Hans-Christian Dany, 98

Ping-Pong auf der Hochebene von Tibet


Aus einem Gespräch mit Peter Gente und Heidi Paris, Berlin 6.10.1997


Ulli Dörrie: Wie gefiel euch die documenta?

Peter Gente: Ich habe zunächst versucht, den Katalog zu lesen. Einige der Texte waren schwer lesbar, vor allem bei den Amerikanern war mir das oft zuviel Jargon (B. Buchloh, D. Harvey). Letztlich hatte ich den Eindruck, da wird genau der Ansatz aufgegriffen, den wir 1977 aufgegeben haben. Theoretiker der Ecole Normale Superieure, Schüler von Althusser, also die Abwendung vom Euro-Kommunismus hin zu einem stark methodisch orientierten Marxismus, das hat uns bis 1976 interessiert. Wir haben damals gleichzeitig Texte der Arbeiterbasisgruppen bei Renault oder von Radio Alice in Bologna veröffentlicht. Sprich, neue Lebensweisen, revolutionärer Kampf und Bewusstseinsentwicklung. Damit haben wir nach dem deutschen Herbst 1977 aufgehört und gesagt, wir streichen jetzt Marx, Freud und Hegel aus unserem Programm. Mit Foucault, Deleuze, Baudrillard und Virilio sind wir dann in eine ganz andere Denktradition gesprungen, ohne deren Ursprünge genau zu exemplifizieren. Politisch ging es dabei um Desir und Mikropolitik. Eigentlich ging es uns um eine neue Begrifflichkeit, das wurde uns aber erst später klar. Auf dieser Suche nach neuen Begrifflichkeiten haben wir uns von den politischen Revivals, wie dem Neo-Marxismus, weit entfernt. Ich kann diese Sachen heute grösstenteils nicht mehr lesen, da mir die Begrifflichkeit nicht mehr benutzbar erscheint. Dafür haben wir zuviel darüber gemacht, dass Widersprüche zum Lachen sind. "Stufen des Humors" (Deleuze). Ich kann mit einer solchen ideologiekritischen Argumentation nichts mehr anfangen. Jedes Buch von Foucault ist eine Kritik der Ideologiekritik und was da heute gemacht wird, ist wieder irgendwelche Ideologiekritik. Für mich ist die Chance einer neuen Politik zu allererst, die Chance einer neuen Begrifflichkeit und einer neuen Sprache. Auch bei dem was in Underground-Kreisen oder in militanten Zusammenhängen praktiziert wird, kann ich kaum eine neue Qualität erkennen, die der ganzen Sache mehr Effizienz verschaffen könnte. Das was im Moment als Repolitisierung gehandelt wird kommt aus der akademischen Uni-Szene der USA.

Hans-Christian Dany: Aus der Perspektive meiner Generation, ich war 1977 gerade elf, war die Wahrnehmung etwas anders. Ich bin mit euren Büchern in den achtziger Jahren gross geworden. Auf den Versuch einer Politisierung am Anfang dieses Jahrzehnts habe ich dann stark reagiert. Zwar war das angelesene Wissen um die Problematik bestimmter politischer Formen da, aber mit diesem Wissen liess sich nur schwer, wenn überhaupt, auf die politischen und ökonomischen Zuspitzungen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks reagieren. Mit welchem 'neuen' Politikbegriff hätte man auf die Progrome in Rostock reagieren können?

PG: Wir machen Bücher, das ist zu zweit schon ziemlich viel Arbeit. Wir können darin nur Ansatzpunkte vorschlagen. In 1.000 Plateaus ist ein Kapitel über Kriegsmaschinen und eines über Faschismus. Und wenn ich hör, wie die erzählen, Deleuze, der ist doch auch Marxist oder so. Und auf der anderen Seite kümmern sie sich einen Dreck um wirkliche Ansätze. Das ist dann eher Enzensberger, der über die grosse Wanderung schreibt oder über Karthographien. Ich sehe das eher in der Kunst, dass Leute diese neue Begrifflichkeit aufgreifen. Aber im politischen Bereich sind die immer nur dabei, irgend ein Gender-Department, also Akademien zu errichten. Das geht nur um Pöstchen.

Heidi Paris: Ich würde den Schnitt historisch anders ansetzen. Wir haben 88/89, bevor die Wende kam, mit Reclam-Ost einen Reader über neue Perspektiven gemacht. Das war auch der Versuch für die Ossis, diesen Umbruch anders zu denken. Also nicht zu sagen, wenn ich meinen Marxismus aufgebe, bin ich gleich rechts, sondern einen Alternativ-Ansatz zu entwickeln. Wenn man die Rezeption des Buches betrachtet, ist das auch sehr gut angenommen worden.

HCD: Wann würdest du den Schnitt ansetzen?

HP: Früher, 85/86, da die Gärungsprozesse im Osten schon eine ganze Weile liefen. Wer dort Verwandte hatte, wusste eigentlich auch schon, das es dort ökonomisch bergab ging. Wenn man ein historisches Datum setzen will, dann wäre das Tschernobyl gewesen.

HCD: Auch hier im Westen?

