Kunst als Public domain

von Christoph Doswald

Bine ist Anwaltssekretärin, verheiratet und lebt in Berlin-Wedding. Eigentlich heisst sie Sabine Sommer, aber die meisten kennen sie unter der vertraulichen Kurzform ihres Vornamens. Und das sind nicht wenige. Immerhin dreihundert Menschen schauen täglich bei ihr vorbei – unter der Adresse www. binecam.de betreibt die Blondine nämlich eine Homepage, lässt alle Welt an ihrem häuslichen Leben teilhaben, veröffentlicht ihr Tagebuch und chattet mit den vornehmlich männlichen Benutzern über das, was sie gerade beschäftigt. Dort erfährt der Internet-Surfer etwa, dass Bine gerne liest und nach dem dritten Bier leidlich gut Billard spielt. Das traute Heim als public domain. Nur das Schlafzimmer bleibt Chris, Bines Ehemann, vorbehalten.

Soweit so gut. Wir könnten nun über den Verlust der Privatsphäre räsonnieren, die Entäusserung des Intimen zur Diskussion stellen, die mediale Konstruktion von Realität hinterfragen – alles Themen, die in der Kunst der Gegenwart momentan ausführlich behandelt werden. Doch, so erfährt man aus einem Artikel in der Berliner Zeitung, darüber weiss Bine längst Bescheid: «Die Bilder und Texte», diktierte die Homepage-Betreiberin dem Reporter in den Notizblock, «bleiben ja nur an der Oberfläche.» Soviel Medienbewusstsein haben wir in einem Berliner Aussenquartier nicht erwartet. Und schon gar nicht aus dem Mund einer Anwaltssekretärin.

Die Kultur des Bildes
Der Umgang mit medialen Produkten – auratischen oder reproduzierten – hat sich in den letzten Jahren grundlegend verändert. Dafür ist Bine aus Wedding ein typisches Beispiel. Viele Menschen, die in der westlichen Welt leben, wissen heute darüber Bescheid, dass man den Bildern nicht mehr trauen kann, dass sie, um mit Jean Baudrillard zu sprechen, Simulakren sind: Trugbilder, Blendwerk, Fassaden, purer Schein. 1) Und dennoch geben wir uns nur allzu gerne dem Artifiziellen hin, lassen uns in (Bild-)Welten entführen, die zwar möglicherweise keinen Bezug zur Realität besitzen, aber dennoch den Eindruck vermitteln, das Abgebildete hätte so stattgefunden haben können. Bilder funktionieren im wesentlichen als Vorbilder, als Vergleichsgrössen, als mediale Spiegelflächen im Lacan’schen Sinn. Wir praktizieren diesen alltäglichen Bildabgleich auch deshalb ohne Gewissensbisse, weil wir mit Bestimmtheit wissen: Das Bild ist. Es lebt, trotz seines Oberflächencharakters, ein eigenes Leben, ein Leben, das sich dank seiner Agenten und seiner immer grösseren Glaubensgemeinschaft als stete Verjüngungskur präsentiert. Ein Leben, das mittlerweile dermassen erfolgreich ist, dass wir heute, am Ende des 20. Jahrhunderts von einem Paradigmenwechsel, nämlich von einem Übergang der verbalen zur visuellen Kultur sprechen dürfen. Konnte Tom Wolfe noch mit Bezug auf das semiotische Beziehungsfeld der Bilder von »painted words« schreiben, so müssen wir heute von einer »painted world« ausgehen.

