Samuel Herzog

Im Theater des Selbst

Max Beckmann in einer grossen Pariser Retrospektive (2002)

Das Pariser Centre Pompidou führt in einer umfangreichen Retrospektive den Maler Max Beckmann vor. Chronologisch angelegt, gibt die Schau eine Ahnung davon, welche Funktion die Malerei für den deutschen Künstler hatte.
Wer sich selbst im Spiegel erblickt, der kennt auch das Dilemma von Max Beckmann. Man hat ja ein Gefühl für sich selbst und schreitet mit einer zwar etwas unbestimmten, doch recht hartnäckigen Vorstellung seiner eigenen Form, seines eigenen Aussehens durch die Welt. Und dann tritt einem da ein simples Stück Glas entgegen, das hartnäckig etwas ganz anderes behauptet. Das bringt uns ins Schwitzen. Also wechseln wir schnell von der Frage nach dem, was ist, zu der Frage nach dem, was sein könnte - und werfen uns in Pose, versuchen das Bild zu beherrschen, das wir da vor uns im Spiegel sehen. Von der peinlichen Wirklichkeit treten wir so in das Theater unseres Selbst ein. Die Kunst von Max Beckmann nun siedelt ganz und gar im Bereich dieses einen Schrittes - ja sie bezieht ihre Spannung sozusagen aus dem Leistenmuskel, der arg strapaziert wird, wenn ein Bewegungsimpuls gleichermassen vorwärts zielt und rückwärts zieht. Denn Beckmann sucht die Inszenierung, hofft diese aber im Akt des Inszenierens überwinden zu können.

Das «wahre Selbst»

Zu welch grandiosen Ergebnissen diese Anspannung der Leistengegend geführt hat, lässt sich derzeit in Paris nachvollziehen. «Max Beckmann, un peintre dans l'histoire» heisst eine Schau im Centre Pompidou, die der Entwicklung des Malers chronologisch folgt und viele seiner berühmtesten Gemälde genauso vorführt wie weniger bekannte Stücke. Aus der Frühzeit gibt es etwa «Die Nacht» (1918/19) zu sehen, diese krude Überzeichnung der Verwirrungen, die der Erste Weltkrieg hinterliess. In den zwanziger Jahren pfercht der Maler das Leben der Nachtklubs in das Hochformat seiner Bilder. Mit den dreissiger Jahren treten zunehmend Motive aus der antiken Mythologie oder der christlichen Ikonographie ins Gemälde und werden - wie in «Departure» (1932/33) - mit Elementen aus dem Alltag der Strasse verknüpft. Auch das Triptychon «Argonauten» gibt es in Paris zu sehen - einen Tag nach dessen Vollendung, am 27. Dezember 1950, stirbt der 66-jährige Maler bei einem Spaziergang durch den Central Park.
Sein ganzes Leben lang war Beckmann auf der Suche nach dem, was er das «wahre» oder das «transzendentale Selbst» nannte. Er ging dabei von einem Selbst-Konzept aus, das seine Wurzeln in der Romantik hatte - und im frühen zwanzigsten Jahrhundert eigentlich längst als überholt galt. So war er etwa überzeugt, dass alle Kunst von Bedeutung seit je aus dem tief empfundenen Mysterium des Daseins entstanden sei. Bei Schopenhauer fand er Bestätigung in dem Glauben, dass das Metaphysische in jedem Individuum «ganz und ungeteilt» existiere. Es gibt aber auch weniger transzendente Aspekte in diesem Selbst-Konzept, die auch heute noch Gültigkeit haben könnten: Etwa wenn er 1938 schreibt, dass es das Ziel jeder Seele bleibe, sie selbst zu werden.
Doch was passiert, wenn Beckmann vor den Spiegel tritt, um zu schauen, was ist? Er kommt ins Schwitzen und wechselt folglich alsbald von der Realität ins Theater seines Selbst. Nichts illustriert das besser als die zahlreichen Selbstporträts, denen wir auch in Paris in regelmässigen Abständen begegnen. Ob wir den Maler nun als Clown (1921), mit Smoking und Zigarette (1927), mit Horn (1938) oder in Gelb-Rosa (1943) sehen, stets haben wir es nicht nur mit Inszenierungen der eigenen Person zu tun, sondern mehr noch mit Inszenierungen des «Glaubens an die eigene Individualität», wie Beckmann selbst formulierte. Es ist folglich erst das Bild, das die Individualität der Person in den Bereich des Möglichen rückt.
Dem Akt des Malens wird damit eine ganz spezifische Funktion zugewiesen: Die Arbeit mit Pinsel und Farbe soll nämlich den Schritt ins Theater wieder rückgängig machen, das Malen soll dem Rollenspiel wieder Realitätsgehalt geben. «Das Welttheater des Malers Max Beckmann», so hiess 1938 ein Text von Stephan Lackner. Dieses «Welttheater» ist in Tat und Wahrheit wohl eher ein «Selbsttheater», und hinter Beckmanns Anspruch, die Welt durch seine Kunst zu beherrschen (Brief an M. Kaulbach von 1925), verbirgt sich wohl vielmehr die Angst, nicht Herr seiner selbst sein zu dürfen.

