{David Claerbout}

Frozen Time
von Christoph Doswald

Die Szene ist uns als allegorisches Stereotyp bestens vertraut: Hund und Katze sind »wie Hund und Katze«! Dieser über Generationen tradierte, aus der Erfahrung der unmittelbaren Realität gewonnene Topos animalischer Feindschaft, dieses Urbild vom Fressen und Gefressen werden, hat sich in unserer Vorstellung derart festgesetzt, dass wir das Verhältnis dieser beiden Tierarten so und nicht anders betrachten. Seit den Fabeln von Aesop und La Fontaine ist die Rezeption der Tierwelt eindimensional geworden, die Metapher triumphiert über das Leben.

Dies gilt auch für das Verhältnis von Katze und Vogel, das der belgische Künstler David Claerbout (*1969) in einer eindrücklichen Videoinstallation thematisierte. »Cat and Bird in Peace« (1996), so der Titel des Werkes, besteht im wesentlichen aus einer Konjunktion zweier Paradoxe. Zum einen zeigt Claerbout seine beiden Haustiere in einer 60minütigen Sequenz wie sie dem Volksmund unrecht tun – die beiden Tiere, vor einer braunen Wand sitzend, bleiben vollkommen friedlich. Obwohl das Video gerade aus dieser Konstellation seinen Suspence bezieht, eine Spannung, die freilich nie aufgelöst wird, bleiben die Erwartungen der Betrachter unbefriedigt. Die Bilder im Kopf der Betrachter stehen in deutlicher Differenz zur medialen Realität, die Claerbout uns vorlegt: kein Vogelfressen, kein Blut, kein Gewaltausbruch, sondern die reine Friedfertigkeit zweier miteinander vertrauter, domestizierter Lebewesen. Hony soit, qui mal y pense! »Die Ausstellungsbesucher«, schreibt Claerbout, »erwarten vom Künstler immer, dass er etwas tut. Sie lauern dann darauf, dass es eintritt (Ich versuche das zu beachten).« 1)

Zum anderen operiert Claerbout, und dies ist für die meisten seiner Arbeiten charakteristisch, mit dem Paradoxon der eingefrorenen Zeit. Das Bild der beiden Tiere bleibt während der gesamten Projektionsdauer nahezu unverändert. Nur ab und an wendet die Katze unmerklich ihren Kopf und der Vogel bewegt sein Auge. Standbild? Super Slow Motion? Eine digitale Simulation? Oder einfach pure, dokumentierte Realität? 2) Claerbout lässt die Betrachter, vor allem die schnellen Betrachter, über diesen Sachverhalt ganz gezielt im Unklaren. Und auch Kenner seines Werkes stolpern immer wieder über die Fussangeln der eigenen Wahrnehmungserfahrung. Denn Claerbout spielt in einem fort auf der Klaviatur der Medien, positioniert sein Werk exakt auf der Schnittstelle von Dokumentation und Simulation: »Je echter etwas aussieht«, bemerkt der Ausstellungsmacher Stephan Berg mit Blick auf die grassierenden Simulationsphänomene in Medien und Kunst, »um so fremder, unrealer, falscher ist es (vermutlich). Das ist die Lektion, die das Auge zu lernen hat.« 3)

