Christoph Doswald

Die Konstruktion der Wahrnehmung


Besonders interessiere ihn, schrieb Stefan Banz vor drei Jahren, "die Frage nach der gegenseitigen Bedingtheit von Künstler, Kunsttheoretiker und Kurator." Damals trat er vornehmlich als Kurator in die Öffentlichkeit. Als Gründungsmitglied der Kunsthalle Luzern zeichnete er mitverantwortlich für die gesamte Programmation und auch für die Inszenierung einzelner Ausstellungen. Zuvor aber übte der heutige Künstler alle möglichen Funktionen des arbeitsteilig organisierten Kunstsystemes aus: er schloss an der Universität Zürich das Studium der Kunstgeschichte ab, betrieb eine Galerie für junge Schweizer Kunst, verfasste Ausstellungsrezensionen für Fachmagazine wie für die Tagespresse und legte mehrere Dutzend unpublizierte Kurzgeschichten und Gedichtfolgen vor, welche persönliche Befindlichkeiten im Kontext wahrnehmungsspezifischer Betrachtungen thematisierten.

Biographisch gefärbte Erläuterungen zur Gegenwartskunst sind beim Fachpublikum nicht sehr beliebt. Der Verweis auf Genealogien und Herkunft, der von Kunsthistorikern vergangener Jahrhunderte genauso unbefangen zur wissenschaftlichen Methode erklärt wie von Künstlern gelebt wurde, ist im Kontext der Diskussionen um die internationalistische Moderne, um Werk-Autonomie und Bildrealität, zur verpönten Grösse geworden - und es, trotz postmodernem Zeitalter, bis heute geblieben. Zu beachten gilt es allerdings eines, und das insbesondere wenn man die künstlerische Praxis von Stefan Banz vorstellt: das autonome Kunstwerk, auratisch und selbstreferentiell, ist ein problematischer Mythos; die aktuelle Kunst, mit aneignenden Strategien arbeitend, hat sich davon schon lange verabschiedet. Retro-und Ethno-Reflexionen , Wahrnehmungs- und Kommunikationsdiskussionen, protowissenschaftliche künstlerische Versuchsanordnungen, welche die bisherigen Erkenntnisse deklinieren sowie die technizistische Generierung virtueller Kunst-Realitäten sind an die Stelle utopischer Modelle und Kunst-Weltentwürfe getreten.

Multiple Rezeption

Im Kontext dieser parallel ausgebildeten, differenzierenden künstlerischen Praxis kommt dem Curriculum von Stefan Banz in Bezug auf sein Werk besondere Bedeutung zu. Aus der Beschreibung seiner Vita schälen sich die Konturen, ja die tragenden Pfeiler seiner Herangehensweise und Arbeitsmethodik heraus, die, wie er selber treffend festhielt, hauptsächlich der Frage nach der gegenseitigen Bedingtheit von Produzent, Vermittler und Rezipient im Rahmen des Kunstsystems gilt. In diesem Sinne sind auch die kuratorischen, vermittelnden, rezipierenden und produzierenden Komponenten seines Schaffens nicht getrennt zu beurteilen; sie nehmen gegenseitig Einfluss, befruchten und bedingen einander, treiben ein gescheites (Ver-)Wechselspiel, das den Betrachter zwingt, genauso die Konstruktion der eigenen Wahrnehmung zu hinterfragen wie jene des Künstlers zu eruieren, beides zu vergleichen und zu beurteilen. Hinter dieser Haltung der multiplen Wahrnehmungsforschung steckt aber auch die Skepsis eines Künstlers, der an der auratischen Autonomie des von ihm geschaffenen Werkes grundsätzlich zweifelt. Nicht ohne Grund besetzen die Installationen von Stefan Banz exakt jenen Ort, der als Kippstelle in der Rezeption funktioniert.