Die Unordnung der Dinge

Da Beckmann zwecks Selbstherstellung malte, konnte er sich auch kaum je auf ein Motiv beschränken: Sieht man von den Selbstporträts ab, so setzen sich fast alle wichtigen Bilder aus vielen Einzelbildern zusammen. Sie erzählen nicht eine Geschichte, sondern es kreuzen sich die verschiedensten Erzählstränge: Sexualität, Liebe und Tod sind fast omnipräsent, doch auch die Gesellschaft mit ihren Vergnügungen und ihren Grausamkeiten kommt immer wieder vor. So muss all das, was Beckmanns Leben ausmacht, sich im Bild immer wieder zusammendrängen. Und nur einmal gelingt es ihm, die verschiedenen Elemente nicht virtuos miteinander zu vermengen, sondern eine Art Ordnung der Dinge herzustellen. In «The Cabins» von 1948 sind der Eros und der Tod, die Einsamkeit, die Gesellschaft und die Mystik durch dicke schwarze Striche voneinander getrennt, als einzelne Räume in einer Lebensarchitektur zu erkennen. Allein es geht bei dieser Ordnung nicht um Beckmann selbst, sondern um eine junge Malerin, die er im rechten Bildbereich neben prächtigen Blüten bei der Arbeit zeigt.
Für sein eigenes Leben vermochte Beckmann das Theater nicht von der Realität zu unterscheiden. Er inszenierte ohne Unterlass ein grossartiges Spektakel und war doch ständig von der Hoffnung erfüllt, dass ihn das Malen selbst zu jenem Bild zurückführen möge, das er ganz am Anfang erblickte, als er frisch und noch vor der ersten Pose an den Spiegel herantrat. Einen Mythos aus unserem aktuellen Leben zu schaffen, das sei der Sinn, hat Beckmann einmal gesagt. Getan hat er eigentlich genau das Gegenteil: Er hat versucht, sich aus dem Mythos heraus ein aktuelles Leben und mit Hilfe der Malerei ein individuelles Erleben zu schaffen.
Auch in Beckmanns letztem Gemälde taucht diese ganze Problematik noch einmal auf. Die linke Tafel des «Argonauten»-Triptychons zeigt einen Maler, der konzentriert auf das Gemälde starrt, an dem er gerade arbeitet. Die Figur wird von der Ecke eines Fensters oder aber eines zweiten Gemäldes hinterfangen - ganz ähnlich erscheint Beckmann im «Selbstporträt im Smoking» von 1937 oder in dem Selbstporträt mit blauer Weste, das im Todesjahr 1950 entstand. Wir sehen nicht, was auf dem Bild im Bild ist, wir sehen lediglich des Malers Modell, das im Vordergrund mit einem Schwert in Händen auf einer Theatermaske sitzt. Die Rückseite der Leinwand aber ist in einem hellen Blau gehalten, was an einen Spiegel denken lässt oder jedenfalls an Glas. Was der Maler auf diesem Bild im Bild gesehen hat, werden wir nie erfahren - das allerletzte Gemälde war wohl nur für Beckmann allein bestimmt.



Alles ins Bild pferchen, was zum Leben gehört - Max Beckmann: «Die Stadt», 1950. (Bild Katalog)


erschienen in Neue Zürcher Zeitung, Feuilleton, 2. November 2002 Nr. 255 61