Christoph Doswald
O h D a n d y, o h D a n d y
»Das Detail hat die Funktion, dem Dandy das Fliehen
vor der Masse zu ermöglichen, ihn für sie unerreichbar zu machen.
Seine Einzigartigkeit ist absolut in der Essenz, aber gemässigt in
der Substanz, denn er darf nie ins Exzentrische fallen, das ja in besonderer
Weise nachahmbar ist.«
Roland Barthes
Jean Floressas Des Esseintes verachtete "den Durchschnittsmenschen,
dessen grobe Netzhaut den jeder Farbe eigenen Rhythmus und den geheimnisvollen
Zauber ihrer Abstufungen und Nuancen nicht wahrzunehmen vermag; verwarf
auch bürgerliches Sehen, das sich dem siegreichen Glanz vibrierender,
starker Tönungen entzieht; schätzte lediglich Leute mit raffinierten,
durch Literatur und Kunst geschulten Pupillen". Der Herzog, Hauptfigur
des am Ausgang des letzten Jahrhunderts verfassten Romans Gegen den Strich,
gilt als literarische Verkörperung des Décadents, der sich durch
seine Lust am Abwegigen und Künstlichen und seine Sucht nach neuen
Sinneseindrücken auszeichnete. Er ist aber auch, wie der Literaturkritiker
Robert Baldick schrieb, "der moderne Mensch schlechthin, gepeinigt
von einer unbestimmten Sehnsucht nach einem schwer fassbaren Ideal, einst
'mal du siècle' genannt, hin und hergerissen zwischen Sucht und Sattheit,
Hoffnung und Enttäuschung, schmerzlich der Tatsache bewusst, dass seine
Freuden endlich, seine Bedürfnisse aber unendlich sind."
Es mag irritieren, dass das Werk eines Künstlers des
ausgehenden 20. Jahrhunderts mit Worten eingeleitet wird, die mehr als hundert
Jahre früher geschrieben wurden. Man könnte vermuten, dass nostalgische
Verweisabsichten dahinterstecken. Doch darum geht es nicht. Der Schweizer
Künstler Ugo Rondinone (*1963) versteht sich ganz und gar als Zeitgenosse,
als einer, der seine Kunst als Akt der Gegenwärtigkeit, als Produkt
der Jetztzeit vorbringt. Doch genau in dieser Aktualität liegt auch
der Bezug zur genannten Vergangenheit, zum Fin-de-siècle, zur Sublimität
und Referentialität der Wahrnehmung, zum Ennui wie sie der französische
Romancier Joris K. Huysmans so treffend schilderte. Die literarischen Figuren
des Dandy, des Flaneurs und des Décadents, die von Charles Baudelaire,
Walter Serner, Barbey d'Aurevilly, Oscar Wilde, Sören Kierkegaard,
Walter Benjamin und in der neuen Ausformung des "Camp" auch von
Susan Sontag beschrieben wurden, können in gewisser Weise als alter
ego des Schweizer Künstlers Ugo Rondinone verstanden werden, der wie
der Décadent Des Esseintes das Ende einer Epoche, nämlich der
Ausfransung der Moderne erlebt, sich mit dieser Periode des Umbruchs und
der Vergegenwärtigung von Kulturentwicklung mittels individualistischer
Strategien und appropriierender Attitüden auseinandersetzt und der
Widersprüchlichkeit der Welt mit dem künstlerischen Paradox der
Ambivalenz entgegentritt.
Individualisierte Präsentation
Rondinone zeigt seine Werke nicht einfach nur im Kontext
des Kunstbetriebs, sondern er präsentiert sie in einem dezidiert eigenen
Rahmen. Er operiert mit Bühnen, Kuben, Kammern und Wänden, die
aus groben, mal rohen, mal crèmefarbig bemalten Holzbrettern gezimmert
werden. Er verwendet also das klassische Vokabular architektonischer und
bühnischer Inszenierung und setzt sich damit über den räumlichen
Kunst-Kontext hinweg, individualisiert, ja psychologisiert ihn. Andererseits
könnte dieser Akt der Nachahmung von Kunstpräsentationsräumen
auch als kommentierende Verdoppelung, als Kenntlichmachung eines internalisierten
Sachverhalts - Kunst wird in Kunsträumen mit allgemein verbindlichen
Parametern (indirektes Licht, glatte meist weisse Wände, unprätentiöses
Ambiente, Ruhe) gezeigt - verstanden werden. Er tut dies jedoch nicht
nach einem stringenten konzeptionellen Muster, sondern appliziert die räumlichen
Eingriffe manches Mal mit derartiger Nonchalance, Zurückhaltung und
Beiläufigkeit, dass sie dem Betrachter auf den ersten Blick kaum auffallen.
