genauer, so ist dies nicht einmal inkonsequent. Das Konzept ,,Hyperfiction``, abgekürzt für ,,Hypertext fiction``, hat seine Wurzeln an der amerikanischen Brown University. Seine bekanntesten Theoretiker sind der Philosoph David Jay Bolter und der Literaturwissenschaftler George Landow [Lan92], seine bekanntesten Praktiker Michael Joyce, Autor des ,,Hyperfiction``-Romans Afternoon [Joy90], Stuart Moulthrop, Autor von Victory Garden und, als einziger über das Genre hinaus bekannter Schriftsteller, Robert Coover, der sich mit ,,Hyperfiction`` allerdings nur in Manifesten und in Schreibseminaren befaßt hat.4
,,Hyperfiction``, wie sie an der Brown University verstanden und gelehrt wird, ist keine Internet-Literatur. Sie wurde dort in den späten 1980er Jahren als reine Offline-Dichtung konzipiert, offenkundig ohne Kenntnisnahme von Datennetzen. In Amerika wird diese ,,Hyperfiction`` weiterhin von spezialisierten Verlagen auf Diskette vertrieben, funktioniert ohne Internetzugang, ohne Webbrowser und wird schon aus kommerziellen Erwägungen heraus nicht ins World Wide Web gestellt.
Was Hypertext ist, bedarf heute keiner detaillierten Erklärung mehr. Sein Konzept entstand in den 1940er Jahren und bezog sich ebenfalls weder auf Computer, noch auf Datennetze, sondern auf mechanische Leseapparate. Konzipiert war das Proto-Hypertextsysten ,,Memex`` als Mikrofilmgerät mit maschinell unterstützten Querverweisen.5 Auch der digitale Hypertext nutzt - im Unterschied zu Programmiersprachen - den Computer bloß als Speicher- und Anzeigegerät. So machen Hypertexte nur einen extrem restringierten Gebrauch von den Möglichkeiten des Computers, Texte und Sprache zu prozessieren.
Daß Netzdichtung und Hypertextdichtung immer wieder synonym verwandt werden,6 hat die Entwicklung der Netzliteratur zurückgeworfen und ihre Formen restringiert. Die Gleichsetzung von Netzdichtung und Hyperfiction ist so falsch wie die Gleichsetzung des Internets mit dem World Wide Web. (Neben zum Beispiel E-Mail, Newsgroups, IRC, ICQ und Napster ist das World Wide Web nur einer von unzähligen Internetdiensten, und ob es in zehn oder zwanzig Jahren noch in seiner jetzigen Form existieren und populär sein wird, ist keineswegs gewiß.)
Nicht minder problematisch ist, daß im Diskurs der Brown University-Schreiber und ihrer Netzliteratur-Epigonen das Wort ,,Hypertext`` zu wörtlich genommen wurde als Hypertrophierung des papiernen Textes. Im Hypertext, so die Annahme, transformiere sich der bislang lineare Drucktext in ein nichtlineares, dezentriertes Medium; Gleiches geschehe, wenn ,,fiction`` zu ,,hyperfiction`` werde.
Diese Annahme ist das historische Produkt einer sehr spezifischen Kultur, Ergebnis eines Konflikts von Computer-Schreibexperimenten mit der Didaktik der klaren Prosa und des ,,good style`` in den ,,creative writing``-Seminaren amerikanischer Universitäten. Daß daraus eine allgemeine Textpoetik abgeleitet wurde, hatte eine Serie von Mißverständnissen zur Folge, die sich bis heute beharrlich gehalten haben.
Wie geschildert, ist ,,Hypertext`` kein Begriff der literarischen Texttheorie, sondern ein Konzept der technischen Organisation von Informationen, das heißt: ein Datenbankmodell. Hypertext konkurriert daher mit anderen Datenbankmodellen, die Informationen tabellarisch, relational oder hierarchisch erfassen. Ein PC mit Bürosoftware bietet heute alle diese Möglichkeiten:
Im Unterschied zu herkömmlichen Textdateien, die im Dateisystem eines Computers abgelegt werden, sind in Hypertext-Dateien Textinformation und Dateiorganisation nicht voneinander getrennt, sondern miteinander vermengt. Für den Leser am Computer hat dies den Vorteil, zum Blättern nicht mehr vom Textfenster ins Dateifenster wechseln zu müssen, wie es noch bei Gopher, einem Vorläufer des World Wide Web, nötig war. (Da die Übersicht über die Dateistruktur einer Website im World Wide Web hingegen verloren geht, wenn sie nicht im Textcode selbst nachgebildet wird, ist Gopher das transparentere System.)