Dies lässt sich in hohem Masse von Claerbouts Installationen sagen, die um die Fragen von visueller Repräsentation kreisen und das immer unklarere Verhältnis von Authentizität in Bild, Zeit und Ton reflektieren. Dass sich die Kunst- und Medienwelt am unmerklichen Übergang vom illusionistischen zum simulatorischen Paradigma befindet, ist der zeitgeistige Hintergrund seiner künstlerischen Recherchen, der in der aktuellen Installation »Four Persons Standing« (1999) präzise thematisiert wird. In der Mitte des Ausstellungsraums befindet sich eine Projektionsfläche, die auf beiden Seiten passiert werden kann, um einen dahinter liegenden, dunklen Raum zu betreten. Die Fläche fungiert also gleichermassen als Bildträger und als architektonisches Element, das den Raum teilt. Das Bild, ein Videostandbild, zeigt zwei Frauen und zwei Männer in menschlicher Originalgrösse, die sich auf dem Trottoir vor einem Gebäude befinden. Bereits beim Versuch das Bild zu datieren, stösst man an die Grenzen der Rezeption. Der gezeigte Gebäudeteil – wahrscheinlich eine Eingangssituation – stammt aufgrund der modernistischen Formensprache aus dem 20. Jahrhundert. Genau dasselbe lässt sich von den Menschen sagen, deren Kleidung von büromässiger Konformität geprägt ist: die Männer tragen dunkle Anzüge, die Frauen ein Kleid. Erst beim genaueren Betrachten der Kleidung offenbaren sich erste Ungereimtheiten. Der modische Stil der Bildprotagonisten, so uniform er auf den ersten Blick wirkt, will nicht so recht zusammenpassen. Das hat nicht mit allfälligen persönlichen Modepräferenzen der Beteiligten zu tun, sondern basiert tatsächlich auf einer differierenden Modesprache, die sich auch in den unterschiedlichen Frisuren niederschlägt. Kurz: die auf dem Bild zusammengeführten Menschen können nicht in derselben Zeitepoche fotografiert worden sein.

Tatsächlich handelt es sich bei der von Claerbout vorgeschlagenen Bildlösung um eine Found-Footage-Konstruktion 4), die er aus unterschiedlichen Bildquellen generierte. Die architektonische Kulisse des Bildes stammt aus dem Archiv eines holländischen Dokumentarfotografen. Ursprünglich fanden sich auf diesem Ausgangsbild viele Menschen, von denen Claerbout einzig den Mann in der Mitte erhalten hat. Um diese zentrale Figur gruppierte der Künstler danach die beiden Frauen und den zweiten Mann. Die Kleidung der Menschen wurde nachträglich an einigen Details verändert, so dass ihr Ursprung und ihre Herkunft letztlich unklar bleiben. Indem Claerbout die fotografische Abbildung der Wirklichkeit derart verändert und abstrahiert, verwandeln sich seine Bildfiguren in menschliche Prototypen, sozusagen in Rollendarsteller wie wir sie vom klassischen Theater kennen. Obwohl aus unterschiedlichen Bildquellen stammend, stehen die Figuren in Beziehung zueinander, eine seltsame Beziehung, die sich nonverbal über stumme Blicke konstituiert. Die beiden Männer etwa fokussieren die Frau mit der Tasche am rechten Bildrand, die freilich nur Augen für ihr Gegenüber auf der linken Seite zu haben scheint. Diese bildimmanente Kommunikation, über die differierende Zeitrechnungen hinaus funktionierend, verleiht der Projektion eine narrative Dynamik, die von der televisionären Schwingung der Lichtstrahlen noch verstärkt wird – das Bild lebt.

»Kindergarten Antonio Sant’Elia, 1932«, eine Videoinstallation von 1998, ist im medienreflexiven Sinn zwischen den beiden vorgängig beschriebenen Arbeiten anzusiedeln. Während »Cat and Bird in Peace« das Standbild quasi mit laufenden Bildern simuliert und »Four Persons Standing« vorgibt, vom statischen ins dynamische Bildmoment überzugehen, operiert diese Videoinstallation exakt im Grenzbereich von Fotografie und Video. Ausgangspunkt ist ein Schwarz-Weiss-Foto aus dem Jahre 1932, worauf der Künstler bereits im Titel verweist. Es zeigt spielende, in weisse Uniformen gekleidete Kinder im frischgepflanzten Baumgarten des Kindergartens Sant’Elia von Como. Dazu muss man wissen, dass Giuseppe Terragni 5), der Architekt des modernistischen Gebäudes zu den bedeutendsten Vertreter des faschistischen Razionalismo zählt. Daraus erklärt sich auch die elegische Optik, die dem Foto zugrunde liegt. Alles auf dem Bild hat seine Ordnung: die steinernen Bodenplatten, die frisch gepflanzten Bäume, die unbefleckten Uniformen, ja, selbst die sonst zur wilden Entropie neigenden Kinder haben sich diesem Prinzip zu fügen. Und: die Szene wurde bei flachem, harten Morgenlicht aufgenommen, was die Aufbruchstimmung der italienischen Gesellschaft in den dreissiger Jahren wiedergibt.