Als Blickfang der aktuellen, raumbezogenen Arbeiten fungiert meist eine grossformatige Fotografie. Die Sujets der Bilder entstammen der nahen Umgebung des Künstlers - die Stadt Luzern, sein Haus, sein Garten, die bäuerlichen Voralpen, also seine aktuelle und geschichtliche Heimat bilden die Kulisse vor der seine Kinder, seine Frau, seine Freunde posieren, um von Banz mit der Optik eines Amateurfotografen in allen Lebenslagen festgehalten zu werden. Die Fotografien sind derart angelegt, dass ihnen, vor allem im Kontext von Kunstausstellungen, eine eindeutige Lesbarkeit abgeht; sie entfalten im Kern schon jene Qualität, welche die Gesamtinstallation auszeichnet - "Bilder jener Augenblicke", wie der Künstler schrieb, "in denen sich Zufall und Scharfsicht verbinden und das verborgene Mysterium der Wirklichkeit in seiner seltsamen Vieldeutigkeit sichbar wird".

Von besonderer Bedeutung ist in diesem Kontext eine Gemeinschaftsarbeit, die Banz 1992 zusammen mit dem Ausstellungsmacher Harald Szeemann, dem Philosophen Jacques Derrida und dem Gärtner Wada Jossen vorgelegt hat. »Der Anbau des Museums«, so der programmatische Titel der Installation, thematisierte Phänomene, die, obwohl aus der Sicht der klassischen Rezeption an der Kunstperipherie angesiedelt, entscheidenden Einfluss auf das zeitgenössische Schaffen ausgeübt und die Diffusion des Kunstbegriffes beschleunigt haben. Szeemann, dessen Ausstellungen den Autonomie-Charakter von Kunstwerken auf eine interaktive, szenisch-thematische Ebene stellten, liess an die Fenster des Ausstellungsraums den Satz »Besser sehen durch Agentur für geistige Gastarbeit« und auf den Boden das Statement »Gedanken ohne Humus sind Blumen ohne Farben« stempeln. »Physis en différance«, die orthografisch falsche, aber semiotisch korrekte Kernaussage von Jacques Derrida zierte in roten Lettern die Wände des Ausstellungsraums, während der Gärtner Wada Jossen, den von Szeemann gestempelten Boden mit einer Humusschicht und schliesslich mit einem blühend-duftenden Garten überdeckte Die Zusammenarbeit von Jossen, Szeemann und Derrida unter der Regie von Stefan Banz zeitigte eine Gesamtinstallation, deren poetische Verspieltheit einerseits und konzeptionelle Stringenz andererseits, die Auflösung des herkömmlichen, eindimensionalen zugunsten eines multipel verwendbaren Kunstbegriffs exemplarisch auf den Punkt brachte und dabei die treibende Kraft der peripheren Einflüsse würdigte.

Banz amtete bei dieser Inszenierung zwar offiziell als Kurator, doch das Konzipieren der Ausstellung und das Zusammenbringen der drei elementaren Positionen kann im Kontext seines Werkes durchaus als genuiner Akt des Kunstwollens gelesen werden. Zumal im Rückblick die Methodik der Verschränkung von unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen ein konstitutives Element seines Schaffens bildet. Entsprechend besitzt schon das verbale Ausformulieren visueller Denkprozesse Kunstwerkcharakter: »Texte zur, über oder für die Kunst«, vermerkte Banz, »sind [] in Wirklichkeit oft Texte der Kunst, denen man denselben Stellenwert zubilligen muss, wie dem Kunstwerk selbst, sofern sie aus einem kreativen Wollen heraus entstanden sind.«

