ÜBER DAS BESCHREIBEN, INTERPRETIEREN UND VERSTEHEN VON INTERNETBASIERTEN WERKEN
von HANS DIETER HUBER
Das Ziel der Interpretation
Das Ziel jeglicher Interpretation ist das Verstehen. Interpretation ist ein Instrument der Erkenntnis, das es uns erlaubt, unsere Existenz in der Welt zu verstehen. Das Ziel der Interpretation internetbasierter Kunstwerke als eine kleine, spezielle Teilaufgabe dieser großen Erkenntnisarbeit liegt dementsprechend im Verstehen dieser Werke als eines Teilbereichs des Verstehens der Welt, in der wir leben. Der vorliegende Text versucht, anhand von Fragen und einzelnen methodischen Schritten, eine möglichst systematische Interpretationsmethode für internetbasierte Kunstwerke zu entwickeln. Wie bei jeder Interpretationsmethode liegt das Nadelöhr im tatsächlichen Nutzen der Anwendung. Die Erfahrungen des praktischen Interpretierens zeigen, dass das methodische Gerüst davon nicht unberührt bleibt und sich durch die Praxis selbst verändert. Dies ist wünschenswert. Insofern besteht ein zirkulärer Zusammenhang zwischen der Entwicklung methodischer Interpretationsschritte, ihrer Überprüfung und Anwendung in der Praxis des Interpretierens und einer rückwirkenden Veränderung der methodischen Ansätze durch die Erfahrungen der Praxis.
Begriffsklärung
Im Bereich von internetbasierten künstlerischen Werken von einem Betrachter oder einem Rezipienten zu sprechen, mutet seltsam passiv und eingeschränkt an. Denn eine Person, die an irgendeinem Ort in der Welt ein Netzkunstwerk anschaut, tut dies nicht passiv, sondern sie ist aktiv, handelnd und erforschend mit ihrem ganzen Körper in den Vorgang der Erfahrung verwickelt. Sie tippt an einer Tastatur Zeichen ein, bewegt mit der rechten Hand den Cursor über die Bildschirmoberfläche, klickt, liest, schreibt und hört. Selbst der Begriff des Beobachters, der zumindest ein distanziertes, aufmerksames und reflektiertes Verhalten suggeriert, greift hier zu kurz. Ich möchte daher vorschlagen, im Zusammenhang von interaktiven Medienkunstwerken statt vom Betrachter lieber vom User zu sprechen, aber nicht im Sinne eines Benutzers. Denn ein Kunstwerk kann man nicht "benutzen". Man kann es nur anschauen, erforschen, erkunden und Erfahrungen machen, die man auf diese Weise nur dort und auf keine andere Weise machen kann. (1) Das beste wäre eigentlich, statt von einem Betrachter, von einem Explorer zu sprechen, einem Erforscher, der das aktiv Handelnde, die aktive Wahrnehmungsexploration in seinem Begriff selbst enthält.
Gibt es einen ersten Eindruck?
In der traditionellen Kunstgeschichte und Kunstpädagogik wird häufig davon gesprochen, dass es einen ersten Eindruck gäbe, der kurz, ganzheitlich und simultan sei, bevor ein genaueres und detaillierteres Erfassen der Einzelteile eines Bildes einsetzt. (2) Wie lange reicht ein erster Eindruck bei einer Net.Art-Arbeit? Kann man davon sprechen, dass er das erste Durchklicken umfasst, bis man stoppt, innehält oder so weit ist, um eine erste vorläufige Hypothese über die Arbeit zu formulieren? Man könnte auch davon ausgehen, dass der Aufbau einer vorläufigen Interpretationshypothese parallel zum Anschauen und Durchklicken einer Website im mentalen Raum des Denkens entsteht. Denn im Gegensatz zu einem statischen Gemälde, das simultan, vollständig und überschaubar gegeben ist, wird eine Website immer nur fragmentarisch, bruchstückhaft und zunächst ohne eine präzise Vorstellung des Ganzen erfahren. Auf dieser Unvollständigkeit, Selektivität und Fragmentarität beruht geradezu die ästhetische Erscheinung eines internetbasierten Kunstwerks. Deshalb entsteht auch immer wieder der Eindruck des Verwirrenden und Irritierenden beim Betrachten von Net.art-Werken.