Als Datenbankmodell hat Hypertext selbst im World Wide Web Bedeutung eingebüßt. Suchmaschinen, die auf relationalen Datenbanken basieren, sind das populärere Rechercheinstrument im Internet, und auch der Text komplexer Websites wird fast immer aus relationalen Datenbanken generiert.
Gegenüber dem papiernen Text ist ,,Hypertext`` nicht einmal ein neues Konzept. Mit Seitennummern, Inhaltsverzeichnissen, Begriffsindizes und Fußnoten vermengen sich auch in Büchern Textinformation und -navigation. Daß darüber hinaus jeder Text aus Quer- und Selbstverweisen besteht und assoziativ gelesen wird, ist eine Grunderkenntnis, die schon in der Abkunft des Worts ,,Text`` vom lateinischen ,,textum``, ,,das Gewebe`` steckt. Daß manche ,,Hyperfiction``-Apologeten glauben, dies erst am Computer erfunden zu erhaben, spricht gegen ihre literarische Kompetenz.
Ein Roman wie Kafkas Proceß unterscheidet sich von einer ,,Hyperfiction`` wie Michael Joyces Afternoon [Joy90] dadurch, daß er die Verstrickungen seines Erzählgewebes weniger offenkundig exponiert. Aber auch jede ,,hypertextuelle`` Organisation eines Texts erzeugt in sich ,,lineare`` Erzählblöcke, die innerhalb einer linearen Zeitspanne gelesen werden. Vergleicht man z.B. Diderots Enzyklopädie oder eine gewöhnliche Bibel mit einer ,,Hyperfiction``, so bietet der Computer-Hypertext lediglich eine andere Benutzeroberfläche.7 Diese Oberfläche schränkt die Lektüre ein, weil sie wie das Ganze verbirgt und den Leser auf auktorial vorgegebene Pfade zwingt.8
Insgesamt erscheint es ein Irrtum, wenn ,,Hyperfiction``, wie in der Stroemfeld-Anthologie und anderswo, für die quasi natürliche Form von Netzdichtung gehalten wird. Vielmehr erscheint sie als Spezialgenre von Labyrinthtexten, das verwandt ist mit textbasierten Abenteuer- und Rollenspielen. Seit den 70er Jahren werden diese Spiele wahlweise mit Anleitungsbüchern oder auf Computern gespielt. Nicht anders verhält es sich mit Hypertext-Labyrinthen, die mit Computern und Internet eine zwar naheliegende, aber nicht zwingende Verbindung eingegangen sind.
Wird ,,Hyperfiction`` vor allem als Prosaform begriffen, so knüpfen viele Netzlyriker an die Traditionen von konkreter Poesie und Fluxus an. Unter dem Label New Media Poetry entstehen intermediale Gedichte, die - so ist zu beobachten - vor allem mit Möglichkeiten bewegter Bildschirmtypographie experimentieren, die der Buchdruck nicht bietet.
Als einfaches Beispiel möchte ich Ihnen das Gedicht After Emmett http://net22.com/qazingulaza/joglars/afteremmett/bonvoyage.html von Miekal And zeigen. Der Titel ist eine Hommage an den Fluxuskünstler und konkreten Poeten Emmett Williams. Die Buchstabenformen dieses Gedichts sind durch einfache Graphikanimationen dynamisiert.
Einen höheren technischen Aufwand betreibt Jim Andrews' Gedicht Seattle Drift http://www.vispo.com/animisms/SeattleDrift.html, in dem ein für den Webbrowser geschriebenes Computerprogramm die Buchstaben auf dem Bildschirm bewegt.
Ein Problem nicht nur dieser beiden Gedichte, sondern fast der gesamten New Media Poetry im Internet ist, daß sie nur mit komplexen graphischen Webbrowsern wie Netscape und Internet Explorer gelesen werden können. Oftmals sind auch spezielle Plugins und Zusatzprogramme nötig, und nicht selten erweisen sich solche Arbeiten als inkompatibel zu neueren Versionen der Browser-Software. Dieses Problem hat nicht nur experimentelle Netzlyrik, sondern es ist in allen Netzkünsten virulent. Digitale Kunstwerke, so hat sich herausgestellt, sind einem viel schnelleren Verfall ausgesetzt sind als traditionelle Kunstwerke. Institutionen wie das Karlsruher ZKM beschäftigen sich schon jetzt damit, digitale Kunstwerke zu konservieren, die nur wenige Jahre alt sind.