HP: Hier im Westen habe ich vieles als reine Karrierestrategie wahrgenommen. Mit linker Politik macht man als Künstler immer noch am meisten Kohle. Wenn man dagegen ist. Das ist die alte Geschichte der Rockkultur: Moral, schlechtes Gewissen. Wer ist noch käuflich.

HCD: Ich würde bis zu einem gewissen Punkt zustimmen, aber nicht die gesamte Bewegung, die sich damals gebildet hat, vom Tisch wischen.
Mit dem Balthasar Gracian, den ihr dieses Jahr herausgebracht habt, kann ich für die Entwicklung eines neuen Politikbegriffs viel anfangen. Aber es geht doch auch um eine politische Praxis und die wird nicht nur mit Büchern gemacht.

PG: Aber das ist schon ein entscheidender Punkt. Althusser oder Foucault haben immer für sich in Anspruch genommen, dass ihre Theorie Praxis ist. Weil ihre Texte andere Begrifflichkeiten produziert haben, war ihre Arbeit immer auch eine praktische Arbeit. Dieses alte Theorie-Praxis Verhältnis haben sie nicht akzeptiert. Das war immer die Antwort von Althusser, wir rekonstruieren den Marxismus, wir entwickeln ihn. Wir machen Bücher, das ist unsere Praxis.

HP: Ausserdem, wo focussiert man heutzutage Praxis? Ich würde sagen, Leute die im Internet arbeiten oder im Umfeld der Techno-Szene Firmen gründen, machen irgendwie beides. Sie schaffen auch ihren eigenen Beruf. Sie stellen sich nicht hin und sagen, wir sind arbeitslos, sondern kreieren etwas in der Wirklichkeit.

HCD: Das Erfinden von Berufen, daran hat meine Generation ja ausgiebig mitgearbeitet. Was aber auch mit erfunden wurde, sind Vorläufermodelle für die neuesten Ausbeutungsstrategien. Diese Bastelberufe und -karrieren sind der Arbeitskraft, die das Kapital momentan, braucht einfach sehr adäquat.

PG: Ich denke aber, dieses eigensinnige, obsessive Arbeiten, das Erfinden von Lebensperspektiven, ist auch eine Art Kriegsmaschine. Eine, die nicht mit Panzern auffährt, sondern ein anderes Tun erfindet. Gerade solche undefinierbaren Ansätze scheinen mir perspektivisch.

HP: Nimm ein Buch wie Postheroisches Management von Dirk Baecker. Als Zwei-Mann -Verlag ohne Subventionen ist es relativ albern zu denken, dass wir was mit Management zu tun haben. Auf der anderen Seite ist es ein Beitrag zum Handeln. Genauso wie unser Gracian-Buch zielt es auf eine Handlungsfragestellung. Das Baecker-Buch ist wahnsinnig gut angekommen, sei es bei Leuten, die sich mit der Erfindung von Biographien beschäftigen, aber auch bei Theatern, die keine finanziellen Mittel mehr haben und jetzt ihre gesamte Struktur überarbeiten müssen.

PATCHWORK DER MINDERHEITEN ODER LACHEN WAR VERPÖNT

UD: Könntet ihr die Ursprünge des Verlages einmal beschreiben.

PG: Der Verlag ist ein Produkt der Studentenbewegung. Es ging darum, eine theoretische Leerstelle auszumachen, nämlich Erfahrungen, die damals in Italien und Frankreich gemacht wurden und diese nach Deutschland zu übersetzen, um damit Dogmatisierungen, die sich hier etablierten, entgegenzusteuern. Also diese ganzen Parteien, KPD/ML oder KBW und was es da alles so gab. Wobei ich sagen muss, dass wir mit der DDR und ihrer ganzen Welt nie etwas zu tun hatten. Ich bin in der DDR geboren und habe dort bis '53 gelebt und seitdem ist das für mich endgültig gegessen.

UD: Ihr habt aber ein Buch mit Heiner Müller gemacht. Kam es dadurch wieder zu Kontakten?

PG: Mit dem Müller gab es erst einmal reichlich Missverständnisse. Für uns ist Müller zuerst ein grosser Mann der Sprache, ein Dichter. Was er sagt, ist oft sehr paradox. Wir haben uns deshalb für eine ganz bestimmte Version entschieden, die nicht unbedingt die seine war. Gerade in den letzten Jahren, als er sich hier als Akademie-Präsident herumreichen liess, haben wir uns stark zurückgezogen, weil wir das blöde und langweilig fanden.

HP: Zur Gründungszeit des Verlages muss noch gesagt werden, das da ein politisches Umfeld war, das sich sozusagen seine eigene Struktur kreiert hat. Das waren alles Studenten, die das Projekt aus der Taufe gehoben haben.

PG: Das waren sechs Leute. Meine damalige Frau, Merve, die inzwischen gestorben ist. Wolfgang Hagen, der heute Programmdirektor bei Radio Bremen ist. Sigrid Vagt, die heute Übersetzungen für Hanser und Wagenbach macht. Einer hatte eine Druckerei.