Im Zürcher Museum für Gegenwartskunst, wo Rondinone
1996 mit "dogdays are over" eine grosse Installation zeigte, bezog
sich seine räumliche Akzentuierung auf die Fenster und auf das Oberlicht.
Während die Verbarrikadierung der Fenster mit einem dunklen Farbrahmen
kenntlich gemacht war, konnte die Holzblende, welche die Glasscheiben des
Sheddaches verdeckte, kaum wahrgenommen werden. Konzentrische Farbkreise
an den Wänden, Monitore im Raum, die am Boden liegende, lebensgrosse
Clowns zeigen - die üblichen Ausstellungsvokabeln des Künstlers
- beanspruchten zuerst einmal die Aufmerksamkeit des Betrachters. Erst
beim Beschreiten des Raums, wenn der Besucher bemerkte, dass seine Bewegung
als Auslöser für das von der Decke ertönende Gelächter
fungierte, richtete sich sein Blick nach oben, um zu erkennen, dass die
Halle als Kunstraum keine unversehrte Hülle, sondern für die spezifischen
Bedürfnisse des Künstlers adaptiert und manipuliert worden war.
Manipuliert deshalb, weil mit der Abdeckung des Oberlichts auch eine grundlegende
Veränderung des künstlerischen Präsentationskontextes verbunden
ist. Die explizite Absage Rondinones an das gebrochene natürliche Licht,
sonst Symbol der perfekten Kunstwerkspräsentation, versteht sich aber
nicht als ein Eingriff im Rahmen der Kontext-Kunst-Diskussion , sondern
als Akt der dezidierten räumlichen Autonomie, der Besetzung eines Raumes
mittels der Veränderung von dessen Struktur. Im Zusammenhang dieser
Inbesitznahme von Ausstellungsorten verunklärt der Künstler meist
bestehende Durchgangs- und Durchblickmomente - er vernagelt die Fenster,
verstellt den Raum mit eigenen Wänden, markiert Ein- und Ausgänge
mit einem Vorhang aus glitterndem Lametta. "Er gedachte lediglich",
wird über Des Esseintes berichtet, "sich zu seinem eigenen Vergnügen
und nicht mehr zum Erstaunen der anderen [] eine merkwürdige, stille
und den Bedürfnissen seiner zukünftigen Einsamkeit angepasste
Einrichtung zu schaffen."
Analog zu dieser architektonischen Verinnerlichung funktionieren
Rondinones Landschaftsbilder. Grossformatig, mit Tusche ausgeführt
und meist zentral an der Wand positioniert, geben sie vor, den Blick zu
öffnen. Doch den Bildern eignet ein repetitiver Gestus. Nicht im Motiv,
sondern in der Peinture, deren mechanische Interpretation zur tapetenhaften
Formel gerinnt. Die Landschaften, von selbst angefertigten Strichzeichnungen
fotografiert, mit dem Diaprojektor an die Wand geworfen und dort vom Künstler
und seinen Assistenen reproduziert, sind menschenleer und ohne Seele, Metaphern
der Isolation und einer möglicherweise melancholisch-autistischen Beschäftigung.
Die Welt wird nicht abgebildet, um sie zu (be-)greifen, sondern um vor ihr
zu flüchten, um Distanz zwischen Subjekt und Objekt einzulegen, um
die Grenze zwischen Aussen- und Kunstwelt zu akzentuieren. Mit der lakonischen
Betitelung der Werke - Rondinone verwendet dazu die verbalisierte Form
des Entstehungsdatums, beispielsweise ERSTERJUNINEUNZEHNHUNDERTNEUNZIG -
gerinnt das malerische Handwerk vollends zur repetitiven Geste, zur alltäglich
sich wiederholenden und auch ermüdenden Tätigkeit im Atelier.
Unterstrichen wird diese Lesart durch grelle, konzentrische Farbkreise,
ein anderes Element von Rondinones Inszenierungsvokabular; direkt auf die
Wand gesprayt, von anonymer Eintönigkeit, erinnern sie an die zeichenhaften
"Tags", die Signatursymbole der Graffiti-Künstler. Tagsüber,
gab einer dieser Sprayer zu Protokoll, setze er sich in die U-Bahn-Station
und schaue zu, wie die Züge mit seiner Unterschrift vorbeiziehen.