Man könnte sich also auf den Standpunkt stellen, dass es durchaus, bei der erstmaligen Exploration einer Arbeit, so etwas wie einen ersten Eindruck gibt, auch wenn er sich aus zeitlich getrennten und aufeinander folgenden Irritationen zusammensetzt. Also könnte man in Abwandlung eines alten Satzes behaupten: "Make your irritations productive!" Inwieweit kann man nun die beim ersten Erforschen einer Net.Art-Arbeit erfahrenen Irritationen für die Interpretation selbst produktiv machen? Der erste, wichtige Schritt liegt in der sprachlichen Benennung und Beschreibung dieser ersten Eindrücke und Erkundungen. Dadurch werden sie in einen sozialen Raum der Kommunikation eingespeist und stehen der Gesellschaft in Form einer öffentlich beobachtbaren Äußerung zur Diskussion, zum Vergleich und zum Austausch zur Verfügung.
Semantic ascent: Die strategische Verschiebung vom Objekt zum Explorer
Wir beschreiben also zunächst nicht das Kunstwerk und seine "Eigenschaften", sondern uns selbst bei der aktiven Wahrnehmungsexploration von Net.Art. Wir beschreiben unsere Erfahrungen und Beobachtungen eines Werkes mit Hilfe verbaler und schriftlicher Sprache. Damit vollzieht die Bildinterpretation am Beispiel netzbasierter Werke einen sogenannten semantic ascent. (3) Sie spricht nicht mehr über das Objekt und seine Eigenschaften, sondern darüber, wie wir als User oder als Beobachter über das Objekt und seine Eigenschaften sprechen. Der Schwerpunkt der Untersuchung wird also eindeutig in Richtung des Beobachters verlagert. Wie bindet man dann diese subjektiven, fragmentarischen und irritierten Beschreibungen eines Beobachters an das Werk und seine Eigenschaften zurück? Wie unterstellt man seine subjektiven Projektionen der "Disziplin" des Werkes? (4)
Erste, vorläufige Hypothesenbildung
Irgendwann im Prozess der persönlichen Auseinandersetzung mit einem internetbasierten Werk gelangt man dann zu einer oder mehreren vorläufigen Hypothesen über den vermeintlichen Sinn, die Bedeutung und die Funktion des vorliegenden Werkes. (5) Man sollte diese vorläufige Hypothese klar und deutlich formulieren und seine erste Meinung über diese Arbeit sprachlich festhalten, um sich später besser an sie erinnern zu können. Im Prinzip wäre die vorläufige Hypothese auch die sprachliche Beschreibung des ersten Eindrucks oder die Beschreibung der Resultate eines ersten Anschauens.
Ausdifferenzierung der Interpretationshypothesen
Die weiteren Schritte betreffen dann die schrittweise Entfaltung und Ausdifferenzierung dieser vorläufigen Hypothesen. In diesen Prozess der Ausdifferenzierung sollten unbedingt durch weiteren Wissens- und Hintergrundinput sachverständige Informationen zum besseren Verstehen der Arbeit angeboten werden. Wenn es keine Sekundärliteratur über die Arbeit gibt, was immer noch sehr häufig vorkommt, kann man oftmals durch Kontaktaufnahme mit dem Künstler oder der Künstlerin wichtige zusätzliche Antworten auf offene Fragen erhalten und damit eine sorgfältige Primärrecherche in die Wege leiten, die wiederum in starkem Maße dazu beitragen kann, die vorläufigen Hypothesen zu festigen, zu modifizieren oder zu verwerfen. Bezüglich des Abgleichens der eigenen Hypothesen mit externen Informationsquellen gibt es drei prinzipielle Möglichkeiten: Affirmation, Modifikation oder Negation der bestehenden Hypothesen.