HP: Das Ganze ist in der Hinsicht ein typisches Phänomen, dass sich Gruppenstrukturen, wenn sie länger eng zusammenarbeiten, irgendwann aufbrauchen. In diesem Fall ist es positiv gelaufen, weil Spezialisierungen stattgefunden haben. Der eine hat das Drucken zu seinen Beruf gemacht, die andere das Übersetzen. Nach zwei Jahren sind die meisten rausgegangen.

HCD: Das hatte nichts mit Bruch oder Wechsel innerhalb des Verlagsprogramms zu tun?

HP: Der Bruch wurde von mir, um '74 in den Verlag getragen. Ich war damals noch Studentin, habe viel französische Theorie gelesen und dann in sehr intensiven Diskussionen mit Peter andere Denkstrukturen reingebracht, was sich später auch publizistisch auswirkte.

PG: Ich muss noch mal etwas zurückgehen. Der Verlag war anfangs ein Kollektiv. Alle waren gleichberechtigt, keiner hatte Geld. Wir haben ohne Geld angefangen, haben selbst gedruckt und vertrieben. Im ersten Jahr haben wir auch nichts verdient. Keiner der Beteiligten hatte zuvor in einem anderen Verlag gearbeitet. Es war also alles unsere Erfindung.
Wir beide kennen uns seit 1974 und seit 75/76 arbeiten wir zu zweit. Der Prozess der Auflösung des Kollektivs war mehr eine biographische Geschichte. Einer Gruppe, einer Liebesbeziehung oder auch einer Ehe, die in die Brüche ging. Damit ging alles in die Brüche, weshalb man für Texte, wie Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft oder Bataille sehr offen war. Man war richtig auf Sand gesetzt und hat angefangen von vorne zu buchstabieren, sich seine eigene Welttheorie neu zusammen zu bauen.

HP: Für mich war es theoretisch so, dass ich in dem Zeitraum '74 bis '77 auch schon zu der Generation gehörte, die an der Universität nur noch sturen Marxismus geboten bekam. Da gab es viel zu viel in Häkchen, damals nannte man das Nebenwidersprüche, die darin nicht aufgingen. Das fing an mit der Frauenbewegung, ging über die Sponti-Bewegung, die Schwulen und und und. Das kreative Potential brach eigentlich aus diesem Diskurs raus. Das hat sich noch eine Zeitlang in der Sponti-Bewegung gesammelt, aber dann in Gruppenprozessen immer weiter diversiviziert. Die Schwulen haben sich selber organisiert, genauso, wie die Frauen. Da fing das 'Patchwork der Minderheiten', des Hauptdiskurses und des Nebendiskurses, eigentlich schon auf einer theoretischen Ebene an.

UD: Das war die Zeit der Kleinverlag, Ökoprodukte. Es wurde billig produziert, aber auch schon mit einem Bewusstsein für Design. Wie funktionierten damals Eure Distributionswege?

HP: Am Anfang haben wir noch Büchertische gemacht, dann Fortsetzungsbestellungen über den Weg der Buchhandlungen. Das hiess von jedem neuen Text haben wir 800 Ausgaben verschickt. Aber zu diesem Zeitpunkt existierte eben auch noch die Struktur des linken Buchhandels, die es heute kaum noch gibt. Heute werden wir stärker im Kunstbuchhandel rezipiert, während uns die Literaturbuchhandlungen selten führen.

HCD: Hat sich der inhaltliche Bruch in eurem Programm schnell auf das Vertriebssystem ausgewirkt?

HP: Ja. Wir sind auch massiv angefeindet worden. Die Struktur der linken Verlage gab es ja noch. Es gab auch reichlich Buchhandlungen, die abbestellt haben, so als wären wir die grossen Verräter. Da gab es über vier, fünf Jahre scharfe Kritik am Programm. Gleichzeitig gab es ein anderes Publikum, das froh war, endlich mal einen anderen Diskurs zu haben, das die eigenen Themen da eher besprochen fand. Das hat sich einfach umgeschichtet.

HCD: Mich würde doch noch einmal interessieren, in wie weit Tagespolitik, ich denke auch an die RAF und den 'deutschen Herbst', für die Veränderung im Verlagsprogramm eine Rolle gespielt hat. Oder war es vor allem die Entdeckung der französischen Theorie?

PG: Das hat ineinandergegriffen. Wir haben von '76 bis '80 eine Gruppe gehabt. Im Verlaufe dieser Zeit sind da so 60, 70 Leute durchgezogen und vielleicht sechs, sieben, acht, die bis zum Ende da waren. Wir haben uns einmal in der Woche in einer der Wohnung eines der Beteiligten getroffen und den 'Anti-Ödipus' von Anfang bis Ende durchgelesen. Wir waren nicht vorbereitet, es gab kein Protokoll, sondern wir lasen Satz für Satz fortlaufend in einem Buch. Daraus haben sich gute Freundschaften entwickelt.

