Christoph Doswald

E t h n o,  W h a t  E t h n o ?


Künstlerische Praxis an der inneren Peripherie

Das Fremde, das Andere ist in aller Munde. Gemeint sind damit die Kulturen der nicht-westlichen Welt. Daß dieser Blickwinkel notwendigerweise auch eine komplementäre, nach innen gerichtete Facette besitzt, d.h. auch die Rezeption des marginalisierten Eigenen schärft, wird leicht vergessen. Das Andere ist nämlich zuallererst eine Frage des eigenen Standpunktes und Standortes - und die haben sich in der westlichen Zivilisation nach 1968 nachhaltig verändert. Es ist jedenfalls evident, daß eine ganze Künstlergeneration trotz den um sich greifenden Globalisierungsprozessen eine ausgeprägte Optik für das Naheliegende, Alltägliche entwickelt hat, das Fremde im Eigenen erforscht und damit der von allzu häufiger Fernsicht erzeugten Blindheit eine Exotik des Alltäglichen, eine von der Nahsicht geprägte Perspektive entgegenhält.

Kulturökonomie

Die westliche Gesellschaft ist die Heimstätte der Neophilie. Die Suche nach dem Neuen hat am Ende unseres Jahrtausends eine bislang nie gekannte Takterhöhung bewirkt. Trends und Moden wechseln häufiger als die Modellreihen der Autoproduzenten. Dahinter, so könnte man salopp sagen, steckt die unerhörte Beschleunigungswirkung der globalen Mediennetze, welche subkulturelle Mini-Bewegungen unmittelbar aufarbeiten und verstärken. Dahinter stecken aber auch die veritablen Marktinteressen einer postkulturellen Dienstleistungsgesellschaft, die dem Money-making eine derart fundamentale Bedeutung beimißt, daß darob inhaltliche Auseinandersetzungen eliminiert oder instrumentalisiert werden. "Das Neue", stellt Boris Groys treffend fest, "ist ein kulturökonomisches Phänomen." Begreift man die Kunstwelt als ökonomisches System, unterliegt das Zusammenspiel zwischen Kunst, Künstler, Galerie, Museum, Käufer und Medien denselben Mechanismen wie jede andere Branche. Und wie jede Branche braucht auch das Kunstsystem immer häufiger neue Produkte, neue Namen, neue Markenzeichen, neue Trends.

Es mag vielleicht zynisch tönen, tut man die aktuelle Vereinnahmung der Peripherie als reines Marktphänomen ab. Denn das gestiegene Interesse am Anderen, am Fremden ­ begünstigt vom postmodernen, politisch-korrekten und esoterischen Zeitgeist ­ besitzt durchaus auch Erkenntnis-Aspekte, die den eurozentrischen Ansatz zu unterlaufen suchen, allerdings ohne dabei das herrschenden Gefälle wirklich in Frage zu stellen So vertreten einige Ethonologen neuerdings die introspektive Methode, suchen die Innensicht der nicht-westlichen Völker via expliziter Nicht-Beeinflussung zu ergründen: der amerikanische Ethnograph Terence Turner stattete beispielsweise die brasilianischen Kayapo-Indianer mit einfachen Videogeräten aus und überliess ihnen die Entscheidung, welche Themen sie als dokumentationswürdig erachten.

Im Vergleich mit der analogen Entwicklung um die letzte Jahrhundertwende, als die westliche Avantgarde sich aussereuropäischer Kulturen bediente, um zum kunsthistorischen Quantensprung anzusetzen, schneidet die aktuelle Hinwendung zum Exotischen ziemlich schlecht ab. Spielte damals der Wunsch nach formalen Neuerungen, nach dem Zerstören des hergebrachten Formen- und Farbenkanons, nach einer Revolution des perspektivischen und abbildenden ästhetischen Dogmas eine treibende Rolle, so muß das jetzige Interesse an der Kultur der südlichen Hemisphäre als pure marktwirtschafliche Blutauffrischung oder als sentimentale Heimholung verstoßener Kinder gelesen werden. Gemessen am inhaltlich-formalen Input, den die "anderen Impulse" ermöglichen könnten, scheint die substantielle Auseinandersetzung mit dem fremden Kulturgut nämlich ausgesprochen dürftig zu sein und nach wie vor nach paternalistischem Muster zu funktionieren.