Interpretation ist ein ständiges Abgleichen der eigenen Meinungen und Überzeugungen mit der existierenden Sekundärliteratur und den Aussagen der Künstler. Dabei gilt folgende Maxime: Die Intentionen des Künstlers stellen nicht das letzte Wort für die Interpretation des Werkes dar. Sie sind aber eine wichtige Informationsquelle neben anderen externen Informationen. Man muss die Aussagen von Künstlern zu ihrem eigenen Werk, die oft in einem sehr eingeschränkten Zugang zum eigenen Werk, einer Zeit oder eines subkulturellen Milieus formuliert worden sind, selbst kritisch interpretieren, also immer wieder das vom Künstler Gesagte an seine eigenen Interpretationshypothesen, Beobachtungen und Vermutungen zurück binden und mit ihnen abgleichen. Im Prinzip gilt: Wenn eine Äußerung des Künstlers bestehende Hypothesen, Beobachtungen oder Überzeugungen bestätigt, umso besser. Wenn sie aber konträr zu den eigenen Interpretationsbefunden steht, ist ein kritisches Nachdenken über die Ursachen dieser Kontrarietät nötig. Kann man seine eigenen Hypothesen noch so modifizieren, dass sie mit den konträren Äußerungen der Künstler in Einklang stehen oder geht es nicht, müsste man alles aufgeben? Im letzteren Fall muss man argumentieren und explizit begründen, warum man sich als Interpret für eine der Künstlerintention konträre Deutung des Werkes entschieden hat.
Mögliche Interpretationsbereiche von Websites
Die Komplexität einer Net.art-Arbeit kann sich auf verschiedene Bereiche verteilen, die allerdings nur analytisch separierbar sind. In der tatsächlichen, konkreten Explorationssituation liegen diese Bereiche simultan, parallel und partiell vor. Generell kann man zwischen der narrativen Erzählstruktur des Werkes, seiner visuellen Bildstruktur, seiner auditiven Tonstruktur (6) und der Linkstruktur unterscheiden. In der Interpretation könnte man daher, vorausgesetzt, dass man dies für sinnvoll hält, diese verschiedenen Interpretationsbereiche beim Interpretieren eines internetbasierten Kunstwerks im Auge behalten.
1.) Die Materialität des Bildträgers
Hier können sehr viele verschiedene Ebenen der Materialität einer Net.Art-Arbeit voneinander unterschieden werden, die alle auf ihre Weise das spezifische Aussehen und die ästhetische Erscheinung eines Net.Art-Werkes beeinflussen. Hardware und Software stellen ganz spezifische Voraussetzungen der konkreten Aufführung und Präsentation eines Werkes dar. Grundsätzlich ist zwischen der Notation einer netzbasierten Arbeit und ihrer konkreten Aufführung oder Erscheinung ebenso zu unterscheiden wie zwischen der Organisation und der Struktur einer Net.Art-Arbeit. (7) Die Notation ist ein Text, der aus dem Source Code und seinen verschiedenen Skripten besteht. Diese Notation kann und muss von einem Hardwaresystem mit Softwarekomponenten aufgeführt werden. Der Source Code erhält erst durch die Interpretation durch einen bestimmten Browser mit einem bestimmten Betriebssystem und einer bestimmten Hardewarekonfiguration eine konkrete Verkörperung an einem bestimmten Ort auf der Welt zu einer bestimmten Zeit. Erst die konkrete Verkörperung gibt dem Werk eine ästhetische Präsenz. Erst wenn das Werk der Net.Art auf einem Bildschirm aufgerufen wird, wird es neu aufgeführt und neu interpretiert. Ähnlich wie bei einer Musikpartitur oder einem Theaterstück gibt es hier ebenfalls die Differenz zwischen einem Text und seiner konkreten Aufführung durch ein Orchester oder ein Schauspielensemble. Hardware und Software fungieren metaphorisch wie Konzertsaal und Orchester oder wie Schauspielhaus und Ensemble. Es gibt deshalb kein Werk an sich, sondern immer nur verschiedene Verkörperungen oder Aufführungen, die ein und derselben Notation oder Organisation des Werkes in Form seines Quellcodes gegenüberstehen.