Nach den Treffen sind wir ins Nachtleben gegangen, damals oft in den Dschungel. Haben viel geredet und vor allem gelacht. Das war damals in den Kneipen gar nicht so beliebt. Es herrschte eher so eine dröge Stimmung, alles war traurig und schlimm. Lachen war damals richtig verpönt. In der gleichen Zeit sind wir aber auch noch zu Demonstrationen gegangen und den Kongressen. Als Ulrike Meinhof tot war, sind wir zur Beerdigung gefahren, haben auf der Strasse gesessen. Und wir haben in Paris auch lange mit Foucault darüber diskutiert. Wir hatten zu dem Umfeld einen Kontakt, aber eben gleichzeitig auch zur Punkbewegung, ins SO36 oder zu Kippenberger. Es war eher die Musikbewegung, die uns interessiert hat. Leute wie Fetting und Oehlen, die kennen wir aus dem Dschungel. Kippenberger auch, und ich finde es grotesk, dass der jetzt, kurz vor seinem Tode, noch zum Maoisten gemacht wurde. Also das ist wirklich die Krone von allem. Er war ein Macho, das könnte man ihm noch am ehesten unterstellen. Ich find ihn trotzdem gut. Wir haben ihn schon früh kennengelernt. Das hat auch einige gewundert, dass wir schon '80 mit ihm zu Gange waren. Der kam ja über Hamburg nach Berlin. Der hatte bei Hilka schon was gemacht und da gab es immer eine gemeinsame Ebene.

HP: Wir haben dann mit Kippenberger ein Buch gemacht, Kippenberger Frauen, das bestand nur aus Fotos.

Damals gab es noch sehr viele Frauenbuchhandlungen, bei denen wir auch überall Fortsetzungen hatten. Die haben das Buch samt und sonders zurückgeschickt und waren höchst beleidigt.

UD: Zu der Zeit habt ihr auch Zeitschrift (Schlau sein-dabei sein, Solo, Dry und Stop art) herausgegeben. Warum wurde die dann eingestellt?

HP: Das war eine Spielwiese. Ich wollte ein bisschen mit Layout und Design herumprobieren, hat auch Spass gemacht und ist bei den Lesern auch gut angekommen. Aber das Grossformatige ging nicht in die Buchhandlungen.

HCD: Im Zusammenhang mit Kippenberger würde mich noch mal die Frage nach 'neuen' Politikbegriffen interessieren. Leute wie Kippenberger und Oehlen haben an einem bestimmten Zeitpunkt festgefahrene Zeichenformationen durcheinander gebracht. Das hatte in dem Moment auch eine politische Dimension. Diese Störung hat sich aber schnell erschöpft.

PG: Ich würde einerseits eine gewisse Resignation in Anspruch nehmen. So wie wir uns das vorgestellt haben, ist es nicht gelaufen und konnte es vielleicht auch nicht. Zu dem hat sich, um so mehr wir im Bereich der Kunst unterwegs waren, eine Beschäftigung mit den einzelnen Autoren durchgesetzt. Dem Deleuze, dem Cage oder auch Foucault einfach zu folgen, das hat uns erst mal gereicht. Das hat uns Spass gemacht, zu sehen, was sie neues geschrieben haben und daraus Sachen zusammen zu stellen. Dabei ging die Militanz verloren zugunsten eines Geniessertums. Das kann man natürlich kritisieren, wenn man will.
Wir haben dann auch Sachen gemacht, wie Slavjo Zizeks Liebe Dein Symptom so wie Dich selbst. Der ist in der Szene auch voll angekommen. Der ist aber, was meine Kenntnisse anbetrifft, gar nicht so wahnsinnig neu und gut. Der bringt nur bestimmte Lacan-Interpretationen popularisierter und macht die verständlicher, aber da gibt es keine neuen Erkenntnisse. Das bringt auch sehr viel obsolete, theoretische Sachen mit sich, die ich nicht so gut finde, gerade was den Ideologiebegriff anbetrifft.



IMMER WIEDER SACHEN MACHEN; DIE NIEMAND ERWARTET

HP: Bei Büchern wie 1.000 Plateaus registrieren wir im Moment eine starke Resonanz in der Musikszene. Querbeet, bei Techno-Labels, aber auch Blixa Bargeld liest das jetzt, Die Tödliche Doris liest das. Die sind recht wach und kauen sich auch durch recht schwierige Sachen und ziehen sich da raus, was sie da für ihre Kompositionen rausholen können. Das finde ich eine recht fruchtbare Rezeption.

PG: Man kann dieses Desinteresse an der Politik auch als eine Form der Kritik sehen. Ich kann mit diesem Antifaschismusbegriff nichts anfangen. Diese Art und Weise darauf zu reagieren, finde ich einfach nicht gut. Und wir können keine aktuellen Bücher machen, weil wir zu der Aktualität keinen Zugang haben. Wenn wir ein Buch machen, das sich auf die Tagespolitik bezieht, dann interessiert das niemand. Unsere Bücher haben eine lange Laufzeit und wirken auch nicht sofort, sondern erst nach Jahren. Wir haben sehr viel Bücher, die anfangs gar nicht gelaufen sind und dann immer besser liefen, bis sie irgendwann vergriffen waren. Michel de Certeau, Die Kunst des Handelns lief erst überhaupt nicht und dann verkauften sich in einem Jahr 150, im nächsten waren es schon 250.

UD: Wie hoch ist eure übliche Auflage?