Besonders evident wird die mediale Konstruktion von Realem bei einem Genre, das als »reality soap« in die TV-Geschichte eingegangen ist. So verfolgt etwa ein Kamerteam eine Gruppe von Menschen, die sich auf einer einsamen Insel einem Überlebensspiel hingeben. Täglich liefern die Fernsehstationen die Erlebnisse dieser künstlich herbeigeführten Robinsoniade in die gute Stube. Und einmal wöchentlich muss ein Inselbewohner die Heimreise antreten – aufgrund eines basisdemokratischen Beschlusses. Wer als Letzter noch auf der Insel verbleibt, hat das Spiel und einen dicken Cheque gewonnen. Dieser Spielausgang befriedigt, neben der Widerauferstehung des literarischen Mythos, einen weiteres landläufiges Stereotyp: Sieger sind zwar reich aber einsam. Jüngster Streich der Suppenköche ist eine holländische Sendung mit dem Namen »Big Brother«. Das Konzept der Sendung ist in der Struktur dem Robinson-Spiel verwandt und ebenfalls an ein literarisches Vorbild 2) angelehnt: eine Gruppe von Menschen wird bei ihrem Zusammenleben von allgegenwärtigen, aber für die Akteure unsichtbare Fernsehkameras beobachtet. Allerdings weist »Big Brother« keinen Exoten-Touch auf, sondern dokumentiert das profane, stinkende Leben in der westlichen Wohlstandsgesellschaft: Reality bites, lautet das Feindbild, dem täglich eine Million Fernsehzuschauer mit Hilfe des Fernsehens zu Leibe rücken. Möglicherweise schauen dort so viele Menschen hin, weil es ihnen wie dem amerikanischen Fotografen Jack Pierson beim Betrachten seiner Fotos geht: »Diese Bilder aus meinem wirklichen Leben sollen mich glauben machen, dass mein Leben irgendwie etwas mehr ist, heller, mehr schöne Momente hat als in Wirklichkeit. Ich muss mich selbst davon überzeugen.« 3)


Am Anfang war die Fotografie
Bevor mit der Erfindung der laufenden Bilder die zweite Stufe der Simulakren ins Leben gerufen wurde (die dritte Stufe steht uns mit der Perfektionierung der digitalen Technologie noch bevor), fungierte die Fotografie als einzige mediale Selbstvergewisserungsmethode. Anfänglich noch dem Spezialisten, eben dem Fotografen vorbehalten und eine quasi alchimistische Geheimlehre, eroberte sie nach dem zweiten Weltkrieg mit Hilfe der industriell gefertigten Kleinbildkamera und des mechanisierten Entwicklungs- und Vergrösserungsverfahrens das visuelle Bewusstsein des abendländischen Individuums gänzlich. Paralell dazu stellten die Print-Medien und die Werbung die Fotografie in ihren Dienst und akzentuierten damit das Verhältnis zwischen Mensch und Medium, zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung, zwischen Öffentlichem und Privatem: »Vor dem Objektiv«, schreibt Roland Barthes, »bin ich zugleich der, für den ich mich halte, der, für den ich gehalten werden möchte, der, für den der Photograph mich hält, und der, dessen er sich bedient, um sein Können vorzuzeigen.« 4) Der Berufsstand des Paparazzo situiert sich präzise in diesem Grenzbereich zwischen persönlicher fotografischer Selbstvergewisserung und öffentlicher Zur-Schau-Stellung von Privatem. Das Recht auf das eigene Bild beginnt sich in den fünfziger Jahren unter dem massenmedialen Druck aufzulösen. »Privatleben«, so Barthes, »ist nichts anderes als jene Sphäre von Raum, von Zeit, wo ich kein Bild, kein Objekt bin.« 5) Folgen wir der Barthes’schen Argumentation, dürfte das Private eigentlich gar nicht mehr exisitieren. Denn in der heutigen Zeit bleibt den Objektiven der Bildmaschinen beinahe nichts mehr verborgen. Spätestens weil die Waffenindustrie seit 1989 vermehrt auf zivile Nutzungskonzepte ihrer technologischen Entwicklung setzen muss, scheint die umfassende visuelle Kontrolle nicht mehr aufzuhalten. Unbemannte Helikopter kontrollieren mit sachlicher Akribie den Autoverkehr, Wohnräume werden mit Videokameras bestückt, Warenhäuser mit Objektiven gesichert, Kameras bewachen Grenzübergange, Sateliten erforschen selbst die verstecktesten Talwinkel des Himalayas, kurz: die Welt, ja das Leben sind Bild geworden.