2.) Die ästhetische Struktur des Werkes
a) Die Sprache der Formen
Wie ist die Arbeit und die ästhetische Erscheinung hinsichtlich ihres formalen Aussehens organisiert? Gibt es eine durchgängige formale Ästhetik? Wie sieht diese aus? Wie kann man sie charakterisieren? Mit welchen Begriffen lässt sich die Ästhetik der Formen adäquat beschreiben? Wo kommt sie her? Stammt sie aus dem Graphic Design der neunziger Jahre, aus der Ästhetik der Computerspiele oder aus der ästhetischen Erscheinungsweise der Betriebssysteme (Mac, Win, Linux)? Diese Referenzen der formalen Ästhetik geben wertvolle Hinweise auf eine mögliche Verbindung und Einbettung der vorliegenden Arbeit in andere, verwandte und benachbarte, ästhetische Bedeutungsfelder.
b) Die Sprache der Farben
Wie ist die Arbeit hinsichtlich ihres farblichen Aussehens organisiert? Gibt es eine durchgängige farbliche Ästhetik? Wie sieht sie aus? Wie kann man sie sprachlich charakterisieren? Wie lässt sich diese Ästhetik der Farbe beschreiben? Welche farbsymbolischen Bedeutungen und Anmutungsqualitäten transportiert die Farbigkeit zum Betrachter? Farbe wirkt immer unbewusst und emotional auf uns. Sie beeinflusst unser Verhalten stärker, als wir für gewöhnlich annehmen. Wo kommt diese Farbästhetik her? Wo hat sie ihre Wurzeln und ihre Anregungen? Ist sie genuin und eigenständig oder hat sie spezifische Referenzfelder und Anregungen erhalten?
c) Die Sprache der Ladezeit (Downloadtime)
Wie entfaltet sich die Arbeit in der Zeit, nach dem ein URL aufgerufen wurde und die einzelnen Bestandteile der Seite Stück für Stück eintreffen? Spielt das eine Rolle für die ästhetische Erfahrung oder nicht? Wie ist diese Erfahrung zu beschreiben? Kann man sie als ein hermeneutisches Phänomen beschreiben, als eine allmähliche Sinnentfaltung, die vom Nebligen, Unvollständigen, Unbestimmten zum immer Bestimmteren und Bedeutenden führt? Wie reagieren verschiedene Browser hinsichtlich ihres Ladeverhaltens und in ihrer Art und Weise, eine Seite aufzubauen? Hier gibt es enorm große Unterschiede in der "Performance" eines Browsers.
3.) Die Navigationsstruktur des Werkes
Welche spezifischen Navigations- und Interaktionsmöglichkeiten stehen dem Betrachter zur Verfügung? Kann man sich in der Arbeit nur durch Klicken und/oder Scrollen vorwärts bewegen? Gibt es darüber hinaus auch temporäre Interaktionsangebote? Welche Auswirkungen hat die Navigationssprache auf die ästhetische Erfahrung des Betrachters?
a) interne Hyperlinks
In diesen Bereich der Analyse gehört auch die Frage der Erörterung der Hyperlinkstruktur des Werkes. Gibt es nur interne Links, die innerhalb des Werkes selbst verbleiben? Ist die Organisation des Werkes dadurch vom Rest des Internets abgeschlossen? Haben wir es mit einem mehr oder weniger operativ geschlossenen System zu tun? (8) Wie durchlässig oder geschlossen ist die Grenze für einen User? Wird die ästhetische Grenze eines Werkes durch die physische Organisation der Dateien, Ordner und Hyperlinks definiert? Die Frage lässt sich eindeutig mit 'Ja' beantworten. Nehmen wir den Extremfall einer Net.Art-Arbeit an, die nur Hyperlinks besitzt, die sich auf andere Seiten desselben Werkes beziehen. Der User bleibt also stets innerhalb des Werkes und kann es gar nicht durch klicken verlassen. Hier handelt es sich um ein völlig geschlossenes werk.
b) externe Hyperlinks
Es gibt aber auch zahlreiche Werke, die an einer ganz bestimmten, intentionalen Stelle einen bewusst gesetzten Hyperlink oder mailto-Llink besitzen, mit welchem der User/Betrachter aus dem Werk heraustreten kann, sei es indem er in Kontakt mit dem Autor der Arbeit tritt, sei es, dass er ins Internet katapultiert wird, sei es, dass er in einer Sackgasse landet, einer Seite ohne irgendeinen Hyperlink.
