Samuel Herzog

Zwischen Fantasia und Fitnessstudio

Zürcher Theaterspektakel: Matthew Barneys «Cremaster»-Marathon (2004)

Wahrscheinlich haben die meisten Männer auf diesem Planeten keine Ahnung, dass sie über einen Muskel verfügen, der auf den hübschen Namen Cremaster hört und für Kontraktionen im Hoden sorgt. Vermutlich erinnern sich auch die wenigsten unter uns an jene ersten sechs Wochen nach unserer erfolgreichen Befruchtung, da wir als geschlechtsneutrale Embryonen voller Neugier oder Angst auf die Einleitung der Trennung durch die Geschlechtschromosomen warteten. Und vielleicht kann man sich auch durchs Leben mogeln, ohne sich mit solchen Dingen auszukennen. Genau diese zwei Aspekte unserer Biologie aber stellen das Generalthema einer Serie von fünf Filmen dar, die der amerikanische Künstler Matthew Barney zwischen 1994 und 2002 produziert hat und die nun im Rahmen des Theaterspektakels auf Initiative der Kunsthalle Zürich vorgestellt werden.
Der «Cremaster»-Zyklus von Matthew Barney setzt auf einer symbolischen Ebene in jenen ersten Wochen nach der Befruchtung der Eizelle ein und lehnt sich gegen die bevorstehende geschlechtliche Bestimmung auf - und zwar, indem die Zeit schier endlos ausgedehnt und zu einer Schlaufe umgedeutet wird. So weit das komplexe Programm. Wer sich Matthew Barneys Filme in Kenntnis dieser Ausgangslage ansieht, wird da und dort eine Anspielung auf dieses Generalthema erkennen. Ja schon der Umstand, dass die fünf Filme nicht ihrer Nummerierung entsprechend entstanden sind, könnte als ein Versuch gelesen werden, dem biologisch Unausweichlichen zu entkommen: Zuerst wurde «Cremaster 4» gedreht, dann «1», «5», «2» und schliesslich «3». Insgesamt jedoch wird das Grundthema des Zyklus durch allerlei sagenhafte und biografische, geographische und soziologische, geschichtliche und allgemein geschlechtliche Motive erweitert und nochmals kompliziert.
In «Cremaster 4» bereiten Elfen einen rothaarigen Satyr mit weissem Anzug auf eine Reise vor, die über und um die Isle of Men führt. Der Film endet mit einer Szene, in der Motorräder versuchen, den (wie bei allen Männern) nicht symmetrisch hängenden Hoden des Satyrs ins Gleichgewicht zu zerren. In «Cremaster 1» versucht eine Blondine namens Goodyear zwei gleichnamige Luftschiffe in Position zu halten. «Cremaster 5» spielt in Budapest und erzählt die tragische Liebesgeschichte zwischen einer Königin und dem Magier Harry Houdini - was die Entspannung des Hodenmuskels symbolisieren soll. Die Handlung von «Cremaster 2» folgt lose der Biografie von Gary Gilmore, der in den siebziger Jahren einen mormonischen Tankwart ermordete und anschliessend in Utah hingerichtet wurde. «Cremaster 3» schliesslich entführt uns in das New York der dreissiger Jahre, die Zeit der Prohibition. Der Film beginnt im Chrysler Building und endet im Guggenheim-Museum, wo ein Initiant mit blutigem Mund verschiedene Aufgaben zu bestehen hat - von der Begegnung mit einem hephaistotelischen Richard Serra bis zur Umarmung seines Alter Ego, das ihm in der Figur einer attraktiven Gepardin entgegentritt.
Die fünf Filme von Matthew Barney lassen sich jedoch nicht auf ihre Erzählung reduzieren, die für sich selbst genommen wohl gleichermassen deftig wie manchmal etwas dürftig wäre. Tatsächlich sind es nämlich die Bilder, die den Reiz dieses Reigens ausmachen. Mehr als sechs Stunden lang werden da sämtliche Hähne aufgedreht und alle Mittel eingesetzt, das Leinwandformat möglichst fett zu füllen: ein überbordender, überschäumender Giga-Videoclip - ein Trip zwischen Fantasia und Fitnessstudio mit Abstechern in die Operationssäle der Schönheitschirurgen. Sechs Stunden Augen-Bombardement mit manchmal atemberaubenden, streckenweise aber auch etwas langweiligen, oft aberwitzigen, gelegentlich völlig surrealen, dann wieder plump symbolischen Bildern. Sechs Stunden, die uns zu dem Schluss führen, dass das Leben wohl eine Rechnung ist, die nicht aufgehen kann und doch irgendwie ständig zu einem Ergebnis gezwungen werden muss. Damit sind wir so weit wie zuvor - nur über den Cremaster wissen wir nun einiges mehr.


Matthew Barney, Filmstill aus «Cremaster 5», 1997


erschienen in Neue Zürcher Zeitung, Feuilleton, 24. Dezember 2002 Nr. 299 46