PG: 2.000, manchmal 3, manchmal 4.000. Man kann ungefähr sagen, jedes zweite Buch hat auch eine zweite Auflage und jedes dritte eine dritte Auflage. Wir leben sehr stark von der Backlist. Deleuze, Virilio und Foucault, von Foerster, Baudrillard die laufen nach wie vor jedes Jahr sehr gut.

HCD: Nicht unproblematisch finde ich den Hype, der in den letzten Jahren um 1.000 Plateaus entstanden ist. Mein Eindruck war, so funktioniert Hype ja oft, das wird zu Tode gefeiert. Ein Wort wie 'Wunschmaschine' kann man nicht mehr hören, das ist in anderthalb Jahren zum Kitsch verkommen.

PG: Interessant ist doch, dass jetzt ein Tun beginnt, Leute versuchen damit zu arbeiten. Dadurch wird sich auch die Begrifflichkeit abschleifen und verändern. Ich denke, dass das erst mal neue Horizonte aufgerissen hat und dass der Umgang damit auch sprachlich etwas anderes produzieren wird. Der Jargon, Wunschmaschine und so, hing einem schon Ende der siebziger Jahre zum Halse heraus.

UD: Ihr als Verleger, mit dieser Vorgeschichte, seid doch auch in einer recht machtvollen Position. Ihr könnt Diskurspolitk betreiben. Wenn ihr etwas neues auf den Markt werft, hat das Wirkung.

HP: OK, wenn man das Feuilleton ankuckt, sieht man, dass man sich der Sache durchaus bedient. Worüber wir uns nicht so richtig klar sind ist, warum wir dabei nicht genannt werden.

UD: Spekuliert ihr im Vorfeld von Veröffentlichungen darüber, was damit passieren wird?

HP: Was mich immer interessiert, ist, welche Szenen da andocken und das Phänomen, das wir im Moment haben ist, dass wir viele Einsätze haben. Auf der einen Seite sind wir auf der documenta, auf der anderen auf der Love-Parade. Schon in unserem Bekanntenkreis ist es eher so, das dieser breitgestreute Einsatz eher ungewöhnlich ist, da hat jeder sein Kästchen. Die einen sind in der Kunst-, die anderen in der Techno-Szene, die dritten, was weiss ich was. Das is`n bisschen `n Problem. Auf der einen Seite ein Kräfteproblem, so ein breites Feld im Visier zu haben, auf der anderen, ist es manchmal noch schwer ablesbar, wo das Schiff lang läuft.

PG: Was wir machen, ist dann schon Rhizom, das heisst wir sind einen Abend mit der Witwe von Morton Feldman in einem Konzert mit Werken von Morton, da treffen wir dann einen bestimmten Bekanntenkreis. Am nächsten Tag in der Millenium-Lounge von Chroma-Park, da treffen wir dann Motte, die Organisatoren der Love-Parade und jede Menge DJs. Also einen kleinen, aber kompakten Kreis von Machern heutiger Musik. Den übernächsten Abend sind wir dann bei Blixa Bargeld, der mit Nick Cave ein Konzert im Friedrichstadtpalast gibt.

HP: Das ist die Beschreibung eines Phänomens, es gibt verschiedene Szenen, in denen aktiv was gemacht wird und die kreuzen sich nicht mehr. Was haben aber, was die Publikationen betrifft, überall ein Bein drin.

U D: Ist das dann auch so, das Pläne für neue Produktionen irgendwo Nachts entstehen. Also durch Kommunikation. Bekommt ihr auch viel zugeschickt?

HP: Wir bekommen sehr viel zugeschickt, aber dass wir davon etwas publizieren, geschieht so gut wie nie. 90% unseres Programms sind Gegenwartsautoren, das heisst wir lesen deren Texte, lernen die Autoren persönlich kennen, führen Korrespondenzen mit ihnen. Es gibt einen intensiven Austausch mit den Personen und daraus erwächst dann publizistisch dieser und jener Merve-Band. Die sogenannten Redaktions-Konferenzen finden in Bars statt, im Auto im Stau oder beim Spaziergang.

CARL SCHMITT
PG: Wichtig ist aber auch ein Buch von Baudrillard, der ja nun ein ziemlicher Irrläufer ist, aber gleichzeitig eine Art der Provokation hat, die einen sozusagen zum denken zwingt. Das finde ich im Augenblick viel wichtiger und spannender, als eine Analyse neofaschistischer Tendenzen in der Jugend. Ich finde da ist der Baudrillard einfach besser, auch wenn er oft provoziert und man seinen Thesen, wie "der Golfkrieg findet nicht statt", auch nicht so ganz folgen kann. Da hat er sich ziemlich verrannt, richtig vergaloppiert, was die Sache anbetrifft. Aber im Prinzip finde ich das schon nötig, solche Sachen zu machen.

HCD: Baudrillard wurde damals ja ziemlich scharf angeschossen, mir gefiel, dass ihr euch davon scheinbar wenig habt irritieren lassen. Ähnlich ging mir das mit eurem Jakob Taubes-Buch Ad Carl Schmitt, Gegenstrebige Fügung. Ein Buch, das mir überhaupt sehr gut gefallen hat. Verstärkt wurde das zusätzlich durch die Carl Schmitt-Diskussion, die damals innerhalb der Linken stattfand, und die mir in ihrer Tendenz zur Tabuisierung äusserst problematisch schien. Reagiert ihr auch auf solche Diskussionen oder überschneidet sich das eher zufällig?

