Samuel Herzog
In der Nasen-Arena
Michel Blazy im Kunstverein Stuttgart (2003)
Hoch oben unter der Kuppel des Württembergischen Kunstvereins Stuttgart hängt eine Mülltonne, und daraus quillt eine Zunge aus Badeschaum hervor, die dann und wann Flocken zu Boden fliegen lässt. Dort trifft die Seife auf weitere organische Materialien wie Marmelade, Fruchtschalen oder Speiseeis, die langsam, aber bestimmt vor sich hin modern. «Le voyage fantastique» nennt der Franzose Michel Blazy seine Installation - ein Erlebnis, an dem kein Weg vorbeiführt. Einmal weil Blazy seine Fäulnis-Sinfonie in einer Arena aus Kartonkisten zur Aufführung bringt, durch die der Besucher schreiten muss, möchte er in die dahinter liegenden Ausstellungsräume gelangen. Sodann auch weil der Geruch von Blazys modernden Materialien schon jetzt, wenige Tage nach Eröffnung der Schau, noch bis in den letzten Winkel des Hauses dringt. Was wird hier wohl erst im Oktober los sein?
Und doch geht es Blazy nicht darum, sein Publikum mit einer olfaktorischen Keule in die Knie zu zwingen. Vielmehr interessieren ihn die verschiedenen Formen und Zustände, die Dinge im Prozess der Verwesung für kurze Momente annehmen können. Blazy ist ein Maler, der - durchaus auf den Spuren eines Dieter Roth - die Wandelbarkeit aller organischen Materialien dazu nutzt, neue Bilder zu finden. Eine Art konstruktive, auf Berechnung beruhende und Subjektivität vermeidende Form informeller Kunst.
erschienen in Neue Zürcher Zeitung, Feuilleton, 12. August 2003 Nr. 184 37