Samuel Herzog

Im Wunderland

Bilder von Francis Alÿs im Kunsthaus Zürich (2003)

Wer in ein Kinderzimmer tritt, wird manchmal von der Ahnung beschlichen, dass hier alles eine Bedeutung haben muss, alles mit allem auf mehr oder weniger geheimnisvolle Weise in Verbindung steht. Ganz ähnlich ergeht es uns, wenn wir derzeit im Kunsthaus Zürich die Ausstellung von Francis Alÿs betreten. Der gebürtige Belgier mit Wohnsitz in Mexiko ist vor allem mit seinen eigenwilligen, photographisch dokumentierten oder mit Video aufgezeichneten Aktionen und Performances im städtischen Raum bekannt geworden. In Zürich nun führt er erstmals seine malerische und zeichnerische Arbeit in einer zehn Jahre umfassenden Werkschau vor.
Die rund vierzig Ölgemälde sowie die neunzig Zeichnungen und Collagen haben Platz in einem einzigen Raum. Die Werke auf Papier sind über die Platte eines langen Tisches verteilt, Hocker stehen herum, und Schreibtischlampen laden uns ein, das eine oder andere Blatt näher zu beleuchten. Die meist ziemlich kleinformatigen Ölbilder hängen an Wänden, die bis zur Höhe des Bauches in dunkles Rosa getaucht sind. Über jedem Gemälde ist eine eigene Bilderleuchte angebracht, und für den Kunstmüden steht ausserdem eine luxuriöse Polstergruppe bereit.

In der guten Stube

All dies deutet darauf hin, dass wir uns Zeit nehmen sollen, das «Obra pictorica» von Francis Alÿs mit unseren Augen zu «erwandern», wie sich Kurator Tobia Bezzola ausdrückt. Wir sollen uns hier wohl fühlen wie in einer guten Stube. Auch sollen wir uns in eine exklusive Lichtzone mit den einzelnen Bildern begeben können, um dort ein intimes Gespräch mit ihnen zu führen. Und für einmal kann man hier wohl wirklich von einem Gespräch reden, denn so erzählfreudig diese Werke von Alÿs zunächst auch wirken, die Geschichten können sich erst in unserer eigenen Vorstellungskraft konkretisieren. Da gibt es etwa jene Frau, die mit einer Vase am Fuss durch einen grünen Farbraum schlendert - von einem nur in Umrissen gegebenen Hund beobachtet. Oder wir sehen einen jungen Mann mit einer Art Narrenkappe, der sich durch eine Galerie bewegt. Dann gibt es auch immer wieder Bildpaare: Zum Beispiel beobachten wir einen weissen Mann, der einem Schwarzen etwas auf den Rücken schreibt - beide stehen bis zur Brust in einem Gewässer. Ein zweites Bild gibt die Szene spiegelverkehrt wieder, wobei nun der Schwarze auf den Rücken des Weissen schreibt.
Überhaupt gibt es Bezüge zuhauf - was auch damit zu tun hat, dass die Skizzen und Bilder von Alÿs letztlich um einen sehr reduzierten Satz von Themen oder Ideen kreisen. So treten die einzelnen Motive in immer wieder modifizierter Ausformung oder in wechselnden Kontexten auf - was natürlich auch heisst, dass sie sich einer immer wieder anderen Lektüre anbieten. In die ausgelegten Skizzen sind ausserdem Verweise auf die Kunstgeschichte, namentlich Giotto, Bilder aus dem städtischen Alltag von Mexiko, Ethnographisches, Historisches usw. mit eingewoben.

Dem Hasen nach

All dies kompliziert die Sache ganz erheblich. Und man kann Momente beim Besuch dieser Ausstellung erleben, in denen man plötzlich das Gefühl hat, hier würden unbestimmte und letztlich unscharfe Topoi ins endlos Bedeutsame aufgeblasen, werde überall Tiefgründiges suggeriert. Gewiss werden solche Zweifel auch da und dort durch die Inszenierung geschürt. Zum Beispiel gibt es da ein einzelnes Bild, über dem keine separate Leuchte angebracht ist: Es zeigt einen Mann in einem Flammenmeer, der seinerseits ein kleines Lichtchen in Händen hält. Nach einem ähnlichen Prinzip ist ein anderes Bild, das einen durch die Luft fliegenden Hund zeigt, schräg auf die Wand gehängt.
Was einen letztlich dann wohl doch für Alÿs und seine Bilderwelten einnimmt, ist die liebevolle Intensität, mit der da an einzelnen Motiven herumgeschraubt wird. Das wirkt, als gehe es darum, ein Vokabular für gewisse Dinge zu entwickeln, die zwar nicht beschrieben oder benannt werden können, die aber doch unleugbar da sind - eine Sprache für die Ahnung vielleicht, mit unleugbar poetischen Zügen. Was da genau eingekreist werden soll, bleibt zwar offen - und man kann sich fragen, ob der Künstler selbst es weiss. Doch spielt das für unsere Lektüre wohl keine Rolle. Wie Alice dem Hasen ins Wunderland folgt Alÿs mit seinen Motivbearbeitungen einer Spur, die wohl in eine ähnlich seltsame Welt zwischen Realitäten und Träumen, Hoffnungen und Befürchtungen führt. Wie wir selbst das lesen, wie wir es verstehen können und wollen, darf vor diesem Hintergrund wohl auch so geheim bleiben wie einst der Inhalt nächtlicher Zwiegespräche mit unserem Teddybären.



erschienen in Neue Zürcher Zeitung, Feuilleton, 1. März 2003 Nr. 50 62