Claerbouts Re-Konstruktion dieser inszenierten Momentaufnahme beschränkte sich auf einen kleinen, im ersten Augenblick kaum bemerkbaren Eingriff. Er verlieh den Bäumen mittels digitaler Manipulation eine cinematografische Qualität: im Gegensatz zum Originalfoto, das eine kahle Jungpflanzung im Frühling zeigt, besitzen Claerbouts Bäume nämlich Blätter und diese Blätter bewegen sich sanft im Wind. Zwar handelt es sich bei der Intervention des Künstlers um eine loopartige, das heisst, die Bewegung der Bäume bleibt gleichförmig. Dennoch konterkariert die digitale Dynamik der wogenden Blätter das Ordnungsprinzip der propagandistischen Ausgangsfotografie, so dass wir, wenn wir Claerbouts Argumenten glauben dürfen, der Autorität des Bildes, seiner Wahrhaftigkeit abschwören und uns getrost dem Genuss der künstlerischen Simulation überantworten können. In diesem Sinne erfüllt Claerbout eine Forderung, welche der italienische Dichter und Salonlöwe Dino Segre alias Pitigrilli bereits 1922 formuliert. »Wir haben genug vom Wahren, Menschlichen, Wahrscheinlichen«, schrieb er, und folgerte: »Nur im Falschen ist Schönheit.« 6)



Anmerkungen

1) David Claerbout in einem Fax an den Autor, Antwerpen, April 1999
2) Vgl. hierzu die Werke von Douglas Gordon und Andy Warhol. Während Warhol in »Sleep« (1963), seinem ersten Film, den Akt des Schlafens in seiner ganzen Entität fasst, und den Hauptdarsteller John Giorno während sechs Stunden mit der Kamera beobachtet, verlangsamt Gordon den Western »The Searchers« von John Ford auf die tatsächliche Dauer der Handlungsgeschichte; bei ihm läuft der Film fünf Jahre. In Umkehrung zu Claerbout praktiziert Gordon eine Strategie der Verlangsamung laufender Bilder: wer nur einen kurzen Blick auf Gordons Projektion wirft, glaubt, es handle sich um eine Fotografie, da selbst das Anzünden einer Zigarette eine ganze Nacht in Anspruch nimmt.
3) Stephan Berg, «Der Feuerlöscher im Ausstellungsraum oder die Ohnmacht des Auges. Was wir sehen, wenn wir heute Kunst sehen (wollen)», in: Kunstforum International, Vol. 142, Köln 1998, S. 41
4) Bereits in »Ruurlo, Bocurloscheweg, 1910« hat Claerbout eine digitale Bildmanipulation vorgenommen. Die Videoprojektion zeigt eine holländische Ideallandschaft – Bauernhaus, Windmühle, zwei Bauern und einen grossen Baum. Auf den ersten Blick handelt es sich um ein reines Dokumentarfoto. Erst beim genauen Hinsehen entdeckt man, dass sich die Blätter des Baumes unmerklich im Wind wiegen. Mittels subtiler digitaler Animation hat der Künstler die beiden in der Zeitwahrnehmung unvereinbaren Medien Fotografie und Video zusammengeführt, das mediale Raum-Zeit-Kontinuum sozusagen aufgelöst.
5) Vgl. hierzu: Franco Fonatti, Giuseppe Terragni, Poet des Razionalismo, Edition Tusch, Wien 1987.
6) Pitigrilli (Dino Segre), Kokain, Rowohlt, Hamburg 1988, S. 64. Die italienische Originalausgabe wurde 1922 unter dem Titel Cocaina: romanza veröffentlicht.

Text erschienen in:
Kunst Nu 99/4, Museum Van Hedendaagse Kunst, Gent 1999