HP: Das war eher zufällig. Der Taubes lag im Sterben und war der Lehrer von Peter. Und da der Taubes ja eigentlich nichts schriftliches bis dato publiziert hatte, haben wir ihm das quasi als letztes Geschenk gemacht.

PG: Aber das war natürlich auch ein Politikum. Ich fand die Art, wie Taubes mit dem Schmitt umging, ziemlich gut. Ich habe zu dem Schmitt auch ein ambivalentes Verhältnis, weil ich ihn auf der einen Seite für einen grossartigen Stilisten halte. Der kann wahnsinnig gut schreiben, besser als Heidegger und Jünger zusammen. Aber was er schreibt, ist eben sehr gefährlich. Ich kann das nicht akzeptieren, was er gemacht hat und wofür er plädiert.

HP: Man ist ja ein mündiger Bürger. Erst mal muss man die Sachen kennen, bevor man was ausgrenzt und das ist natürlich ein publizistisches Prinzip. Auch wenn ich den Jünger nicht selber publizieren würde. Nachdem wir diesen Gesprächsband zu Carl Schmitt gemacht hatten, ging die Debatte los, ob wir denn auch Carl Schmitt selber publizieren wollten. Aber das wollte ich nicht. Den würd ich selber nicht machen. In der Kombination als Gespräch legt man es zur Dikussion auf den Tisch, aber weiter würde es bei mir dann publizistisch nicht gehen.

HCD: Zu diesem Zeitpunkt es meines Erachtens sehr interessant Schmitts Theorie der Partisanen zu lesen, da diese die Verschiebung der politischen Begrifflichkeiten und deren Auflösung aus einer bestimmten Perspektive beleuchtete.

HP: Hat die RAF-Linke ja auch gelesen.

HCD: Schon, aber das war eher in den 70ern, Anfang der Neunziger durfte man Schmitt in vielen linken Zusammenhängen nicht mal zitieren. Oder überhaupt den Namen erwähnen, ohne vorher eine Viertelstunde lang zu betonen, ich spreche jetzt über einen Faschisten.

PG: Klar, war unser Verhalten auch eine bewusste Reaktion auf so etwas. Man hat den Schmitt wirklich zu einem PoËte maudit, einem verfemten Autor gemacht. Dadurch war er um so einflussreicher. Auch dadurch, dass man ihn nicht zitieren durfte. Da wollten wir mit der guten Art, mit der der Taubes damit umgeht, mal dazwischenfunken. Ich denke schon politisch und strategisch, aber nicht tagespolitisch, da ich weder bei den Grünen, noch der SPD einen theoretischen oder kulturellen Horizont sehe. Das ist der Punkt. Und solange da nichts ist, kommt auch von unserer Seite nichts. Wir sind da alte Schule, in dem Sinne, das wir Theorien produzieren wollen, die neu sind.

NIGHTLIFE-KONTAKTE

U D: Ihr hattet immer was sehr zeitgemässes. Ihr seid ja nicht abgehoben mit eurer Diskussion, sondern immer wieder reingegangen.

PG: In wie weit da im Moment von einer Bewegung gesprochen werden kann, weiss ich nicht. Auch nicht in der Kunst. Die Kunst unter marxistischer Fahne ist eigentlich nicht so übermässig spannend.

HCD: Das ist ja eigentlich und spätestens seit der documenta X auch schon wieder durch.

UD: Was denkt ihr, hat eine documenta, wie die letzte, bewegt?

PG: Die hat erst mal den Kommerzialismus, den Betrieb, auf Sand gesetzt.

HP: Für mich war daran gut, dass die documenta den Betrieb draussen gelassen und die Welt reingeholt hat. Die Probleme der Welt, Hausspekulationen, Krieg und so weiter. Aber: Entweder war es nicht die richtige Wahl der Künstler, dass die mit diesen Problemen nicht gut umgegangen sind oder es ist vielleicht auch keine Sache der Kunst, sich in dieser Weise mit den Problemen zu beschäftigen. Faktum ist, sie haben die Probleme im höchsten Fall verdoppelt: Ich male ein Bild über den Krieg. Die Wirkung ist eigentlich nicht in die Wirklichkeit zurückgeflossen und das ist für mich das Manko.

PG: Ich finde, die documenta hat, das was bei Foucault das letzte Wort gewesen ist, der Begriff der Problematisierung, geschafft. Die Frage, was heute Kunst ist, ob es heute gute Kunst gibt ...und all die Fragen. Dadurch, das alles grau in grau war und schlecht gehängt, hat sie die ganzen Fragen als Problem noch mal in den Raum gestellt. Das finde ich eigentlich richtig. Das ist ja auch unser Ansatz, dass Kunst eben nicht gleich Kunstbetrieb ist. Aber das es auch nicht im Sinne von Beuys darum geht, eine Entgrenzung vorzunehmen. Es geht eigentlich darum, den Begriff neu zu formulieren. Also Kunst im Sinne von Handeln, Denken, von irgendwelchen Machbarkeiten. Das ist bei uns meistens der Rekurs auf Nietzsche. Deshalb sind wir auch immer zwischen den Stühlen, wir sind nicht in dem Sinne Künstler, keine Politiker oder Philosophen, sondern ganz bewusst zwischen all dem angesiedelt. Um das ein bisschen in Frage zu stellen, aufzumischen und auch ungewohnte Verbindungen herzustellen, zwischen den verschiedenen Regionen.