Ennui und Anti-Exzentrik
Die Einsamkeit des zeitgenössischen Künstlers
namens Ugo Rondinone korrespondiert mit jener des Flaneurs. Nicht die ungewollte,
in der heutigen Gesellschaft so verbreitete Sprachlosigkeit, sondern die
selbstgewählte Distanz zum Zweck der Beobachtung, doch nahe genug am
Geschehen, um nicht in der Isolation zu versinken. "please?",
so der Titel einer Installation von 1995, verdeutlicht Rondinones spezifische
Position des konstatierenden Zuschauens. Hauptfiguer des in der Zürcher
Galerie Walcheturm gezeigten Werkes ist der Künstler selbst, sein aus
Polyester gefertigtes Double. Der Raum, in dem er sich befindet, ist leer.
Er sitzt in einer Ecke auf den Brettern, die den Boden bedecken. Selbstversunken,
gelangweilt, teilnahmslos. Draussen, vor dem Fenster, fahren die Strassenbahnen
im Takt vorüber. Alle drei Minuten ein blauer Streifen. "Es schien
ihm sicher, dass den Augen dessen, der vom Ideal träumt, der Illusionen
fordert und das Abendrot verschleiert wünscht, im allgemeinen Blau
und dessen Abstufungen wohltun".
Das Leben hinter der Scheibe pulsiert, zieht an ihm vorbei,
dem Flaneur moderner Prägung, der, ohne sich von Ort zu bewegen und
ohne genau hinzusehen, doch eine gültige Beobachterposition einzunehmen
versteht. Das Fenster wird zum Monitor, der Künstler zum Couch potatoe,
zu einem Medienkonsumenten auf dem Sofa, der mit seiner Wahrnehmung scheinbar
mühelos von Kanal zu Kanal springt. Nur ab und an vom Gang zum Kühlschrank
unterbrochen, wo das Bier lagert. "Und wenn er an das neue Leben dachte,
[] so empfand er eine um so lebhaftere Heiterkeit, als er sich hoch genug
auf der Uferböschung fühlte, damit die Welle von Paris in nicht
erreichen konnte, und doch nah genug, damit diese Nähe der Hauptstadt
ihn in seiner Einsamkeit bestärkte."
Die stetig betriebene, subtile Verschiebung der eigenen
Wahrnehmungsposition könnte als eigentliches Thema von Rondinones
installativer Praxis bezeichnet werden. Ja, er ist in einem gewissen Sinne
das, was man einen Chronisten der Kunst-Jetztzeit nennt; er schöpft
nicht Eigenes, sondern eignet sich Fremdes an. Doch er tut dies nicht im
Rahmen einer eklektischen Kombinatorik. Indem er das Fremde mit den Versatzstücken
der eigenen Biografie synthetisiert, gelingt ihm eine aktualisierende, individualisierende
und in gewisser Weise auch exhibitionierende Aufladung der bereits Kunstgeschichte
gewordenen Ikonen. Rondinones Polyester-Double schlüpft in die Gestalt
einer Duane-Hanson-Skulptur; seine Fernseh-Clowns kultivieren das Schweigen
der Passivität, statt den Schmerz wie bei Bruce Nauman; seine konzentrischen
Farbkreise huldigen dem selbstgefälligen verschwimmenden Sfumato der
Spraydose, statt eine Diskussion über Farbfeld-Thematik zu führen
wie Kenneth Noland, oder die massenmediale Emblematik des Kreiszeichens
im Sinne von Jasper Johns "Targets" zu hinterfragen.
Solche gezielt eingesetzten Momente der Verunsicherung,
des Zweifels, der Verunreinigung, der Fälschung, der (selbst-)ironischen
Subversion, der maliziösen Mimikry sind bei Rondinone weder Apologetentum
noch postmodernes Verwirrspiel, sondern ein Mittel, die Ambiguität
des eigenen Künstlerdaseins zu verdeutlichen. "Je est un autre",
ein Diktum Arthur Rimbauds, das in diesem Zusammenhang schon erwähnt
worden ist, vermittelt einen Aspekt dieser mythologisierenden Vermischung
von Realität und Fiktion, Leben und Kunst. Nur: Was ist Realität?
Was Illusion? Was Aneignung? Was Travestie? Was Kritik? Was Affirmation?
Was pure Lust am Verwirrspiel? "Man muss es nur verstehen, seinen Geist
auf einen einzigen Punkt zu konzentrieren und sich genügend zu vertiefen,
um die Halluzination herbeizuführen und den Traum von der Wirklichkeit
der Wirklichkeit selbst unterschieben zu können."
Hybrides Ich
Die illusionäre Realität ist am Ende des 20.
