Hans-Christian Dany 4.03 / TAZ


Das synthetische Double der nervösen Agenten


Während der Krieg im Irak länger wird als geplant, lohnt sich der Blick auf ein bewährtes Durchhaltemittel der US-Army. Das Militär spricht von Go Pills, der Hersteller GalaxoSmithKline nennt das D-Amphetamine Dexedrine®, auf der Strasse heißt es einfach Speed.
Die Geschichte von Speed ist so lang wie ein Menschenleben. Hinter ihrer Oberfläche agiert eine Gruppe von Agenten und deren synthetischem Double - dem Botenstoff Adrenalin und dem ihm chemisch ähnlichen Amphetamin. Ihre Aktion wiederholt sich millionenfach in dem Haus das wir Körper nennen. Hier sind die Doppelgänger als genau so faszinierende wie beunruhigende neue Mieter eingezogen - die Amphetamin-Moleküle dringen in das Depot der natürlichen Agenten und setzen diese mit ihrer Nachricht in Bewegung. Durch die verstärkte Sendung der Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin wird das Belohnungssystem aktiviert. Wohlbefinden macht sich breit. Gleichzeitig wird der Körper in Alarmbereitschaft versetzt: Alle zum Kämpfen oder Flüchten notwendigen Körperfunktionen aktiviert; Selbstverstrauen, Konzentration und Risikobereitschaft gestärkt; Angstgefühle unterdrückt. Die Muskeln spannen sich, der Mund wird trocken, der Körper beginnt zu schwitzen. Schmerz, Hunger und Durst reduzieren sich auf ein Minimum. Die Wahrnehmung des Körpers als Ballast bleibt temporär auf der Strecke - die Organe funktionieren einfach weiter, so als sei dem Körper eine Maschine implantiert worden.
Mit dem neuen Mieter lassen sich verschiedene Dinge anstellen. Oder diese stellen sie mit einem an, genau lässt sich das manchmal nicht sagen. Wie sie einem helfen in der Wirklichkeit zu funktionieren, katapultieren sie einen aus dieser heraus.
Als der Chemiker Dr. Gordon Alles 1927 die schon länger bekannte Substanz auf den Namen Amphetamin taufte, war er zuerst einmal an einer Beseitigung der Mängel des Menschen interessiert. Fünf Jahre später kam das spätere Speed unter dem Markennamen Benzedrine® als Inhalertationstube auf den Markt. Mit ihr sollte der Patient wieder tiefer durchatmen. Das tat er auch, aber auf eine Art wurde das Gegenteil erreicht: Asthma erlebte aufgrund der aufputschenden Nebenwirkungen seines neuen Heilmittels einen Boom. Bald gab es mehr Kranke zuvor.
Schnell dachte man sich beim Hersteller Eli Lilly & Co., es sollte nicht mehr notwendig sein, dass der Mensch manchmal traurig oder gar dick wurden. Die Benzedrine®-Tablette kam auf den Markt. Mit der die eigene Hyperaktivität entdeckenden Judy Garland fand sie ihren bekanntesten Fan der ersten Stunde. Unaufmerksamkeit, sowie Ermüdung, all das musste nicht mehr sein, sondern konnte technisch beseitigt werden. Das neben Asthma zur Linderung leichter Depression und darüber hinaus für eine breite Palette anderer Beschwerden empfohlene Präparat wurde vor allem als Aufputschmittel immer beliebter. Durch diese Umnutzung wurden das Militär auf die Amphetamine aufmerksam. In Deutschland lässt sich diese Übernahme gut verfolgen: hier hatte sich das technologisch innovative Methamphetamin Pervitin®, eine Kombination aus Recycling und Biotechnologie, nach seiner Markteinführung 1938 schnell zu einem Kassenschlager auf dem zivilen Markt entwickelt. Bald häuften sich aber die Einlieferungen verstörter Konsumenten in Krankenhäuser, auch wurden immer öfter Gewöhnungssymptome beobachtet. Ein Jahr vor dem Ausbruch der Schlacht um Stalingrad wurde das deutsche Speed dem Opium-Gesetz unterstellt. Besser als der Zivilist vertrugen es anscheinend die Soldaten. Millionen Tabletten wurden weiterhin an die Wehrmacht geliefert, mal als optionale Stütze im Sturmgepäck, dann wieder vor besonderen Einsätzen auf Befehtl zugeteilt. Während des Zweiten Weltkrieges waren es nicht nur die Deutschen, sondern auch US-amerikanische, englische und japanische Soldaten, die mit Amphetamin gedopt wurden.
Nach dem Krieg beginnt die noch recht junge Biotechnologie eine weitere Karriere. In den sechziger Jahren nahmen die zivilen Umnutzungen vor allem in den USA, aber auch in Japan oder Schweden, ein solches Ausmaß an, dass ihr Gebrauch zunehmend reglementiert wurde. In der Folge tauchten immer öfter Kopien aus klandestinen Speedküchen auf.