HCD: Ich fand vorhin, bei der Liste der Nightlife-Kontakte interessant, dass das alles Leute waren, die man im allgemeinen als Künstler bezeichnen würde, auch wenn die sich alle immer in Grenzbereichen herumgetrieben haben. Deren Bücher bei euch unterscheiden sich ja auch. Oder auch, das Buch von Minus Delta T (Das Bangkok-Projekt, Band 106), das ich sehr gelungen finde, und das vermutlich auch einem Nightlife-Kontakt entstammt. Die sind schon anders gemacht, als meinetwegen Eure Lyotard-Bände. Sie sind auch eher der kleinere Teil in Eurem Programm. Was waren die Kriterien für Eure Künstlerauswahl?

PG: Das Gewachsensein spielt sicherlich eine Rolle. Das Gewachsensein bedeutet aber auch, dass man ziemlich lange kuckt, ob da was dran ist. Oder, wie vielschichtig ist das, hat das auch mehr Bestand als die nächsten zwei Jahre?

HCD: Was heisst ziemlich lange kucken bei einem Buch, wie Geniale Dilletanten (Band 101)? Der Herausgeber, Wolfgang Müller, muss damals ungefähr 22 Jahre alt gewesen sein, viel zu kucken gab es da noch nicht. Das Westbam-Buch erschien bei Euch viel zu spät, mir gut gefiel. Minus Delta T waren, als sie bei Euch erschienen, noch höchst frisch.

HP: Mir ging es da um etwas anderes, nicht so sehr dieses 'zu früh oder zu spät'. Sondern bestimmte Genres von Buch. Nehmen wir meinetwegen das Westbam-Buch. Es gibt kein Buch auf dem Markt von einem DJ, der sozusagen sein Machertum thematisiert. Die Bände von Minus Delta T oder Geniale Dilletanten, die sind in der Art und Weise der Zusammenstellung schwerlich noch als Bücher zu bezeichnen.

PG: Wolfgang Max Faust kam auch ganz früh bei uns an und hat unsere Bücher über Paul Maenz auch an seine Mühlheimer Freiheit verteilt. Er hat einen Text über die Transavantgarde geschrieben, in dem er so ziemlich unser gesamtes Verlagsprogramm verarbeitet hat. Ein Zitat, rauf und runter.

HP: Der wollte dann auch ein bei uns Buch machen, als die 'Wilden' so richtig Startposition hatten. Das haben wir aber nicht gemacht, da wir nicht in so einen Hauptstrom geraten wollten. Wo man dann erst gefeiert wird und dann wird man abgefeiert. Und da haben wir nein gesagt, obwohl wir Faust auch schon jahrelang kannten.

PG: Wir haben dann aber Bonito Olivia (Im Labyrinth der Kunst, Band 105, Eingebildete Dialoge, Bd 168) herausgegeben, um sozusagen den Erfinder dieser Transavantgarde im Programm zu haben. Damit man auch mal den Unterschied sieht, zu der Art, wie Max Faust das anging.. In der Hinsicht meine ich auch, dass das immer strategisch ist. Wir wollten nicht unter diesen Label Neue Wilde erscheinen, das hätten wir spielend gekonnt, aber genau das wollten wir vermeiden.

UD: Die Bewegung der Neuen Wilden hat sich stark über Bilderbücher definiert. Ihr macht ja fast das Gegenteil.

HP: Wir werden zwar stark in der Kunst rezipiert, aber bleiben doch auf der Textebene.

WAS NEUES AUFMACHEN UND KUCKEN; WAS DA ANDOCKT

HCD: Hat sich Euch nicht auch ab und zu bei der Rezeption im Kunstbetrieb der Magen umgedreht. Ich finde es gerade bei der Rezeption Baudrillards in den achtziger Jahren unangenehm, wie da die Begriffe verwässert werden. Wie aus der Agonie des Realen (Baudrillard, Band 81) deren Potenzierung wird. Wie habt ihr darauf reagiert?

HP: Manches, was an Rezeption passiert, blendet man einfach bewusst aus. Da reagiert man eben gar nicht. Publizistisch ist es so, wir wollen nicht reagieren, sondern was neues aufmachen und dann kucken, was da andockt.

UD: Eher wie beim Tennis den Ball aufschlagen.

HP: Ping-Pong auf der Hochebene von Tibet. Lieber so.