Wegen ihrer fragilen Softwarekonfigurationen werdem Netzkunstwerke, obwohl vorgeblich im weltweiten Netz beheimatet, bevorzugt in Ausstellungen und auf Festivals präsentiert. Dieser Trend könnte sich noch verstärken, sobald großkalibrige Personal Computer und monolithische Browser nicht mehr die Regel-, sondern die Ausnahmekonfiguration für den Internetzugang sind und Netzdienste stattdessen über eine Vielzahl mobiler Kleingeräte genutzt werden.
Für Gedichte wie After Emmett und Seattle Drift gilt grundsätzlich dasselbe wie für die meisten ,,Hyperfiktionen``: Sie sind nicht auf das Internet angewiesen, sondern funktionieren ebenso gut auf Diskette und CD-ROM. Man könnte sie sogar ganz ohne Computertechnik als kinetische Textskulpturen konstruieren und ausstellen.
Fast alle Netzdichtung - auch fast all jene Netzkunst, die zum Beispiel auf der net.condition des ZKM ausgestellt wurde - ist, technisch gesehen, keine Netzdichtung, sondern Browser-Dichtung. Vom polnisch-amerikanischen Sprachkritiker Alfred Korzybski stammt das Bonmot ,,the map is not the territory``, ,,die Karte ist nicht das Land``. Im World Wide Web gilt analog, daß der Browser nicht mit dem Netz verwechselt werden sollte.
Miekal Ands Gedicht After Emmett ist, wie erwähnt, nicht im Textcode, sondern als Graphik auf dem Netzcomputer abgespeichert und wird auch als Graphik dargestellt. Es erkauft die Freiheit seines visuellen Spiels um den Preis, daß seine Schrift auf anderen Computern nicht mehr als Schrift prozessierbar ist. An die Stelle der Sprachinformation tritt ein anderer alphanumerischer Code, der nicht mehr die Buchstaben, sondern nur noch das visuelle Raster der Graphiken speichert.
Ein Sprichwort behauptet, daß ein Bild mehr sagt als tausend Wörter. Diese Behauptung sollte revidiert werden. Miekal Ands neun Bildbuchstaben beanspruchen auf der Festplatte soviel Speicherplatz wie der gesamte Romantext von Laurence Sternes Tristram Shandy.
Meine erste These lautete, daß das Internet ein literarisches Medium, also ein Textmedium ist. Auch Bilder und Töne werden auf Computern als Textcodes gespeichert und als Textcodes übertragen. Zu Bildern und Tönen werden ihre Daten erst dann, wenn sie die Datenverarbeitung der Maschine verlassen und mit Graphik- und Audioprozessoren des PCs von digitalen in analoge Daten zurückgewandelt werden.
Bilder und Töne sind im Internet tote Datenmaterie. Jede Suchmaschine kann in einem Textkorpus alle Sätze mit dem Wort ,,Vogel`` finden, und ein Programm könnte sie zu einem Haiku montieren. Mit Bild- und Tondateien ist das nicht möglich. Keine Suchmaschine kann, ohne künstliche Intelligenz, in einem digitalen Tonarchiv Vogelstimmen oder aus einer Bilddatenbank Photographien von Vögeln finden und auswerten.