Fotos, wenn sie einem bestimmten Werbezweck dienen, sind Vorbilder. Sie locken uns mit Idealen, sie schockieren mit Tabubrüchen. Sie buhlen um Aufmerksamkeit und haben den Auftrag, ein Produkt und damit auch sich selbst zu vermarkten. Und mit der Wahrheit, soviel ist klar, nehmen sie’s nicht immer genau. Aber sie lassen uns träumen, sie evozieren Gefühle, provozieren die Lust, es ihnen nachzutun. Mit dieser Methode haben sie sich zwar ein grosses Publikum verschafft, aber gleichzeitig auch eine Grenzverletzung begangen: sie wildern im Revier der Kunst. Sie generieren massenhaft jene bildhaften Idealvorstellungen, deren Kreation einst exklusiv der Kunst vorbehalten war. Und als ob das noch nicht genug wäre, plündern die Massenmedien routiniert auch noch die letzten Überreste, welche die auratischen Kunstproduktion hervorbringt – ganz wie in einem Selbstbedienungsladen. Die Fotografie entpuppt sich aus heutiger Sicht als »Missing link« 6) zwischen der Hoch- und der Populärkultur. Andy Warhol hat diese Grenzverletzungen wohl als erster Künstler systematisch den Kampf angesagt. Er schloss die Lücke – »Close the Gap!« 7) – wie der geflügelte Schlachtruf der damaligen Zeit lautet. Und er tat dies nicht mit dem Mittel der Konfrontation und Opposition, sondern setzte auf Infiltration, Simulation und Appropriation. Er zahlte es den Zeitungen, dem Fernsehen und der Werbung, für die er als Grafiker gearbeitet hatte, sozusagen mit gleicher Münze heim. »Seine Vorschläge verstanden sich als Reform der Technik im Geist der Kunst. Die Pop Art machte erstmals wirklich Schluss mit dem Ethos der Kunst, die mit begnadeten Händen >werkte< und >schuf<, um sich vom schnöden Apparat der Moderne zu unterscheiden.« 8)

Seither nimmt das oszillierende Recycling zwischen High- und Low-Culture kein Ende. Die Kadenz dieses mit viel Witz und Ironie ausgetragenen Ping-Pong-Spiels steigt ständig. Es unterliegt dem kulturökonomischen Paradigma des Neuen, wie es Boris Groys treffend charakterisiert. 9) Abgesehen von einigen wenigen retardierenden Intermezzi – etwa das Revival der figurativen Malerei in den achtziger Jahren – wird das Match zwischen der Kunst und den Massenmedien seit geraumer Zeit auf dem Terrain der technischen Bildproduktion ausgetragen. Wer die grössere Aufmerksamkeit erzielt, so die Regel, gewinnt.Transfers sind erlaubt. Cindy Sherman, die seit den siebziger Jahren mit inszenierten Fotos die medial-normative Konstruktion des Frauenbildes thematisiert, wurde beispielsweise kurzfristig vom japanischen Haute-Couture-Haus Comme des Garçons für ein Probetraining angeheuert. Sie konzipierte im typischen Sherman-Stil eine Serie von Postkarten, welche die Ankunft der Herbst-Winter-Kollektion 1993/94 in den Boutiquen verkündete. Die englische Modemacherin Vivienne Westwood, bereits selber mit ihrer Piraten-Kollektion im Victoria and Albert Museum vertreten, bediente sich voriges Jahr im Louvre – Géricaults »Floss der Medusa«, haargenau im Fotostudio nachgebaut, gab die pittoreske Kulisse für ein Inseratesujet der exzentrischen Modemacherin aus England ab. Und der italienische Werbefotograf Oliviero Toscani, ausgebildet an der Zürcher Schule für Gestaltung, schaffte mit seiner Benetton-Kampagne, die das Kunst-Stilmittel des Tabubruchs äusserst erfolgreich auf Pullover und T-Shirts ummünzte, den Einzug in die heiligen Ausstellungsräume der Biennale von Venedig.