Diejenigen, die sich im Recht über die Kontrolle dieser psychotroper Mittel sahen, erklärten wenige Jahre später den Herstellern und Nutzern dieser Generika den Krieg. Der 1971 von US-Präsident Richard Nixon erklärte War On Drugs dauert bis heute an und führt bei einem Investitionsvolumen von 609 US-Dollars in der Sekunde, zu einer Verhaftung alle zwanzig Sekunden - ansonsten gilt er als verloren.
Amphetamine nehmen im War On Drugs eine besondere Rolle unter den umkämpften Substanzen ein: sie sind die am häufigsten kontrolliert und gleichzeitig unkontrolliert hergestellte.
Zu den legalen und subventionierten Nutzungen von Amphetaminen zählt neben der Linderung der seit den mittleren neunziger Jahren boomenden Kinderkrankheit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung vor allem die Militärische. Ein verunglückter Schauprozess machte Anfang des Jahres in den USA noch einmal darauf aufmerksam. Verhandelt wurde der Fall der Air Force Piloten Harry Schmidt und William Umbach. Diese hatten in Afghanistan eine Einheit kanadische Soldaten mit El Kaida Kämpfern verwechselt und im "friendly fire mit einer 500 Pfund schweren Bombe vier von ihnen getötet und acht schwer verletzt. Bei der öffentlichen Anhörung lag in der Luft, dass die beiden sich wegen Todschlags vor einem Kriegsgericht verantworten müssten. Ein ungewöhnlicher Vorgang zu dem es innerhalb der Geschichte der Air Force noch nie gekommen war. Die Piloten sahen sich selbst als ein Bauernopfer mit dem die Kanadier für eine Teilnahme am Irak-Krieg gewonnen werden sollten. Was das Ziel auch war, die Aktion ging nach hinten los: Die Anwälte der Piloten verteidigten ihre Mandanten damit, diese hätten unter dem Einfluss von Amphetamintabletten gestanden, wie sie bei der US-Army routinemäßig ausgeteilt werden. Das Verfahren wurde kurze Zeit später eingestellt.
Über den Speed-Konsum im War On Terrorism gibt es noch keine genaueren Daten. Im letzten Golfkrieg sollen 60% der Soldaten davon Gebrauch gemacht haben, in Kampfsituationen waren es sogar bis zu 98%, die zur Speed-Option im Marschgepäck griffen. Die Dosierung wurde nach längerer Diskussion seitdem von 5 mg auf 10 mg erhöht. Das Mittel der Wahl blieb das Gleiche: Dexedrine®.
Das kurz nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem zivilen Markt lancierte Produkt war wesentlich stärker als das bis dahin erhältliche Benzedrine®. Bis heute hat es als eines der großen Marken-Amphetamine gehalten. Die Mods gaben ihm den sechziger Jahren den schönen Kosenamen Dexys Midnightrunners. Das Original und seine Kopien zählen seit den fünfziger Jahren zu dem Marktsegment von Wirkstoffen, die als Speed auf der Strasse gehandelt werden.
Eine gewisse Analogie der aufputschenden Wirkung legt den Vergleich zu Kokain nah: Dies wirkt schneller, aber schwächer, kürzer und weniger komplex. Kokain wird vom Gehirn schneller abgebaut, während die nachhaltigeren Amphetamine lange Zeit unausgetauscht im Körper bleiben. Sie sind effizienter, preisgünstiger, als der milde Kick der neuen Mitte, jedoch in ihren Nach- und Nebenwirkungen intensiver und unkalkulierbarer. Es handelt sich um kein eindeutiges Rauschmittel, kann aber als solches verwendet werden. Richtig dosiert kann es dabei helfen, "in sich selbst die innern Möglichkeiten des Wahnsinns wiederzufinden" (Michel Foucault). Speed gebiert schlaflose Wanderer die tagelang ununterbrochen unterwegs sein können. Es übersteigert Stimmungen und enthemmt die assoziativen Sprachzentren. Schlafentzug und Anspannung können nach einigen Tagen Dauerkonsum zu halluzinationsähnlichen Wahrnehmungsverschiebungen führen. Intensitäten und Formen der Besessenheit werden frei gesetzt, die sie das nüchterne Leben so nur selten oder gar nicht bietet – in der Konsequenz wird die Normalität leicht zu einem grauen Zustand. Speed kann in drastischer Form zu den dunklen Seiten in uns führen, das macht es gefährlich und gleichzeitig besser als seinen schlechten Ruf.
Zumeist halten Amphetamine die "Vernunft der Welt" zusammen, sind eine fast schon klassische Selbstmanagement- und Durchhalte-Technik. Millionen Kleinunternehmer, Taxifahrer, Lastwagenfahrer, Prostituierte, Fließbandautoren in aller Welt, können sich nicht irren. Es ist nicht zufällig, dass Amphetamine mit dem Wechsel von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft eine Renaissance erleben und wieder als kleine Helfer im Schatten mitlaufen. Vor allem dort, wo diese Hilfe extrem billig sein muss und billiger als Amphetamin geht es kaum noch. Kontrolle meint in der sich formierenden Ordnung meist eine Kontrolle der Sichtbarkeit, in ihr stört der von Selbstzerstörung gezeichnete Junkie das Bild, während die sich mit Uppern und Downern, sowie kleine Ecstasen auf Zeit Selbstregulierenden mit ihren diskreteren Beschädigungen allein gelassen werden können. Teil dieses Wandels ist der langsame Bedeutungsverlust des aus dem vorvergangenen Jahrhundert stammenden Konzepts von Sucht samt seinen Disziplinarmaßnahmen der sozialen Brandmarkung des Haltlosen, sowie der Aufwertung jeder Wohlanständigkeit. Heute geht es darum, sich als Produktionsfaktor selbstzuverwahren, welcher Methoden man sich dabei bedient sei sekundär. Gewöhnungssymptome erhöhen den Verbrauch und damit die Kosten, die schale Seite der Amphetamine. Aber sie funktioniert. Wie lange für den Einzelnen? Was für eine altmodische Frage.