Hans-Christian Dany
Sie nennen es Wirklichkeit
Katalogtext zur Ausstellung von Johanna Kandl in der Wiener Secession
Zu meinen Angewohnheiten gehört es, über Monate gewachsene Sammlungen
von Zeitungsartikeln binnen weniger Stunden wegzuwerfen. Erst zerlege ich
einen grossen Haufen in mehrere kleine, die dann in den Papierkorb wandern.
Mal ist es Nervosität, mal etwas anderes, heute ergab es sich wieder.
Stundenlang lese ich dann befremdet Sätze wie: "Sinkende Fieberkurve
- nicht überall, wo Internet draufsteht, ist Rendite drin." So
genau wollte ich das mal wissen? Verwundert betrachte ich das Datum, 30.
8. 1999, gar nicht lange her. Waren die Internet-Aktien nicht in einer viel
entfernteren Vergangenheit abgestürzt? Während Stapel sich reduzieren,
stosse ich immer wieder auf Artikel mit dem gleichen Datum. Selbst nach
genauer Untersuchung ist nichts Besonderes in der Nachrichtenlage dieses
Spätsommertages zu entdecken. Hatte es persönliche Gründe
gegeben, dass ich die Gegenwart an diesem Tag einfrieren wollte? Ich versuche
mich zu erinnern, was sich in meinem Leben ereignet haben könnte. Keine
Erklärung will sich fügen. Das erst vor wenigen Wochen Erlebte
war wie von einem schwarzen Zwerg verschluckt. Den Begriff für das
astronomische Phänomen der schwarzen Löcher lernte ich im Gespräch
mit Johanna Kandl. Er gefiel mir, auch in der Art, wie er scheinbar zusammenhanglos
im Gespräch auftauchte. Vielleicht würde sich ein Zusammenhang
ergeben. Aus einer Schachtel ziehe ich die Fotos, die ich an diesem Nachmittag,
Anfang Oktober, in ihrem Atelier aufgenommen hatte. An den Wänden lehnten
kleine bis mittelgrosse Formate, auf denen Kandl sich einen eigensinnigen
Umgang mit Erinnerung erfindet und eine merkwürdige Gleichzeitigkeit
ins Werk setzt.
Die in matt leuchtenden Farben gemalten Bilder setzen Fotografien um, die
Kandl auf Reisen, meist in den ehemaligen Ostblock oder auf Spaziergängen
durch Wien über mehrere Jahre aufgenommen hat. Manche der Bilder wirken
zielgerichtet, halten persönliche Begegnungen fest, entdecken Sujets,
andere registrieren beiläufig die vorüberziehende Wirklichkeit.
Die festgehaltenen Szenen scheinen vertraut, manche Motive neigen zum Genre.
Geschäftigkeit und Gelassenheit wechseln sich in einem freundlichen
Miteinander ab. Marktstände, ZeitungsverkäuferInnen, ArbeiterInnen,
Menschen begegnen sich auf Reisen. In ihrer gemalten Reproduktion überlagert
Kandl die Momentaufnahmen in gewählten Ausschnitten mit Sätzen
aus Wirtschaftsmagazinen, ManagerInnen-Handbüchern und Stellenanzeigen.
Die sich überlappenden Ebenen manipulieren einander. Das Bildnerische
wird von der Schrift mit zusätzlichen Bedeutungen aufgeladen.
Es sind knappe Sätze, oft Tugenden, wie "the ability to rapidly
respond to a constantly changing marketplace". Zu verstehen sind sie
als Anweisungen. Konsequenzen aus einer als unabänderlich behaupteten
Welt. Die fragmentierten Schlagzeilen reproduzieren die Logik eines beschleunigten
Kapitalismus, der offensiv in noch unerschlossene Bereiche des menschlichen
Lebens vordringt - sich Alltag und Kommunikation als Versatzstücke
einer informellen Ökonomie aneignet. Die damit verbundene Verschiebung
des Begriffs von Gemeinschaft spiegelt sich in Kandls Montage wieder. Diese
Offensive setzt medial einen Angriff auf die Wirklichkeit in Szene, der
alles ihm Greifbare seiner Gesetzmässigkeit unterwirft. "Your
company should be a microcosmos of the global marketplace". Die quasi-pornografische
Sprache der ökonomischen Logik versucht sich vor die Wahrnehmung zu
lagern.
Bei diesem Versuch einer Kolonisation der Innenwelt ihrer Adressaten sticht
besonders ins Auge, wie absolut und naturgegeben sich diese Sprache mit
ihrer Behauptung totaler Gegenwart gibt. Vergangenheit taucht in ihr vor
allem als verschlissenes Material auf, während die Zukunft eine gerade
Linie zum Horizont bildet.
In den von Kandl gewählten Textfetzen zeichnet sich das Phantasma einer
Formeln und Befehlen gehorchenden Welt ab. "He had chosen to eat, rather
than to be eaten", ein Sprachduktus, der subjektive Faktoren auslöscht
und seine LeserInnen zu Organen einer Maschine degradiert, deren Gesetzen
Folge zu leisten ist. Die Freiheit liegt darin zu funktionieren. Jenseits
von richtig und falsch gibt es in dieser Sprache keine Wirklichkeit.
Kandls Bilder öffnen eine Lücke zwischen dem Jargon der Sprache
und der meist im Widerspruch zu ihm stehenden Atmosphäre der Szenarios.