Weil der Computer eine Maschine ist, die Textcode umformt und ausführt, ist maschinell erzeugte und gefilterte Sprache keine Domäne jener frühen konkreten Poesie und Oulipo-Dichtung,9 die Reinhard Doehl in seinem Eröffnungsvortrag zu dieser Ausstellung beschrieben hat. Computergenerierte Sprache ist ein Alltagsphänomen. Die Software auf Personal Computern und Internet-Servern greift ebenso massiv wie unbemerkt in unsere Sprache ein: Suchmaschinen generieren Texte aus anderen Texten, Filter digestieren Mailinglisten-Beiträge, die Textverarbeitungssoftware, mit der ich diese These geschrieben habe, formatiert Datenbankeinträge zu bibliographischen Angaben, schreibt das Wort ,,Inhaltsverzeichnis`` über das Inhaltsverzeichnis und das Wort ,,Literatur`` über die automatisch erzeugte Bibliographie.10
Internet-Dichtung, die auch ihren Sprachcode algorithmisch prozessiert, ist rar, eine kleine Untermenge der wenigen Netzdichtungen, die das Internet tatsächlich benötigen.11 Jedoch geben einige Netzkünstler , die mit Computer-Zeichencodes spielen, Impulse zu einer poetischen Sprachkritik und -reflexion des Internets. Seit mehreren Jahren wächst in der konzeptualistischen Netzkunst das Interesse für sogenannte ,,ASCII-Art``, Kunst, deren visuelles Repertoire sich auf die 128 Zeichen des amerikanischen Schreibmaschinen- und Computerzeichensatzes beschränkt, ein Code, den jeder Computer beherrscht, auf dem alle Programmiersprachen basieren und der selbst auf einfachsten Textterminals gelesen werden kann.
Beschäftigte sich die traditionelle ,,ASCII Art`` von Computerhackern damit, gegenständliche Bilder als Typogramme zu codieren, so ästhetisiert ihre konzeptualistische Variante die visuell-typographische Kontingenz des Computers. Überbleibsel von Programmabstürzen, Datenfragmente, Nummerncodes, visuelle Raster und Befehlssequenzen werden in ihr zusammenmontiert und auf Foren wie der Mailingliste 7-11 http://www.7-11.org als Spielelemente kommunikativer Irritation und Disruption eingesetzt.12
Eine Virtuosin dieses Spiels ist die australische Netzdichterin mez alias Mary Ann Breeze http://wollongong.starway.net.au/~mezandwalt/free.htm. Ihre Texte sind in einer Privatsprache namens ,,Mezangelle Language`` geschrieben, die den Slang von Computercrackern mit Wortverschachtelungen wie in Joyces Finnegans Wake kombiniert.13
Der Musiker und Schriftsteller Alan Sondheim, zur Zeit Gastautor des englischen Netzliteraturproject Trace [tra], entwickelt in seinen Netzschriften einen Tagebuchstil, der nicht nur Dichtung und Essayistik vermischt, sondern auch Textmeldungen seines Computerbetriebssystems und selbstverfaßten Programmcode inkorporiert.14
In der Kontamination von natürlicher Sprache und Programmiersprachen liegt aus meiner Sicht das größte Potential künftiger Netzdichtung, ein Feld, das zur Zeit weitgehend brachliegt.
So waren die Avantgarde des Schreibens in Computernetzen bislang nicht Schriftsteller, sondern Programmierer, die das Internet und seine Unix-Software geschrieben haben. Besonders in der Netzkultur von Freier Software und ihren Plattformen BSD und Linux wird eine kollektive Autorschaft gepflegt, die sich auf komplexe, selbstgeschaffene Systeme des Schreibens, des Variantenabgleichs, der Dokumentation, des Informationsaustauschs unter den Entwicklern und schließlich der Lizensierung stützt. Alle diese Systeme sind, genau besehen, Texte, die je nach Verwendungszweck in Programmiersprachen, in Umgangsprache oder als juristischer Code verfaßt sind. Freie Software ist ein rekursives Prozessiersystem von Texten, die permanent auf sich selbst appliziert werden.
Als Nebenprodukt hat sie zwei Textspiele entwickelt, die auch im herkömmlicheren Sinne poetisch sind: rekursive Akronyme und in Programmiersprachen geschriebene Lyrik.
Das bekannteste rekursive Akronym ist ,,GNU`` für ,,GNU's Not Unix``. Wird die Abkürzung aufgelöst, so erweist sich, daß sie sich selbst enthält und mit jeder neuen Auflösung neu einschreibt. So führen rekursive Akronyme die Sprache in eine unendliche Schleife; sie wird zu einem Programm, das sich bei jeder Ausführung selbst modifiziert.
