Samuel Herzog

Zwischen Sittengeschichte und Fiktion

Der Porträt-Fotograf Jules Bonnet in einer Ausstellung in Kriens (2004)

«Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!», so lautet die «kleine Wahrheit», die das alte Weiblein dem suchenden Zarathustra nach einigem Hin und Her verrät. Die Stelle aus dem «Buch für Alle und Keinen» hat Nietzsche den Ruf eingetragen, ein Frauenverächter erster Güte zu sein. Dabei wurde sie ganz unterschiedlich interpretiert. Einige haben die Rute nämlich auch als ein Instrument verstanden, mit dem sich der in Herzensdingen doch eher gutgläubige Nietzsche gegen die unberechenbaren Stärken des schwachen Geschlechtes zur Wehr setzen wollte. Manche haben darauf bestanden, dass hier die Frau selbst die Peitsche in die Hand nehme. Andere haben die Geissel als das Mittel interpretiert, mit dem der Mann seine unbändige Lust im Zaume halten soll. Vierte sogar die Gerte selbst als das Objekt einer masochistischen Begierde angesehen . . .
Drei Jahre bevor Nietzsche «Also sprach Zarathustra» schrieb, hielt er sich gemeinsam mit der heiss geliebten Lou Andreas-Salomé und seinem Freund (und Nebenbuhler) Paul Rée in der Innerschweiz auf. 1882 inszenierte er dort in einem Porträt-Studio ein Bild, das gerne in einen Zusammenhang mit dem erwähnten Zitat gebracht wird. Die Foto zeigt Nietzsche und Rée, die sich mit Hilfe einer Schnur symbolisch vor einen Leiterwagen haben spannen lassen. Auf dem Wägelchen sitzt Lou Andreas-Salomé: Mit ihrer Linken hält sie die zwei Männer am Zügel, und in ihrer Rechten schwingt sie eine kleine, mit Blumen behängte Peitsche. Im Hintergrund sehen wir die schneebedeckten Flanken eines grossen Berges, wahrscheinlich ist es die Jungfrau. Es ist wohl verständlich, dass dieses Bild die Nietzsche-Interpreten immer wieder zu allerlei Spekulationen verführt hat - scheint die Szene doch auf einen ersten Blick eine Art Gegenstück zu dem erwähnten Zitat.
Warum sich Nietzsche zu einer solchen Inszenierung entschlossen hat, wird sich restlos wohl nie klären lassen. Sieht man von tiefer greifenden Interpretationen ab, so könnte man die Darstellung auch als das etwas launige Produkt eines müssiggängerischen Nachmittags ansehen. Und auf jeden Fall wirkt die Szene für unser heutiges Auge komisch - nicht viel komischer allerdings als viele andere Szenen auch, die zu jener Zeit in den Porträt-Studios der Fotografen entstanden sind. Damals nämlich pflegten die Porträtisten ihre Kunden auf kleinen Bühnen in Szene zu setzen: im Hintergrund gemalte Bergzüge oder Wälder, antikische Tempelchen oder Seelandschaften. Im Vordergrund allerlei mehr oder weniger theatralische Requisiten. Ein spontaner Ausdruck der Protagonisten war wohl auch recht schwierig, durften sich diese doch wegen der langen Belichtungszeiten mehrere Sekunden nicht bewegen - ja Hüfte und Nacken wurden deshalb gar mit Hilfe von speziellen Gestellen in Position gehalten.
Mehr als neunzig solche Inszenierungen, meist im Format der sogenannten «cartes de visite», gibt es derzeit im Museum im Bellpark in Kriens zu sehen. Sie stammen allesamt von dem Luzerner Fotografen Jules Bonnet, der zwischen 1863 und 1891 ein fotografisches Atelier betrieb und auch die berühmte «Peitschenfoto» mit Nietzsche aufgenommen haben soll. Das Material für diese wunderliche Ausstellung hat der Pariser Kurator, Filmemacher und Erzähler Hans Peter Litscher in jahrelanger Arbeit zusammengetragen. Da hat sich Marie Pfyffer mit einer Giesskanne vor einem Jungbrunnen aufgestellt, dort setzt sich der Bierbrauer Kaspar Degen vor einem Liebestempelchen in Szene. Auch eine «Dame au faux cul» kommt vor, die sich an einem Fenster aufgestellt hat - derweilen sich eine andere lieber mit geschnitztem Steinbock präsentiert. In solcher Gesellschaft fällt auch Nietzsches Inszenierung nicht sonderlich auf. Die «cartes de visite» waren verhältnismässig billig, das Medium war immer noch jung und die Regeln des neuen Formates waren noch nicht festgelegt. So hat uns die Fotografie jener Zeit eine schier unendliche Menge von halb freiwillig, halb unfreiwillig formulierten Erzählungen hinterlassen - ein Zeit-Porträt zwischen Sittengeschichte und Fiktion.

Jules Bonnet Luzern. Ein fotografisches Atelier zwischen Folterkammer und gepinselten Firnen. Museum im Bellpark, Kriens. Bis 24. Oktober. Kein Katalog.



Jules Bonnet: «Porträt von Lou Andreas-Salomé, Paul Rée und Friedrich Nietzsche», 1982.


erschienen in NZZ, FEUILLETON, 4. September 2004 Nr. 206 69