Es verhält sich jedenfalls so, daß der hiesige Kunstbetrieb weiterhin nach den internalisierten Mustern der Moderne funktioniert und die dortige Kunstproduktion entsprechend rezipiert. Die Künstlerinnen und Künstler der Peripherie sind sich wiederum genau bewußt, daß in der Regel nur eine Hinwendung zu westlichen Kultur-Paradigmen einen Markterfolg nach sich zieht. Westliche Kritiker, Galeristen und Sammler beurteilen die Kunst der zweiten und dritten Welt nicht anhand genuiner, authentischer Kriterien. Sie spähen sich, weil sie gar nicht anders können, im Fremden das Eigene aus - ein Rezeptionsmuster, das schon die Kolonisatoren bei ihren ersten Kulturkontakten praktizierten, was beispielsweise dem südamerikanischen Kontinent aufgrund rein äusserlicher Ähnlichkeiten reihenweise europäische Ortsnamen bescherte.

Der Vertreter des westlichen Kulturkreises, schreibt Nigel Barley, "konfrontiert diese Leute [die Eingeborenen] mit einem Selbstbild, das wohl oder übel von eigenen Vorurteilen und vorgefaßten Ansichten geprägt ist, weil es ja im Verhältnis zu fremden Völkern so etwas wie eine objektive Realität nicht gibt." Wird das vom Westler entworfene Spiegelbild zum Vorbild, so führe das zu einer "verknöcherten Selbstdarstellung" . Lediglich wenn Selbstbild und Spiegelbild aneinander gemessen und überprüft werden, wenn daraus eine imagosynthetische Wechselwirkung resultiert, kann von einem einigermaßen machtfreien Kulturkontakt gesprochen werden.

Lokalkultur versus Globalkultur

Die stete Erweiterung des Peripheriebegriffs ist nicht nur inhaltlich, sondern durchaus geographisch zu verstehen. Daß man heute für ein Flugticket nach Bali genauso wenig bezahlt, wie vor 20 Jahren für eine Reise nach Rimini, verdeutlicht dieses Näherrücken auf touristischer Ebene. Gleichzeitig hat sich das ökonomische Gleichgewicht zu Ungunsten der Peripherie verschoben, so daß eine nie gekannte Migration in Richtung der nördlichen Wirtschaftsmetropolen eingesetzt hat. Die Verkürzung der realen wie der virtuellen Distanzen hat einerseits den Blick für das nicht-westliche Fremde, für die "äußere Peripherie" geschärft, und andererseits auch zu einer Umkehrbewegung, zur Fokussierung und Neu-Beurteilung der "inneren Peripherie" geführt. Die Verschiebung der Distanzen, soviel ist sicher, hat den Standort aller, insbesondere aber des westlichen Individuums wesentlich verändert. Das Bewußtwerden vom Fremden im Eigenen wird als Chance begriffen, die inneren Wertbilder wieder festzumachen, es soll einen ruhenden Gegenpol zur als Bedrohung empfundenen Beschleunigung bilden, soll eine Standortbestimmung im multikulturellen Einheitsbrei leisten. Im Unterschied zu "den frühen Avantgarden dieses Jahrhunderts, wird das 'Andere' nicht mehr als ein ausserhalb der eigenen Zeit stehendes 'Primitives' aufgefasst. Das Andere, von dem heute die Rede ist, ist vielmehr Produkt gegenseitiger Ausschlussprozesse in den Metropolen selbst."