Durch die Linkstruktur einer Arbeit wird erfahrbar, was als ein zusammenhängendes Werk gilt, und was zwei verschiedene Werke sind. Die Frage, was als ein Werk gelten kann, und was als zwei verschiedene Werke aufgefasst werden muss, kann anhand der Hyperlinks, der Ordnerhierarchie und des URLS entschieden werden. Oder gibt es Links, die aus dem Werk herausführen, so dass man aus der Betrachtung des Werkes herausfallen kann? An welcher Stelle des Werks sitzen diese externen Links? Welche Bedeutung haben diese Seiten im Zusammenhang mit der narrativen Struktur der Website? An welchen Stellen im Ablauf der Wahrnehmungsexploration des Users sitzen sie? Wie sehen sie aus, wo führen sie hin? Durch Hyperlinks, die aus dem Werk heraus verweisen, wird die Net.Art-Arbeit in bestimmte, benachbarte Kontexte und Referenzfelder eingebettet. Diese Kontexte oder Milieus können wichtige hinweise für die spezifische historische Einbettung einer Arbeit zur Verfügung stellen.
Sinn und Bedeutung
Nachdem man einige oder alle dieser verschiedenen Interpretationsschritte durchlaufen hat, empfiehlt es sich, noch einmal die nun in ausdifferenzierter und modifizierter Form vorliegenden Hypothesen zu Sinn und Bedeutung des Werkes ausführlich und genau darzustellen. Letztendlich fasst man damit seine eigenen Beobachtungen und Erfahrungen und diejenigen des Künstlers und der Sekundärliteratur zu einem kohärenten Gesamtverständnis des interpretierten künstlerischen Werkes zusammen. Aus der vorläufigen Hypothese eine ausdifferenzierte, abschließende Erklärung des Werkes, die verschiedene Faktoren genauer untersucht und berücksichtigt hat. Diese Erklärung der Bedeutung und der Funktion des Werkes trägt in erheblichem Maße zu einem besseren Verstehen der Arbeit beim Leser des Textes und/oder im kognitiv-emotionalen Verhalten des Exploranden bei. Sie ist eine Lese- und Verständnishilfe. Der Verfasser der Interpretation leiht sozusagen mit Hilfe der Schriftsprache seines Textes seine Augen, seine Gefühle und seinen Verstand dem Leser. Der Leser des Textes kann das Werk nun quasi mit fremden Augen sehen und er kann verstehen, wie und warum ein bestimmter Verfasser zu den Schlussfolgerungen seiner Hypothesen gelangt ist, zu denen er gelangt ist. Damit ist das Verstehen von Kunstwerken durch ihre Interpretation ein sozialer Prozess, ein Prozess des Austausches, des Diskurses und der Disziplinierung. Autoren stellen anderen Personen ihre Deutungsversuche zur Verfügung, die darauf durch Anerkennung, Kritik oder Verwerfung reagieren können.