Das Oeffentliche - die Bühne

Museen, Galerien, Kunstmessen - alles ist Bühne, Spielfläche und Projektionsraum auf denen Künstler und Kuratoren ihre Inszenierungen vorbringen, ihre Werke und Optik zur Diskussion stellen. Das Ausstellen gerät zum exhibitionistischen Akt, es markiert eine prekäre Bruchstelle - das Aufeinandertreffen der Intimität und der Privatheit einerseits und der glamourösen Scheinwelt, der Vermarktung, Veröffentlichung und unkontrollierbaren Rezeption andererseits. Die Installationen, welche Stefan Banz vornehmlich für seine Zürcher Galerie auf Kunstmessen konzipierte, spielen gekonnt und mit sublimer Präzision auf diese Schnittstelle an. »Bad«, so der Titel des 1994 an der Art Cologne in Köln erstmals gezeigten Werkes, soll hier exemplarisch für die vom Künstler gewählte Strategie vorgestellt werden. Die Installation besteht aus drei standardisierten Kojenwänden wie sie in Messegebäuden üblich sind und einer Glasscheibe, welche den Ausstellungsraum gegen den Gang hin von den zirkulierienden Besuchern abtrennt, aber dennoch vollkommene Einsicht in das Geschehen im Raum ermöglicht. An der Kopfwand befindet sich eine grossformatige Fotografie. Der ganze Raum steht knöcheltief unter Wasser und ist nur über eine in der Seitenwand eingelassene Tür und mit Gummistiefeln betretbar.

Die Fotografie zeigt ein ungefähr vier Jahre altes Mädchen. Das Kind liegt nackt und arglos in einer Badewanne, aus der das Wasser soeben ausgeflossen zu sein scheint. Seine Haare sind noch nass, doch der Gummistöpsel steckt da, wo er hingehört - er verschliesst den Abfluss. Von oben fotografiert, ragt, den Amateurstatus der Aufnahme betonend, in einer Ecke die Fussspitze des Fotografen ins Bild. Absicht oder nicht? Hitchcok-Effekt oder Dilletantismus? Ein Unfall? Ein bevorstehendes Verbrechen? Kindesmissbrauch? Eine Anspielung an kunstgeschichtliche Insidermythen à la Vermeer?

Das Gleichgewicht aus sinnlich-physischer Präsenz einerseits, und subtilen Anspielungen und unbeantwortbaren Fragen andererseits, setzt sich im räumlichen Ensemble fort. Aus der sicheren Distanz hinter der Glasscheibe betrachtet, erfährt das Fehlen des Wassers in der Wanne eine szenische Weiterführung durch seine Anwesenheit in der Koje. Die Glaswand ruft beim kunstbeflissenen Betrachter Duchampsche Assoziatioen hervor. Und: sie evoziert den minimalistischen Anspruch der richtigen Betrachtungsdistanz eines Kunsterkes, die wiederum durch die Begehbarkeit der Installation in Frage gestellt wird. Betritt ein Besucher nämlich in Gummistiefeln die Koje, transformiert sich seine Rolle; vom unbeteiligten wird er zum involvierten und ausgestellten Betrachter, zu einem Teil des Kunstwerkes. Er betritt selber die Bühne, wird durch das Kunstwerk kontextualisiert und avanciert zum Akteur. Kanalarbeiter? Sittenpolizist? Kunstkritiker? Kinderschänder?

Das Spiel, das Stefan Banz mit unseren Nerven, unseren persönlichen Erfahrungen, unterschwelligen Gefühlen und unserem Kunst-Bewusstsein betreibt, ist zwar ein illusionistisches - die Verknüpfung der verschiedenen Werks- und Wahrnehmungsebenen passiert im Kopf des Betrachters und ist vom Künstler kaum mehr zu kontrollieren. Doch Banz scheint es genau darum zu gehen, die ihm unbekannte Rezeptionsklaviatur zum Klingen zu bringen und damit beim Betrachter die Reflexion über seine eigene Reflexion in Gang zu setzen - ein Verfahren, das in unserer mediatisierten Instant-Welt von immer grösserer Bedeutung zu sein scheint. Wenn Fernsehserienhelden vertrauter sind als die eigenen Nachbarn, wenn also die virtuelle Realität über das eigentliche Sein triumphiert, dann gilt es mit Recht und Nachdruck die Frage nach der Authentizität der eigenen Wahrnehmung zu stellen.