Das abendländische Individuum hat sich sukzessive vom Eigenen entfernt. Das Zentrum, die eigene kulturelle Position hat sich zugunsten der fremden Kulturen verschoben. "Aus der Distanz zur Handlung", resümiert der Hamburger Ethnologe Fritz W. Kramer folgerichtig, "ergibt sich die Chance, die Beziehungen zu gewahren, die die anderen hervorbringen." Wenn das Eigenen zum Anderen wird, besitzt diese Beobachtung auch für unsere Lebenswelt Gültigkeit. An die Stelle lokal verwurzelter, kultureller Identitäten sind Bewegungen wie Alltagskultur, Oeko-Kultur, Pop-Ästhetik, Globalkultur , Esoterik, Frauenbewußtsein und Medienkultur getreten, die als implizite Reaktion auf Ideologie- und Identifikationsverluste gedeutet werden müssen. Diesen neuen, identifikationsstiftenden Phänomenen ist eine eigentümliche Dynamik eigen: sie oszillieren zwischen lokalem und globalem Anspruch. Während Pop und Medien auf eine multikulturelle Rezeption ausgerichtet sind, gleichzeitig lokale Eigenheiten absorbieren und ihre weltumspannenden Netzwerke ausbauen, kann bei den Ökobewegungen und in der Alltagskultur das Gegenteil beobachtet werden: Verinnerlichung, Rückzug, Rückbesinnung auf der einen, neokonservativen Seite und die Neubeurteilung bzw. Rekontextualisierung von Vergangenem und Auto-Authentischem auf der progressiven, zukunftsgerichteten Ebene. Im besten Falle, wie Jürgen Habermas meint, könne daraus eine Kultur entstehen, "die zusammenführt, ohne Abstände zu tilgen, die verbindet, ohne Verschiedenes gleichnamig zu machen, die unter Fremden das Gemeinsame kenntlich macht, aber dem Anderen seine Andersheit beläßt".

Charakteristisch an den vermeintlich gegenläufigen Kulturmodellen mit lokalem oder globalem Anspruch ist deren paradoxonhaftes, auf Integration abzielendes Neben- und Miteinander. "Think global, act local" ist keinesfalls nur eskapistische Werbepoesie. Der Slogan bringt die Sehnsucht der heutigen Gesellschaft nach einer fruchtbaren, lebenswerten Synthese von Eigenem und Fremden sinnfällig auf den Punkt ­ Retro-Ethno, Jetztzeit-Ethno und Avant-Ethno sind chronologische Kategorisierungen, in denen dieser pragmatische Utopie-Begriff in der heutigen künstlerischen Praxis funktioniert. "Es ist", schwärmt Paolo Bianchi vom aktuellen Zeitgeist, "die Suche nach einer neuen, vielleicht verlorenen Identität. Es ist die Neuschreibung einer verzerrten Weltgeschichte. Es ist die Neubenennung von Weltbildern. Wir fungieren als Geburtshelfer einer neuen Kultur."

Retro-Ethno: Postideologische Identitätsstifter

Noch nicht einmal sechs Jahre sind vergangen, seit mit dem Fall der Berliner Mauer der Untergang des sozialistischen Regierungssystems eingeläutet wurde. Das Datum ist insofern von Bedeutung, als es den Wegfall einer ideologischen Polarisierung markiert, die unser Jahrhundert geprägt hat wie der Glaube an die Moderne. Daß vornehmlich in den osteuropäischen Ländern heute mit allen Mitteln eine Identitätsdiskussion geführt wird, geht insofern direkt auf diesen Ideologie- und den damit verbundenen Strukturverlust zurück. Ethnisch-politische Konflikte à la Jugoslawien oder Tschetschenien markieren die wohl augenfälligste, schrecklichste und konservativste Form dieser Auseinandersetzung, die das vormals Eigene mit einem Mal als fremd begreift. Augenfällig daran ist die Instrumentalisierung ethnischer Stereotypen und aufgewärmter Ressentiments, die vor dem Hintergrund der Identitätssuche skrupellos in den Dienst partikulärer Machtinteressen gestellt werden. "Die Utopie des Anderen", wie Boris Groys folgert, "wird von der Masse des Trivialen, Abgenutzten und Stereotypen aufgesaugt."