Wirken die beiden Ebenen im ersten Moment schlüssig miteinander verzahnt,
kippt dieser Eindruck umgehend. Sicher, so soll man es sich vorstellen,
was sich "Neoliberalismus" nennt, als Welt, in der die Eliten
des Kapitals und die fliegenden HändlerInnen einer Kofferökonomie
den gleichen Tugenden folgen.
"Self motivation and excellent communication skills" werden fraglos
an beiden Enden des Wohlstandes - oder in allen Klassen - erwartet. Doch
spätestens wenn in Kandls Malerei ein Eismann und eine Kuchen verkaufende
Frau unter dem Slogan "strong leadership and communication skills are
essential" stehen, sieht das nur noch absurd aus, was es auch ist,
und wird dennoch mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln durchgesetzt.
Vermitteln lässt sich auf unser Unbewusstsein zielender Humbug wie
"nothing succeeds like success" nur in einem rasanten Tempo, bei
dem die ZuhörerInnen im Gefühl bleiben, der Wirklichkeit hinterher
zu hecheln - ständig in das Gefühl versetzt werden, zu spät
dran zu sein. An diesem Punkt bildet sich in den Arbeiten eine weitere Unterbrechung,
die die verschiedenen Geschwindigkeiten innerhalb der Montage sichtbar macht.
Während die Bilder von einer Wirklichkeit handeln, die Kandl konkret
erlebt hat, speist sich die Instant-Sprache der Texte aus einer abstrakten
Behauptung, wie die Welt zu sein habe. Instant ist auch Kandls erste Transformation
ihrer Wahrnehmung - Schnappschüsse mit einer billigen Kamera, die Momente
auf der Zeitachse maschinell einfrieren. Versuche, der Erinnerung später
einmal auf die Sprünge zu helfen, der verstreichenden Zeit etwas zu
entreissen; Bilder mit komischen Farben, unscharfen Konturen und Menschen
darauf mit blitzlichtroten Augen, wie sie jeden Tag in den industriellen
Fotolabors abgezogen werden. Diese Erinnerungsstützen transformiert
Kandl, indem sie Zeit investiert, die schnelle Lösung in die Länge
streckt, indem sie die Fotos wiederum abmalt. Das Ergebnis ist eine eigenwillige
Variante der Genremalerei.
Scheinbar Nebensächlichem, schnell Notiertem wird Dauer verliehen.
Situationen aus der Zeit herausgehoben. Der Bruchteil einer Sekunde wird
für Stunden wieder ins Bewusstsein gerufen. Folgt man der Logik der
Sätze in den Bildern, wird einfach Zeit verschwendet.
Das ineffektive Handeln führt zu einigen Knoten auf der Zeitachse.
Betrachtet man diese, stösst man auf Erstaunliches: nicht nur zeigt
die Malerei als altmodische Technologie des Abbildens archaisch anmutende
Strassenmärkte von heute, sondern diese neuen wirtschaftlichen Formen
rekonstruieren real Handelswege aus dem Mittelalter, wie sich anhand der
"grauen Ökonomie" in Ungarn nachvollziehen lässt.
Es kommt aber noch zu ganz anderen Verdrehungen. Immer wieder sind es die
Farben in Johanna Kandls Bildern, die den Eindruck hinterlassen, aus einer
anderen Zeit zu stammen. Wovon berichtet wird, spaltet sich in einen Nebenstrang
- die Bildelemente sperren sich gradliniger Beschleunigung.
Durch Wiederholung kristallisieren, was einem da geschehen ist. Kandl zementiert
keine Sichtweise. Die Rückblicke auf Momente in der Vergangenheit sind
nicht auf den Punkt gebracht. Die in Malerei übersetzten Schnappschüsse
bilden vielmehr ein Gewebe, in dem sich Linien ziehen lassen zwischen den
Punkten, die da mal waren. Obwohl alles konturiert erscheint, tauchen Schemen
auf, verflechten sich und bilden wiederum Verweise.
Ist das Handschriftliche in den Reproduktionen der Fotos wirklich zurückgehalten?
Sind die Rückblenden persönlich oder allgemein? Fragen, die unentschieden
bleiben. Nicht, da Kandl dies noch nicht für sich geklärt hätte,
vielmehr scheint es ihr genau um dieses Eröffnen verschiedener Möglichkeiten,
die Belichtung eines Möglichkeitssinns, zu gehen. Die gewählten
Fotos, die Ausschnitte, all dies ist nicht zufällig, aber sie sind
es auch. Sie sind privat, aber nicht singulär. Sie meinen öffentliches
Leben, aber gibt es das ohne Privates? Alles scheint von der Ökonomie
bestimmt, aber hat diese noch eine Bestimmung?
Ständig werden Grenzlinien begangen, zwischen zwei oft einander entgegengesetzten
Polen. Dualitäten werden aufgerufen, aber nicht realisiert - das hegemoniale
Konstrukt läuft leer. Vielmehr baut sich in den Bildern von Johanna
Kandl eine zweite Option auf, lässt in der Verdoppelung einen Möglichkeitssinn
aufscheinen. Fraglos geht es darum, das kapitalistische Diktum der Gegenwärtigkeit
zu verlassen, in dieser Abwendung wendet sie sich wiederum voll und ganz
der Gegenwart zu. Es kann eine wunderschöne Welt sein, die dort in
den Bildern zu sehen ist, es kann aber auch nicht sein.
* Alle englischen Zitate entstammen Bildern von Johanna Kandl.