PG: Uns ging es auch darum, das, was man global als 'Franzosen' versteht, sozusagen fortzuführen, weil das keine Sache ist, die nur zu einem bestimmten Zeitpunkt Gültigkeit hat. Wenn wir uns zwischenzeitlich zu anderen Szenen bewegen, wie der Diskussion um die Second-Order-Kybernetik, die neuen Technologien, geht es uns auch darum, bei unserer Leserschaft etwas Verwirrung zu erzeugen und eben keinen neuen Schmortopf für eine Szene herzurichten. Also jemand, wie Niklas Luhmann (Band143), der immer von Anschlussfähigkeit redet, ist selber gar nicht so anschlussfähig. Das sind auch strategische Interessen, so theoretische Stränge aufzunehmen, um damit experimentelle Dinge zu probieren und zu kucken, wie weit kommt man. Weil man ja nicht der liebe Gott ist, der einfach verfügt, das gehört zu dem und das muss man. Man probiert das aus und kuckt, wo kommt das an, was ergibt das. Was bringt einem das selber im Kopf für neue Ansätze, neue Theorien und wenn sich das in Sich selber wiederholt, begibt man sich wieder woanders hin.

HCD: Dieses springen, wurde aber auch immer wieder als Kritik an Euch herangetragen. Ich finde es recht akademisch. Eine weitere Kritik, die damit verbunden ist, war die, dass ihr fast nur Fragmente veröffentlicht habt, was bei Deleuze oder anderen Eurer Autoren eigentlich eine innere Logik hat.

HP: Anfangs war das einfach ein ökonomisches Problem, da wir einfach nicht die Rechte für vollständige Bücher einkaufen konnten. Aber wenn wir gesagt haben, wir stellen ein kleines Bändchen zusammen, waren die Autoren eben einverstanden. Ein anderer Punkt ist, das ist ein anderes Genre von Buch als das geschlossene Werk und manchmal sagt ein Autor in einem kleinem Vorwort oder Interview auch schärfere oder prägnantere Sachen. Das spielt auch eine Rolle.

PG: Ich finde diese Kritik auch nicht angemessen. Wir stehen nicht in einer deutschen Vollständigkeitstradition oder so einem Historismus, wo man bei jedem Text erklären muss, wo der herkommt. Das ist eine Kritik, die kenne ich schon seit 1970. Dieser Historismus, der jeden Artikel auf eine Situation reduziert oder daraus versucht dessen Bedeutung zu konstruieren, das ist nicht unser Ansatz. Wir stehen für Fragment und auch für 'Werkzeugkiste' (Michel Foucault, Mikrophysik der Macht, S. 53). Das steht in unseren Büchern drin und das ist durch die Theorien, die wir publizieren, voll abgedeckt. Das ist eine Kritik, die einfach nicht sieht, was wir machen. Die kommt von ganz woanders her. Adorno würde sagen, Standpunktkritik.

UD: Die ganzen Wissenschaftler haben da ihre eigenen Spielregeln und wenn man die nicht beachtet, dann sind die eben sauer. Mich erinnert euer Vorgehen eher an Kochkunst.

HP: Vielleicht auch Komposition. Ich schätze auch die kleinen Bände und das damit verbundene Leseverhalten. Die schaffe ich an einem Abend, während ich für dicke Schinken eine ganze Woche brauche. Die Komposition eines Themas in Aufsatzform verschafft auch wechselnde Blickpunkte.
Bei den kleinen Bändchen geht es auch um die Erfindung eines Buches. Unsere Foucault oder Lyotard-Bände gibt es in der Form und Zusammenstellung nicht im Französischen.

UD: Ihr macht das immer noch zu zweit. Ökonomisch ist das jetzt aber auf der sicheren Seite?

PG: Heidi hat im Moment eine Gastprofessur in Kassel, das ist entlastend. Ansonsten läuft das total low budget. Also ganz bescheiden. Wir machen dann nebenher mal was für die `Ars Electronica¥ oder den `Steirischen Herbst¥. Also hier und da mal ein bisschen Geld nebenher verdienen.

HCD: Was mir immer wieder auffällt, ist, dass Ihr sehr wenig rezensiert werdet. Habt ihr dafür eine Erklärung?

HP: Das ist ein Phänomen, da wissen wir selber nicht, was wir falsch machen oder woran das liegt. Rezipiert wird es ja, und in den Köpfen der Redakteure arbeitet es auch. Aber im entscheidenden Moment werden wir nicht erwähnt.

PG: Wir schalten aber auch keine Anzeigen und dann ist die Rezensionsgeschichte eine reine Freundlichkeit. Und wir sind eben auch immer zu früh gewesen. Das musste erst mal bei `Hanser¥ rauskommen.

UD: Aber es gibt doch auch Abonnenten und dauerhaft Abhängige?

HP: Nö, ich habe jetzt so seit 75/76 schätzungsweise die dritte Generation, die unser Programm liest. Dabei fällt immer wieder auf, wenn die Biographien ein bisschen fortschreiten, die Leute irgendwo einen festen Sitz haben, lässt auch das Leseinteresse nach. Die Vielleser sind hauptsächlich Leute, die in offenen biographischen Feldern arbeiten und im weitesten Sinne Macher, die das dann auch für sich weiter verarbeiten.

(Erschien in * dagegen dabei - Strategien der Selbstorganisation seit 1969 * Edition Michael Kellner, Hamburg 1998).