Die zukunftsbezogene Suche nach der eigenen Kultur mit einer Optik, die sich nach innen und nach rückwärts richtet, ist Thema der Kunstproduktion vieler osteuropäischer Länder. Dort regieren momentan die postideologischen Identitässtifter. An der Aperto 93 stellte beispielsweise die rumänische Künstlergruppe subREAL das Projekt "Draculaland" vor. Die von der Gruppe praktizierte Analogie vom historischen Mythos des blutsaugenden Grafen aus Transsilvanien und dem eben erst beendeten Gewaltregime der Ceaucescus kommunizierte einerseits die klassischen Stereotypen, welche der westliche Betrachter mit Rumänien verbindet. Andererseits markierte die Aktion auch einen höchst kathartischen Akt an der Grenze von innerer und äusserer Peripherie, einen Akt, der die eigene Vergangenheit und Mythen nicht ausblenden, sondern einer möglichen Duplizität der Ereignisse zuvorkommen und der Zukunft eine Chance einräumen will.

"Das Bedürfnis", so Viktor Misiano, Kurator des russischen Biennale-Pavillons in Venedig, "eine neue Identität für ein neues Land zu suchen", sei die vorrangige Aufgabe der ausstellenden Künstler. Weil sich im Chaos der russischen Jetztzeit noch keine klare Richtung ausgebildet habe, versuche er, eine prozeßhafte Bewegung in der Ausstellung zu dokumentieren. Evgeny Asse, Architekt, Vadim Fishkin, Künstler und Dmitri Gutoff haben unter seiner Aegide ein "mutuelles Statement" erarbeitet, das auf "intellektuelle Auseinandersetzung" ziele.

Kernpunkt der Gruppeninszenierung bildete die Diskussion um den aktuellen Wiederaufbau der Moskauer Christ-Erlöser-Kirche. Zwischen 1838 und 1883 im Herzen der russischen Metropole als Zeichen der national-religiösen Identität erbaut, wurde sie 1931 zerstört., weil am gleichen Ort der Sovjet-Palast, das architektonische Symbol der kommunistischen Hegemonie errichtet werden sollte. "Die Entscheidung der Re-Konstruktion", so Misiano, "besitzt den Charkater einer historischen Revanche." Hinter dem in Venedig mittels Collagen, Videos und Installationen visualisierten künstlerischen Forschungsprozeß steckt die essentielle Erkenntnis, daß die Geschichte, die Tradition - so schmerzhaft und beschämend sie auch sein mag - Teil der kollektiven wie der indivduellen Identität ist, welche die Gegenwart prägt. Rekontextualisierende Spurensicherung mit zukunftsgerichtetem Anspruch an der inneren Peripherie praktiziert, transzendiert das Alte zum Neuen, das Fremde zum Eigenen.

"In meinem Studio", erinnert sich Ilya Kabakov, "entwarf ich viele Pläne für Installationen. Diese waren sehr genau gezeichnet in der Hoffnung, daß Archäologen sie in einer unbestimmten Zeit finden und rekonstruieren würden. Es war wie ein Brief, der in die Zukunft gesandt wird. Darum mußte er perfekt sein, für die Menschen, welche einer anderen Zivilisation angehören, und an welche diese Briefe und Ideen aus dem Untergrund gerichtet waren." Kabakovs installatives Arbeiten operiert systematisch mit der Methode der rekontextualisierenden Spurensicherung an der inneren Peripherie. "C'est ici que nous vivons" (Das ist der Ort, wo wir leben), der Titel seiner jüngsten Arbeit, besitzt in diesem Kontext programmatischen Charakter. Die Installation umfasst eine rechteckige Wagenburg, die aus einem guten Dutzend "Rollerheime" gebildet wird. In diesen mobilen Behausungen für Bauarbeiter hat Kabakov die Tristesse und Ärmlichkeit des real existierenden Sozialismus rekonstruiert: durchgesessene Fauteuils, abgewetzte Kommoden, glanzlose Buffets, sentimentale Erinnerungsphotos - ein kritischer und zugleich optimistischer Rückblick, weil auf dem Komposthaufen der Geschichte, so die von Kabakov via Baustellenplakat angekündigte Vision, die "Stadt der Zukunft" heranwächst.