Parasiten
Früher waren die Museen die Agenten der Kunstwerke. Die hehren Hallen haben ihre Geschichte bewahrt, die Motive überliefert, die Genealogie entwickelt und den Gottesdienst für die Jünger, die sich Künstler oder Kunstliebhaber nennen, abgehalten. Heute konstatieren wir nicht nur allenorten eine augenfällige Steigerung der Museumsdichte (was nichts anderes als eine Folge der Erhöhung der Bildproduktion und eine Veränderung unseres Freizeitverhaltens ist) 10), sondern auch eine zunehmende Verlagerung dieser Zeremonienstätten aus ihrem angestammten bürgerlichen Kontext in den Innenstädten an die Peripherie der urbanen Räume. Verlassene Fabriken, leerstehende Wohnhäuser, unbenutzte Pissoirs oder repräsentative Eingangshallen, Sitzungszimmer und Vorplätze von Unternehmen dienen neuerdings als temporäre Heimat für die Gegenwartskunst – und bezeugen die Vergesellschaftlichung und die Ausfransung des Kunst-, Ausstellungs- und Museumsbegriffs gleichermassen. Die Kinder der Nachmoderne scheinen tatsächlich gewillt, die Forderung ihrer Klassiker-Grossväter nach dem Zusammengehen von Kunst und Leben einzulösen. Und nur allzu gerne ist man auch als Kunstvermittler mit der entsprechenden Terminologie zur Hand: »Lebenskunstwerk« 11) lautet das letzte Schlagwort einer sich ständig beschleunigenden und immer autopoietischer gebärdenden Rezeption. Kunst, obwohl schon mehrfach totgesagt, präsentiert sich als vitales Paradox zwischen Systemimmanenz und Public domain.

Parallel dazu gilt auch ein weiteres Paradox, nämlich jenes, dass die Kunst zwar implizit die westliche Konsumwelt reflektiert, ihre gesellschaftliche Virulenz gewissermassen aus dieser Entseelung und Säkularisierung unserer Gesellschaft bezieht, aber anderseits wohl den wertvollsten Warenfetisch der Konsumgüterbranche hervorbringt: ein limitiertes und im besten, weil exklusivsten Fall, einmaliges Produkt, das Kunstwerk eben. Und weil Kunst auch als Ware betrachtet wird, gelten für sie analoge Gesetze wie für andere Markenartikel. Galeristen, Kritiker und Kuratoren fungieren denn auch – obwohl sie gerne öffentlich das Gegenteil vertreten und den idealistischen Gehalt der Werke hervorheben 12) – als Marketingberater der jeweiligen künstlerischen Produktelinien, die sich mittels der sogenannten »Handschrift« positionieren. Grosskritiker wie etwa Achille Bonito Oliva, der Erfinder der »Transvanguardia« oder Pierre Restany, dem wir den »Nouveau Realisme« verdanken, sind typische Kritiker-Phänomene, die ohne die Sehnsucht des Konsumenten nach Markenzeichen und Stilmerkmalen nicht hätten entstehen können. Auch wenn ich selber gewissermassen zu diesen Marketingagenten im Dienste der Kunst zu rechnen bin, so fällt mein Urteil über die eigene Berufsgattung nicht gerade positiv aus. Ich gehe darin einig mit Michel Serres ernüchternder Analyse, der unsereins als Parasiten bezeichnet: »Sie können nichts und haben deshalb Zeit«, schrieb er. »Sie gehen umher, sie schauen, vergleichen, urteilen und wissen ohne Zweifel, wo es gute Suppe gibt. Sie sind Männer der Vermittlung, des Auswählens des Urteils. Sie nehmen den Raum ein, sie wissen, wo sie sich plazieren sollen und wo sie andere, die ihrerseits eine Stelle suchen, plazieren können. Der Diskurs um die Position erfüllt den Raum. […] Er redet nur strategisch, nur in Begriffen der wissenschaftlichen und erobernden Besetzung von Orten, er ist nichts als Strategie. Die Rede vom Ort verheert die Orte, besetzt die Orte, richtet die Orte zugrunde, schafft Orte.« 13)