Weiter entwickelt ist diese Prinzip in der Perl Poetry, einer Netzlyrik, die in Programmiersprache geschrieben ist. Perl Poems sind jedoch keine gewöhnliche Textmaschinen, denn auch ihr Programmcode ist als Lyrik lesbar.15 Ein Beispiel:
#!/usr/bin/perl sleep; pipe (drip, drip); listen (drip, drip); kill noises; kill dripping; close pipe soon, NOW; sleep again; listen (drip, drip); sleep (not now); exit (do it); accept destiny, now; alarm neighbors; get the keys now, & #open (up, &survey the); ; crypt of,darkness; not a single; pipe here,anywhere;
Wird dieses Programm ausgeführt, so versetzt es sich selbst in einen Tiefschlaf, aus dem es nur noch gewaltsam - zum Beispiel per ,,kill``-Befehl - herausgerissen werden kann. So kann ein solches Programmiersprachen-Gedichts auf mindestens drei verschiedene Weisen gelesen werden:
Im Gegensatz zu Hyperfiction und New Media Poetry läßt sich diese Dichtung tatsächlich in kein anderes Medium als den Computer übertragen. Ihr Prinzip ist nicht einmal neu. Francois Le Lionnais, ein Mathematiker und Schriftsteller, der gemeinsam mit Raymond Queneau die Oulipo-Gruppe begründete, schrieb schon 1973 Lyrik in der Programmiersprache Algol.16
Die maschinelle Ausführbarkeit von Schrift gewinnt in Computernetzen eine bislang ungekannte Qualität und Brisanz, bis hin zur elektronischen Sabotage. Netzliteratur sollte sie reflektieren und mit ihr dichten können. Auch Netzdichter sollten Programmiersprachen beherrschen, nicht nur, um Benutzeroberflächen zu manipulieren, sondern die Sprache selbst.
1Zu meinen persönlichen Favoriten der ,,net.art`` zählen die Website jodi.org http://www.jodi.org, die Arbeiten der Londoner Künstlergruppe I/O/D http://www.backspace.org/iod/ und die Plagiatoren-Netzkunst von 0100101110101101.org http://0100101110101101.org.
2Wie z.B. Christiane Heibach in ihrem Beitrag zum Sammelband Hyperfiction [Hei99]
3Die Hyperfiction-Anthologie des Stroemfeld-Verlags stellt hierin übrigens keine Ausnahme, sondern die Regel dar. Auch z.B. die Beiträge des letzten IBM/Zeit-Literaturwettbewerbs Pegasus '98 http://www.pegasus98.de wurden auf CD gepreßt.
6was nicht nur der Titel von Suters/Böhlers Anthologie belegt, sondern auch die Namen einschlägiger Netzforen wie ht_lit (für ,,hypertext literature``)
7Viele Computer-Hypertexte könnten problemlos auch als enzyklopädisch gegliederte Bücher gedruckt werden, so zum Beispiel auch Heiko Idensens und Matthias Krohns Imaginäre Bibliothek [IK], die älteste und meiner Meinung nach beste deutschsprachige Hypertext-Dichtung.
8Eine ähnliche Kritik formuliert [Aar97] , S.76-80
9Vgl. [Fou77], [Gys78] und [Mol63]
10Die Londoner Künstlergruppe mongrel hat eine Suchmaschine www.mongrel.org.uk ins World Wide Web gestellt, deren Programmierung so manipuliert ist, daß sie bei der Suche nach rassistischen Stichwörtern vorgefertigte Texte zurückgibt, ohne daß der Leser es merkt.
11Fast alle Netzliteratur beschränkt ihr Experimentieren auf Benutzeroberflächen und fällt damit weiterhin hinter die ästhetische Konsequenz älterer computergenerierter Dichtung zurück, die im Umfeld von konkreter Poesie, Oulipo und Cutup-Literatur programmiert wurden.
12Auf der Website des wegen seines selbstgerechten Kommunikationsterrorismus umstrittenenen Netzkünstlers antiorp findet sich ein ASCII-Film http://m9ndfukc.com/kinematik.
13eine Übersetzung aus dem Mezangelle ins Englische findet sich unter Translation: A Report http://wollongong.starway.net.au/~mezandwalt/natore.htm
14Siehe Sondheims Homepage http://lists.village.virginia.edu/~spoons/internet_txt.html. Von Rainald Goetz Abfall-Tagebuch unterscheiden sich Sondheims Texte nicht nur in ihrem Sprachcode, sondern auch darin, daß sie nicht vorgeben, eine Außenwelt jenseits ihres Mediums zu referenzieren.
15Siehe dazu auch [WCS96], S.552 sowie Sharon Hopkins' Internet-Aufsatz Camels and Needles: Computer Poetry Meets the Perl Programming Language.