Jetztzeit-Ethno: Die Exotik des Alltäglichen

Auch wenn die Exotik des Alltäglichen ohne das gesteigerte Augenmerk für Massenkonsumgüter, für die sogenannten "Low Culture" nicht möglich gewesen wäre, so eignet der nach innen gerichteten Optik wie sie beispielsweise das Schweizer Künstlerpaar Peter Fischli/David Weiss betreibt, eine eigenständige künstlerische Haltung. In ihrer 1981 erstmals gezeigten Arbeit "Plötzlich diese Übersicht" hat das Duo 250 Objekte unterschiedlichster Herkunft - vom pathosgetränkten Christus am Kreuz bis zum banalen Rucksack - aus ungebranntem Ton zu einer "Überschwemmung mit enzyklopädischem Charakter" versammelt. "Dargestellt werden", so Fischli/Weiss, "wichtige, vergessene, entscheidende oder nebensächliche Szenen aus der Geschichte und Gegenwart der Erde und des Menschen." Neben betörenden simulativen Momenten zeugt die Objektsammlung, wie Patrick Frey schreibt, von einem "intensiven Staunen". Das Normale, das vermeintlich Banale gerät im Kontext dieser Kunststrategie zum Exotischen, kippt manches Mal gar ins Absurde und betreibt damit eine vorurteilsfreie Archäologie unserer Lebenswelt.

Sinnentleerung und Rekontextualisierung von alltäglichen, aus ihrem persönlichen Umfeld entstammenden Bildern, Objekten und Szenen bezwecken bei Fischli/Weiss die Hinterfragung der kollektiven Wahrnehmung. Wo wir nicht mehr bewußt hinschauen, weil sich unsere Augen vom gewohnten Anblick abwenden, da gucken sie besonders interessiert und systematisch hin. So haben sie beispielsweise bekannte Ferienbildstereotypen (Cheopspyramiden, Matterhorn, etc.) oder die Agglomerationsarchitektur, welche das Schweizer Landschaftsbild seit den 60er Jahren nachhaltig prägt, mit Foto-Studien unter die Lupe genommen. "Siedlungen, Agglomeration", wie die Künstler-Untersuchung heißt, dokumentiert ein übersehenes Kapitel helvetischer, wenn nicht europäischer Alltagsgegenwart und belegt die Uniformität der menschlichen Behausung, die, unabhängig von Zeit, Ort und Bewohner eine gleichsam identische Erscheinung zeitigen.

Verwandte künstlerische Strategien verfolgen der japanische Fotograf Nobuyoshi Araki, der Schweizer Stefan Banz oder die deutschen Fotokonzeptkünster Gerd und Hilla Becher. Mit einer visuellen Untersuchungsanordnung haben sie die industriegeschichtlichen Wurzeln Deutschlands ins Zentrum eines enzyklopädischen Werkes gerückt. Stillgelegte Kohlefördertürme, außer Betrieb gesetzte Wasserspeicher wurden vom Fotografenpaar quasi-archivalisch mit einer sachlichen Optik in Schwarz-Weiss-Bildern festgehalten. Die derart dokumentierten ehemaligen Alltagsindustrieobjekte besitzen einen hohen ästhetischen Gehalt, sind aber auch archäologische Zeugen eines ausgemusterten Weltbildes, verweisen damit im Zeitalter von virtuellen Realitäten auf die letzlich immer noch physische Dinglichkeit unseres Seins und halten dem von der medialen Simulation verführten Blick die Fremdheit der eigenen Zivilisation vor Augen.