Pfadfinder
Unmerkliche Differenz, subtile Ironie, satirische Affirmation – alles Stilmittel der aktuellen Kunstproduktion – setzen enorme Kenntnisse der Materie voraus. Neben diesem schon fast alchimistischen Geheimwissen um subkulturelle Codes, philosophische Diskurse, Alltagsphänomene und geistesgeschichtliche Referenzen 14) müssen Kunstliebhaber allerdings auch eine gehörige Portion von pfadfinderischem Talent mitbringen. Neulich erhielt ich die Einladungskarte eines jungen Künstlers, der in Berlin lebt. Auf der Vorderseite des Werbemittels war ein geometrisches Wabenmuster in roten und silbergrauen Farbtönen abgebildet (sehr trendy). Auf der Rückseite fanden sich alle relevanten Informationen für die direkte Begegnung mit dem Werk: Sponsoren, eine Stadtangabe, ein Strassenname, eine Hausnummer, eine Vernissagezeit. Ich ging hin. Allerdings nicht zur Eröffnung (da befand ich mich gerade irgendwo in einem Flugzeug oder einem Hotel, ich weiss es nicht mehr genau), sondern eine Woche danach. Als Habitué kannte ich natürlich die Auguststrasse. Dort firmieren die meisten wichtigen Berliner Galerien. Dennoch irrte ich zehn Minuten umher, schaute hinter Baugerüste, um Hausnummern zu eruieren, pirschte durch Hofeinfahrten, weil ich dort den Ort der Kunst vermutete, drückte meine Nase an Schaufenstern platt, um den Lichtreflex der Strassenlaterne auszuschalten und landete schliesslich an einer kahlen Brandmauer, wo sich in einem Plakatgeviert das Wabenmuster der Einladungskarte wiederfand. Heureka! Wir stellen fest: alleine schon das Auffinden eines Kunstwerkes im öffentlichen Raum ruft Glücksgefühle hervor. Denn das Kunstwerk hat sich zwar subversiv und unauffällig in das Strassenbild eingeschlichen, aber, dank unserer Pfadfinderqualitäten und sublimen Kennerschaft dennoch seine Autonomie bewahrt.

Nicht dass ich gegen das Sprengen der institutionellen Grenzen der Kunstvermittlung wäre. Im Gegenteil: würde die kulturelle Produktion nur in den herkömmlichen Kanälen fliessen, wäre das letztlich ihr Tod. Das ständige Vergleichen von Altem und Neuem, das Recherchieren und Beobachten, das Neu-Justieren der Wahrnehmung sind eminente Bedingungen für das Entstehen und Verstehen von Kunst, für ihre permanente Erneuerung. Doch im Unterschied zu früher als sich die künstlerischen und kuratorischen Grenzverletzungen innerhalb eines klar definierten Rahmens abspielten (notabene ein Rahmen, dessen Grenzen sich lange als weit genug erwiesen haben), hat sich die Kunst, vor allem aber ihr Repräsentationsraum in den letzten zehn Jahren neu definiert und eine andere, nicht immer auf den ersten Blick erkennbare Form verpasst. Seit den strategisch-künstlerischen Setzungen der Pop Art wird die Grenzziehung zwischen Kunst und Nicht-Kunst zunehmend schwieriger. Die Ästhetisierung des Alltags und der Wegfall der Ideologien trägt schliesslich das ihre zur Verunklärung des Kunstbegriffs bei.

Morphing system
Wenn aber die Kunst zusehends aus dem Rahmen kippt, dann ist es eigentlich nicht verwunderlich, dass die an neuen Formulierungen laborierende küstlerische Subkultur andere Plattformen erfindet und definiert. Das kann eine Video-Sound-Lounge wie das Zürcher »substrat« sein, wo die Synthese von zeitgenössischer Musik, Tanz, Video- und Computerkunst geprobt wird. Das kann sich als Ausstellungsmodell manifestieren, das sich ständig erneuert und verändert, einem dauernden Prozess ausgesetzt wird und gleichzeitig dank einer Bar zum sozialen Treffpunkt avanciert – in einer ehemaligen Zürcher Klinik im letzten Jahr vorgeführt und treffend als »morphing system« bezeichnet. Der Terminus »morphing«, ursprünglich bei der digitalen Bildbearbeitung gebräuchlich, könnte auch als Metapher für den gegenwärtigen Zustand unser westlichen Kultur stehen. Unsere Welt befindet sich in einem Übergangsstadium mit ständig wechselnden und auseinander hervorgehenden Seinszuständen. Obwohl die Destination der Reise noch ungewiss ist, steht soviel bereits jetzt fest: die Wissenschaft wird in wenigen Jahren die Bauweise des Erbgutes aller Lebewesen entschlüsselt haben; die verbale Kultur wird von der visuellen abgelöst, die analoge von der digitalen, die sesshafte von einer nomadischen.