Rekontextualisierung
Ein schwierigerer, aber wichtiger letzter Schritt in der Interpretation eines internetbasierten Kunstwerks stellt die Einbettung des interpretierten Werkes in seinen ursprünglichen Entstehungszusammenhang dar. Man kann dabei mindestens drei verschiedene grundlegende Bereiche oder Referenzfelder voneinander unterscheiden:
a) Rekontextualisierung in das Gesamtuvre des Künstlers
Welche künstlerischen Arbeiten hat der oder die Künstlerin außer diesem Werk noch geschaffen? Wie sehen die Arbeiten aus, die unmittelbar vor dieser Arbeit entstanden sind? Wie sehen diejenigen Werke aus, die später, nach diesem Werk entstanden sind? Wohin hat sich der Künstler oder die Künstlerin stilistisch und entwickelt? Kann man einen Einfluss oder eine Veränderung im uvre feststellen, welche durch die interpretierte Arbeit im späteren Werk des Künstlers selbst ausgelöst worden sein könnte? Aus welchem künstlerischen oder gestalterischen Umfeld kommen die Künstler ursprünglich? Kommen sie aus dem Bereich der Videokunst, der Installation, oder dem Film, dem Computerspiel, der Medieninformatik, etc. Für diese Einbettung spielt auch die Ausbildung eine Rolle sowie das viel schwerer recherchierbare Netzwerk von Freunden, Szenen und Milieus, in denen man sich zu einer bestimmten, prägenden Zeit bewegt hat und Einfüsse aufgenommen hat. Welche Ausbildung haben sie wo, wann und bei wem absolviert? Welche möglichen Auswirkungen oder Effekte kann diese Ausbildung auf die vorliegende Arbeit gehabt haben? (z.B. Dirk Paesmans Studium bei Nam June Paik)
b) Rekontextualisierung in das Genre der Net.Art
Welche Stellung und welchen Rang haben der oder die Künstler innerhalb des Spektrums der Net.Art? Gibt es bereits jüngere Künstler, die ihre Arbeit rezipiert haben?
c) Rekontextualisierung innerhalb der großen, geistigen, ökonomischen, medienhistorischen, gesellschaftlichen, oder politischen Zeitströmungen der Entstehungszeit. Was sagt diese Kunst über die wichtigsten geistigen, sozialen, gesellschaftlichen, politischen oder mediengeschichtlichen Strömungen der Zeit von 1995 bis heute aus, in der diese Arbeit entstanden ist? Wenn Kunst Ausdruck der gesellschaftlichen Bedingungen und Möglichkeiten einer Zeit ist, wovon ist dann die interpretierte Arbeit ein Ausdruck? Welche gesellschaftlichen Bedingungen und Phänomene spiegeln sich in diesem Werk? Wovon ist diese Arbeit letztendlich Ausdruck ihrer Zeit? Welche Bedürfnisse, Motivationen, Wünsche und Begehren scheinen durch die Oberfläche der Arbeit hindurch? inwieweit ist die Arbeit ein Kind ihrer Zeit oder ragt als erratischer Block aus der Zeitgebundenheit heraus? Was ist also zeittypisch und insofern repräsentativ für diese Epoche? Was ist dagegen zeituntypisch, einzigartig, genuin und nicht verwechselbar?
Zusammenfassung
Alles dies sind Fragen, die ich gestellt habe, ohne vielfach eine Antwort darauf zu geben. Es ist auch möglich, gänzlich andere Fragen an internetbasierte Kunst zu stellen. Dann wäre es aber eine gänzlich andere Interpretationsmethode. Um es noch einmal deutlich zu machen. Es gibt nicht die Interpretationsmethode von Net.art, welche die richtige wäre, in dem Sinne, dass alle anderen sich als falsch erweisen ließen. Es gibt viele verschiedene Interpretationsansätze und jeder von ihnen besitzt seine eigenen Wahrheiten und Falschheiten, Beobachtungen und blinde Flecke. (9) In vielerlei Hinsicht überschneiden sie sich und gelangen zu den selben Interpretationsaussagen. In entscheidender Hinsicht sind sie jedoch inkompatibel zueinander. Was ist wichtiger, gesellschaftlich gesehen, der Konsens und die Einigkeit der Interpreten oder Differenz, Abweichung und Inkompatibilität, mithin Widerstand? Ich überlasse es dem Leser, eine gute Antwort auf diese Leerstelle zu geben, möchte an dieser Stelle jedoch nur darauf hinweisen, dass jede Interpretation, ideologiekritisch gesehen, ein Disziplinierungsinstrument des Verstehens bildet, zwar nicht einen ideologischen Staatsapparat im Sinne Althussers, aber einen ideologischen Interpretationsapparat, dem man sich in der Interpretation zu unterwerfen hat. (10) Der Verfasser dieser Zeilen ist aber der Ansicht, dass es keine ideologiefreie oder neutrale Interpretation geben kann.