Avant-Ethno: Das Fremde im Eigenen

Fremdheit zur Welt (auch zur eigenen) ist, um mit Adorno zu sprechen, eine Voraussetzung für moderne Kunst. Damit ist eine bewußt gewählte Distanz zu herkömmlichen Betrachtungsweisen unseres Kosmos gemeint. "Das ist keine Kunst, das ist nicht schwer (Redensart)", persifliert das Schweizer Künstlerpaar Marcel Biefer/Beat Zgraggen den Volksmund und bringt damit Grundsätzliches eines nach Innen gerichteten Zukunftsdenkens auf den Punkt. Was dem Betrachter nämlich allzu naheliegend und vermeintlich vertraut erscheint, wurde bis vor kurzem als unkünstlerisch erkannt und als ungültig verworfen - es war vom Standpunkt der Kulturökonomie aus betrachtet nicht neu, sondern alt. Hier scheint sich nun ein Paradigmenwechsel abzuzeichnen: "In der letzten Zeit", schreibt Thomas McEvilley, "ist die Kunst in einer neuen Funktion hervorgetreten (oder ist dieser Funktion wiederbegegnet): Sie rückt die Definitionen der Identität - quer durch alle Kulturen und interkulturell - in den Blickpunkt." Biefer/Zgraggen graben im wahrsten Sinn des Wortes nach den Wurzeln unserer gegenwärtigen Kultur, lassen sich als Militärdienstverweigerer in Gefängnisse einschliessen (Militärkultur), werden Mitglied in einem irischen Fußballklub (Vereinskultur), mit dem sie ihre Kulturfördergelder im Pub versaufen, richten eine Beratungsstelle für junge Künstler ein (Beratungskultur), oder bereisen in der selbstdefinierten Rolle des "Beuteträgers" den afrikanischen Kontinent (Reise- und Jagdkultur): Die subversive Simulation von Gemeinplätzen und alltäglichen Mechanismen sei ihnen "ein Mittel, die über der Kultur lagernde Gesellschaft zu untergraben."

Gegen den versteinerten Blick an der inneren Peripherie arbeiten der Franzose Jean-Luc Vilmouth und der kanadische Fotokonzeptkünstler Jeff Wall. Seine in Hollywood-Manier mit Schauspielern und Ketchup inszenierten Bilder, scheinen banale Alltagswelten darzustellen: ein Kind im Park, ein Picknick im Grünen, eine propere Vorstadt in der Mittagshitze, Wall Street während der Rush Hour. Zwar weist sich Wall als begnadeter Kenner und Neu-Interpret kunsthistorischer Motive aus, doch die Rezeption seiner Werke kokettiert erst auf zweiten Blick mit dem Kunstkontext. Seine eigentliche Methode ist das Aufbrechen unseres an Stereotypen geschulten und abgestumpften Alltagslicks, dessen Ignoranz er mit subtil-subversiven Irritationen unterwandert. Wall beobachtet die Phänomene mit quasi-ethnographischem Blick und befragt mit seiner Inszenierungsstrategie den "Modus der Vorführung (der selbst eine Form der Konstruktion des Anderen ist)" . Die Vorstadtidylle avanciert bei genauerem Hinsehen zur Bühne für ein Familiendrama, das Kinderporträt zum Abbild der postnatalen Entfremdung und Einsamkeit, das Straßenbild mit Obdachlosen zum Synonym der gegenwärtigen sozialen Gleichgültigkeit. Aus der Wahrnehmung solcher Randexistenzen entwickeln sich, wie Wall sagt, "wesentliche Elemente der historischen Erinnerung, der Erinnerung an Werte, die vom kapitalistischen Fortschritt marginalisiert werden und gründlich vergessen scheinen" - Werte also, die für die Entwicklung neuer Denkstrukturen und einer neuen Weltgesellschaft von unabdingbarer Wichtigkeit sind.

Erstveröffentlicht in: Neue Bildende Kunst 1996