Wir experimentieren also sowohl kulturell wie gesellschaftlich mit verschiedenen bekannten und unbekannten Variablen, die wir immer wieder anders kombinieren. Dass die Kunst davon nicht unberührt bleibt, ist klar. Ja, betrachtet man ihre Geschichte, dann wimmelt es darin von Übergangsphasen, von chimärischen Zuständen von synkretistischen Experimenten, die sich zwischen der scheinbar logischen Abfolge von Stilen und Epochen ansiedeln. Oder anders gesagt: die Kunstgeschichte ist ein permanentes »morphing system«, die Bilder offenbaren sich als autopoietische Wesen. Ein wesentlicher Unterschied ist allerdings beachtlich: wenn die Kunst derart vehement das Museum verlässt und in unsere Lebenswelt eindringt, dann befinden wir uns an der Stunde Null der Kunst als public domain. Ob das gut ist? »Die Geschichte der Freiheit ist erzählt«, schreibt Beat Wyss, »sie muss jetzt nur noch Gegenwart werden, indem wir sie vollziehen.« 15)


Anmerkungen

1) Vgl. hierzu: Jean Baudrillard, Agonie des Realen, Berlin, Merve Verlag, 1978
2) Der Name der Sendung stellt Assoziationen zu George Orwells Roman 1984 her, der das Szenario der totalen Überwachungsgesellschaft quasi prophetisch entwickelt hatte.
3) Jack Pierson, zitiert Susanne Boecker/Rolf Dank, »Für mich ist alles Dekoration aber Dekoration des Lebens im Gegensatz zum Bemalen einer Leinwand«, in: Kunstforum, Nr. 133, S. 270-277
4) Roland Barthes, Die helle Kammer, Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1989, S. 22
5) Ebenda, S. 23
6) Die von mir konzipierte Ausstellung mit dem gleichnamigen Titel thematisiert diesen Sinnzusammenhang zwischen visueller fotografischer Kultur und unmittelbarer Realität und bezeichnet ihn als »missing link«, als Bindeglied zwischen Kunst und Leben. Vgl. hierzu: Christoph Doswald (Hg.), Missing Link: Menschen-Bilder in der Fotografie, Katalog Kunstmuseum Bern, Edition Stemmle, 1999
7) So lautete der Titel des programmatischen Aufsatzes, den Leslie Fiedler 1964 im Playboy veröffentlichte.
8) Beat Wyss, Die Welt als T-Shirt. Zur Ästhetik und Geschichte der Medien, Köln, DuMont, 1997, S. 54
9) Boris Groys, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München/Wien, Hanser, 1992
10) In sozialdemokratisch regierten Ländern wie Frankreich und Spanien, trug in den achtziger Jahren ausserdem die Idee von der >Demokratisierung der Kultur< zum Museumsboom bei.
11) Vgl. hierzu: Paolo Bianchi (Hg.), LKW: Dinge zwischen Leben, Kunst & Werk, Lebenskunstwerke, Linz/Klagenfurt, Katalog Offenes Kulturhaus/Ritter Verlag, 1999
12) Beat Wyss hat diese Ambiguität zu Recht als mehrheitlich europäisches Phänomen bezeichnet: »Das Verfallensein an die Ware zwischen Kritik und Mimesis hat Tradition bei der europäischen Linken.« a.a.O., S. 114
13) Michel Serres, Der Parasit, Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1987, S. 223
14) Vgl. hierzu: Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1991
15) Beat Wyss, a.a.O., S. 118

Text erschienen in:
Werner Fenz/Ruth Maurer (Hg.), Public Domain, Katalog zur Oesterreichischen Fototriennale/Triton Verlag, Wien 2000