(1) Vgl. zu dieser Einstellung im Zusammenhang von traditionellen Kunstwerken Imdahl 1980.
(2) Sedlmayr 1957, Kowalski 1970, S. 68; Panofsky 1975
(3) Quine 1960
(4) Adorno 1974, S. 396; Horkheimer/Adorno 1988, S.196 ff.
(5) Vgl. zur Hypothesentheorie der Wahrnehmung Lilli 1978, Lilli 1983, Lilli/Frey 1993
(6) Vgl. die ähnliche Unterscheidung bei der Analyse von Filmen und Fernsehsendungen in Hickethier 1993
(7) Zur Materialität der Trägermedien von net.art siehe Huber 1998. Zur Unterscheidung zwischen der Organisation und der Struktur eines digitalen Medienkunstwerkes Huber 2003.
(8) Zum Begriff siehe Luhmann 1994, zu seiner Anwendung in der Bildwissenschaft Huber 2004.
(9) Goodman 1972
(10) Althusser 1977
Literatur
Adorno, Theodor W. (1974): Ästhetische Theorie. Hg. v. Gretel Adorno u. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974
Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate (Anmerkungen für eine Untersuchung); in: ders.: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg, Berlin 1977, S. 108-153
Goodman, Nelson 1972: The Way The World Is; in ders.: Problems and Projects. Indianapolis/New York: Bobbs-Merrill Company, S. 24-32
Hickethier, Knut: Film - und Fernsehanalyse. Stuttgart: Metzler 1993
Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main: Fischer 1988
Huber, Hans Dieter (2003): PPP: From Point to Point or from Production to Presentation to Preservation of Media Art; elektronischer Textbeitrag in deutscher Sprache; publiziert im Juni 2003 unter http://www.art.net.dortmund.de/
Imdahl, Max: Giotto Arenafresken. Ikonographie. Ikonologie. Ikonik. München: Fink Verlag 1980
Kowalski, Klaus (1970): Praxis der Kunsterziehung 2: Werkbetrachtung. Stuttgart: Klett Verlag 1970
Lilli, Waldemar /Frey, Dieter (1993): Die Hypothesentheorie der sozialen Wahrnehmung. In: Frey, Dieter/Irle, Martin (Hg.): Theorien der Sozialpsychologie. Band I: Kognitive Theorien. Vollständig überarb., aktualisierte u. erw. Neuauflage. Bern [u.a.]: Hans Huber 1993, S. 49-78
Lilli, Waldemar (1978): Die Hypothesentheorie der sozialen Wahrnehmung. In: Frey, Dieter (Hg.): Kognitive Theorien der Sozialpsychologie. Bern 1978, S. 19 - 42
Lilli, Waldemar (1983): Die Hypothesentheorie der Wahrnehmung. In: Frey, Dieter/Graf, Siegfried (Hg.): Sozialpsychologie. Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen. München 1983, S. 192 195
Panofsky, Erwin (1975): Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance; in: Ders., Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1975, S. 36-67
Quine, Willard van Orman (1960): Word and Object. Cambridge, Mass.: M.I.T. Press 1960
Sedlmayr, Hans (1957): Pieter Bruegel: Der Sturz der Blinden. Paradigma einer Strukturanalyse; in: Hefte des Kunsthistorischen Seminars der Universität München, Hrsg. von Hans Sedlmayr, Heft 2, München 1957, S.1 - 49
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Prof. Dr. Hans Dieter Huber, Professor für Kunstgeschichte der Gegenwart, Ästhetik und Kunsttheorie an der Staatlichen Akademie der bildenden Künste Stuttgart.
Dieser Text ist Bestandteil des Forschungsprojekts "Netzkunst - online und im Mueum"
KTI-Projekt Nr.5691.1 FHS
Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel / FHBB
Hochschule für Gestaltung, Kunst und Konservierung Bern / BFH
Partner: Museum für Kommunikation Bern, Kunstmuseum Bern / Gegenwart, Xcult.org
Projektverantwortung: Hans Rudolf Reust
Projektleitung: Reinhard Storz