Das Private - die Kunst

Man könnte das Werk von Stefan Banz im Rahmen der Kontext-Kunst-Bewegung situieren - eine Zuordnung, die, vor dem Hintergrund der Frage nach dem Repräsentationsmodus seiner Arbeiten, durchaus berechtigt ist. Doch im Gegensatz zu den erkenntnisbezogenen Arbeiten, welche diese Tendenz hervorbringt, zielt das Werk von Banz nicht nur auf systemimmanente Fragestellungen, sondern entwickelt eine dezidiert private Sprachlichkeit. Dies zeigt sich einerseits in der schon hervorgehobenen Beschränkung seiner Fotografien auf intime Sujets, deren klare Entschlüsselung durch ihre Vieldeutigkeit gezielt verunmöglicht wird. Andererseits kommt der unkommentierten Veröffentlichung dieser privaten Welt eine intersubjektive Zeitgemässheit zu, die ihre nivellierte Entsprechung in der medialen Aufbereitung intimster Fragestellungen auf Talk-Show-Niveau findet. Nur: die Fotografien und Installationen von Stefan Banz liefern keine psychologisierenden Erklärungs- und Beruhigungsformeln im Stil der Fernsehbriefkastentante Margarete Schreinemakers, sondern potenzieren im Gegenteil den Fragenkatalog - die Dekodierungsmöglichkeiten seiner Installationen sind vielfältig, suggestiv und appellieren in hohem Masse an die Imagination und das Bewusstsein der Betrachter. Derart zwischen scheinbar sentimentaler, privater Oberflächlichkeit und abgründiger Suggestivkraft angelegt, verweisen seine Werke auf die eigentümliche Spannung zwischen Wunschbild und Realität wie sie beispielsweise in den Filmen von David Lynch vorgestellt wird, fordern vom Betrachter einen interaktives, prozesshaftes Wahrnehmen, das Sein und Schein einer permanenten Ueberprüfung unterzieht.

Das Vordringen an die »innere Peripherie« , das explizite künstlerische Bearbeiten dessen, was uns vermeintlich bekannt ist, was sich auch in unseren eigenen vier Wänden abspielen könnte, löst beim Betrachter unterschiedliche Reaktionen aus. Dem exhibitionistischen Modus des Künstlers steht der voyeuristische des Betrachters gegenüber - ein Voyeurismus, der umso schwerer zu ertragen ist, als er sich auf einen sattsam bekannten Gegenstand, nämlich die vom Banz'schen Familienidyll prototypisch verkörperte eigene Lebenswelt richtet.

Das beiläufige Fokussieren auf ritualisierte und eingefahrene Wahrnehmungsmuster, für das Boris Groys den Begriff der »hinreichenden kulturellen Erfahrung« geprägt hat, zieht sich wie ein roter Faden durch das vielschichtige Werk von Stefan Banz. Seien es Repräsentations- und Rezeptionsmodi zeitgenössischer Kunst, sei es die gleichzeitig und mit provokativem Gleichmut betriebene Vorstellung privater Lebensstationen, die sich in den Köpfen der Betrachter mit individuellen Erfahrungen auflädt ­ seinen Installationen und Fotos gelingt es im Zusammenspiel eine derart dicht gewobene Projektionsfläche zu schaffen, dass jede von den Betrachtern abgegebene Antwort auf die vom Werk gestellten Fragen ins Leere laufen und neue Fragen aufwerfen. Umgelenkt und multipliziert auf den Absender zurückgeworfen ist dieses endlose Oszillieren der projizierenden Multiplikation im Spiegelkabinett vergleichbar ­ dort allerdings verschwindet der Spuk mit dem Abgang des Betrachters.

Erstveröffentlichung in: Ausstellungskatalog, Linz 1996