Jahrhunderts ein alltägliches Phänomen, die mediatisierte Erfahrung
dem sinnlichen Erleben mindestens gleichgestellt, die menschliche Identität
aufgesplittert in multiphrene Persönlichkeitsstrukturen. "I don't
live here anymore", so der Titel einer Werkserie, die der Künstler
1995 in Angriff genommen hat, ist eine einprägsame Metapher für
diese hybridisierten Realitäts- und Ich-Begriff. Die grossformatigen
Fotos, eine am Computer generierte Synthese von Modefotos und dem Konterfei
des Künstlers, katapultieren Rondinone per Knopfdruck in die glamouröse
Welt der Supermodels, der Klatschspalten und modischen Extravaganzen. Allerdings,
und das unterscheidet Rondinones Vorgehen von anderen, ähnlich gelagerten
Werken , hat sich der Künstler nicht der perfekten Mimikry verschrieben.
Die Hochglanzfotos, oft auf einem grellen farbigen Hintergrund präsentiert,
kombinieren das stoppelige, ungeschminkte und oftmals übernächtigte
Gesicht des Künstlers mit den vollkommenen Körpern der weiblichen
Schönheitsideale unserer Zeit - eine Methode, die an die naiv-illusionistische
Jahrmarktsfotografie erinnert, wo die Passanten ihr Porträt in prominenter
Papmaché-Kulisse verewigen lassen. Die derart praktizierte Offenlegung
des Bild-Konstruktionsprozesses bei gleichzeitigem Verweisen auf Alltags-
und Modeästhetik verschafft der Fotoserie eine hybride Aura von eindringlicher
Evidenz. "I don't live here anymore" transportiert kollektive
Wunschbilder ins persönliche Fotoalbum und ist gleichzeitig ein Symbol
für die Unbehaustheit der (Medien-)Subjekte.
Seit 1992 arbeitet Rondinone an Tagebüchern. Ausschnitte
davon tauchen auch als Wandschriftbilder in seinen Installationen auf. Die
Blätter, eine in schwarzer Tusche gehaltene Collage aus Text- und Zeichnungsfragmenten,
den italienischen Sfumeti (Pornozeichnungen) nachempfunden, berichten in
lapidaren Worten und holzschnittartigen Notaten von anonymen Telefonaten,
von Koks und Valium, von der selbstgewählten Einsamkeit des Künstler-Bohèmiens.
Sex and Drugs and Rock'n Roll. Eine Montage von stereotyp vorgetragenen
alltäglichen Dingen und Begebenheiten, eine mythologisierte Künstler-Biografie,
die wie ein breiter Fluss ohne erkennbare Störung in irgendeine Richtung
fliesst. Ein Stimmungsbild mit subkulturellem Anstrich, eine inszenierte
Autobiographie ohne Zukunft und mit kurzer Vergangenheit. "Bei einer
Faschingsparty", schrieb Rondinone, "ging ich als Massenmörder
komplett, mit einem Schild auf dem Rücken, das mich als Massenmörder
auswies, und darunter hatte ich in Blut geschrieben 'Hallo ich bins', und
auch der Anzug war blutbesudelt, manches falsch, das Meiste echt".
Sowohl die Tagebücher als auch die Modellfotos operieren
mit einem manipulierten, stilisierten und überzeichneten Ich des Künstlers.
"Days between Stations" hingegen, eine Sammlung von 120 Videokassetten
von 60 Minuten Länge, die Rondinone zwischen 1993 und 1996 verfertigt
hat, gibt mit dem Mittel der Videodokumentation seine "reale"
Lebenswelt wieder. Von der Badewanne bis zum Strassenkrawall, vom winterlichen
Spaziergang am Zürichsee bis zur esoterischen Befragung von Tarotkarten.
Den Sequenzen, die uns Rondinone vorführt, ist eine, im Gegensatz zu
den montierten Fotos, eigentümliche Unverfänglichkeit eigen. Es
sind Bilder ohne Dramaturgie, ungeschnitten, von einem fixen Beobachtungsstandpunkt
her aufgenommen, sozusagen Bilder, denen der Regisseur abhanden gekommen
ist. Denn der sitzt da, in seiner guten Stube, oder bei Freunden am Tisch,
lässt sich von der auf einem Küchenstuhl installierten Dokumentationsmaschine
beobachten, erfährt sich gleichsam im sinnlichen Hier und Jetzt und
im mediatisierten Archiv der televisionären Bilder "und sah zu,
wie er sich im unendlichen Spiel der Spiegel wiederholte, bis seine benommenen
Augen wahrnahmen, dass der Käfig sich nicht mehr bewegte, aber das
Zimmer schwankte und wankte und das Haus mit einem rosa Tanz erfüllte."
Erstveröffentlichung: Biennale Sao Paolo 96