Samuel Herzog

Bilder aus dem Gegenstrom der Aufmerksamkeit

Zum Tod des Fotografen Henri Cartier-Bresson (2004)

Henri Cartier-Bresson hat mit seinen Fotografien unser Bild des 20. Jahrhunderts wesentlich geprägt. Die grossen Momente der Weltgeschichte haben ihn dabei ebenso interessiert wie das Alltägliche. Am 3. August ist der Mitbegründer der Bildagentur «Magnum» im Alter von 95 Jahren im Süden von Frankreich gestorben.
Eine Foto, aufgenommen 1932 hinter der Gare St-Lazare in Paris. Mit viel Schwung hüpft ein Mann über eine grosse Wasserlache, in der sich die Umrisse seines Körpers spiegeln. Auf einer Mauer im Hintergrund sehen wir ein Plakat, das für eine Tanzveranstaltung wirbt: Auch hier springt eine Figur voller Elan durch die Luft - und auch ihre Silhouette wird im Wasser reflektiert. Die schnelle Bewegung des Mannes hat dazu geführt, dass er unscharf abgelichtet wurde. So ist er zu einem grafischen Zeichen geworden - ganz gleich wie die Ballettfigur auf dem Plakat. An der Stelle, wo der Mann zum Sprung angesetzt hat, haben sich Kreise im Wasser gebildet. Solche Kreisformen wiederholen sich im ganzen Bild: von grossen Metallstücken im Vordergrund über das Rad einer Schubkarre und dessen Spiegelbild bis hin zur Verzierung eines Gitters und zum Zifferblatt einer Turmuhr, vielleicht der Bahnhofsuhr. Es ist zwanzig Minuten nach zwölf.
«L'instant décisif» hat Henri Cartier-Bresson genannt, was dieses Bild im Innersten zusammenhält. Am vergangenen Dienstag ist Cartier-Bresson im Alter von 95 Jahren in dem für seine vielen Antiquitätenhändler berühmten Städtchen L'Isle sur la Sorgue in der Vaucluse gestorben. Am Mittwoch wurde er unter Ausschluss der Öffentlichkeit auf dem Friedhof von Monjustin beigesetzt. Das passt zu der Zurückhaltung, die dem Fotografen nachgesagt wird: «Es ist sehr angenehm, berühmt zu sein», lautet ein bekanntes Zitat, «aber nur unter der Bedingung, dass man unerkannt bleibt.»
Weltgeschichte und Alltag
Henri Cartier-Bresson war zweifellos einer der bedeutendsten Fotografen des 20. Jahrhunderts. Seine Fotografien haben das Bild, das wir uns von diesem Jahrhundert, seinen Gesichtern und Geschichten machen, ganz wesentlich mitgeprägt. Dabei haben ihn oft weniger die grossen Ereignisse der Zeitgeschichte selbst interessiert; vielmehr gehörte er zu jenen, die sich plötzlich umkehren konnten, um ihren Blick auf die Geschehnisse in der Gegenrichtung zum Hauptstrom der Aufmerksamkeit zu fixieren. So sah er die Dinge, wie sie sonst niemand sah.
Unvergesslich zum Beispiel das Bild vom Tag der Einäscherung Gandhis, das Henri Cartier-Bresson 1948 in Delhi aufnahm. Eine riesige Menschenmenge hat sich versammelt, Abertausende in der prallen Sonne. Aus dieser Masse streckt einsam ein schütteres Bäumchen seine blattlosen Äste gegen den Himmel. Auf diesem Bäumchen aber haben sich nicht weniger als sieben oder acht Wagemutige einen Platz erklettert - Menschen wie Blätter im Wind. Diese Baumkrone aus Fleisch und Blut wirft einen grossen, kühlenden Schatten auf die Köpfe der Zuschauer darunter. Die Baumkletterer scheinen etwas entdeckt zu haben und blicken alle in die gleiche Richtung. Die Zuschauer unter ihnen indes, so können wir an der Haltung der Köpfe erkennen, wähnen das Ereignis aber offenbar in einer gänzlich anderen Richtung. Kann man sich ein besseres Bild der Orientierungslosigkeit vorstellen, die Gandhis Tod in Indien provoziert hat?
Mit ähnlich markanten Bildern hat Henri Cartier-Bresson zahlreiche Grossereignisse der Weltgeschichte auf seine ganz eigene Art festgehalten: den Langen Marsch der Armee von Mao Tse-Tung, den spanischen Bürgerkrieg, die Invasion der Alliierten, Berlin nach dem Bau der Mauer, Indonesien nach dem Rückzug der Kolonialmacht usw. Cartier-Bresson aber hat seine Motive überall gefunden - längst nicht nur am politischen Puls der Zeit. Wer kennt nicht das wunderbare Bild eines kleinen Knaben, der mit zwei grossen Weinflaschen freudig-stolz durch die Pariser Rue Mouffetard (1954) schreitet? Oder die Picknickgesellschaft über der Marne von 1938, die Brüsseler Zaungäste von 1932 oder das Freudenhaus von Alicante?
Wenige Fotografen haben so viele Ikonen der Fotogeschichte geschaffen wie Henri Cartier-Bresson. Obwohl er nie zu jenen gehörte, die sich mit ihrer Kamera furchtlos mitten ins Kriegsgetümmel stürzten, galt er doch Generationen von Reportagefotografen als das leuchtende Vorbild. Dabei hat Cartier-Bresson zeitlebens eher die Nähe zur bildenden Kunst als zum Journalismus gesucht. Einerseits hat er selbst von Beginn an und bis ins hohe Alter hinein gezeichnet und gemalt - ja er behielt den Pinsel auch noch in der Hand, als er seine berühmte Leica längst definitiv weggelegt hatte. Die Malerei war für ihn auch der Ort der Farbe - fotografiert hat er nur in Schwarzweiss. Andererseits hat Cartier-Bresson auch immer wieder Künstler porträtiert: Pierre Bonnard, der sich Hände reibt, für die er eigentlich einen Waffenschein besitzen müsste; André Breton hinter afrikanischen Idolen; der alte Henri Matisse mit Zeichenblock und weisser Taube in der Hand - Bilder, die unseren Blick auf Wesen und Arbeit dieser Künstler prägen.
Liebe zur Malerei
1908 in Chanteloup, Seine-et-Marne, geboren, studiert Henri Cartier-Bresson tatsächlich Malerei, ehe er 1931 die Fotografie für sich entdeckt. 1934 veröffentlicht er seine erste Fotoreportage in der Zeitschrift «Vu». Den Krieg verbringt er teilweise in deutscher Gefangenschaft - kann jedoch fliehen. 1947 gründet er zusammen mit Robert Capa, David «Chim» Seymour, George Rodger und William Vandivert die berühmte Fotoagentur «Magnum». Es folgen Reisen in die UdSSR, nach Mexiko und Kuba, Japan und Indien. 1966 distanziert er sich von «Magnum» - die Agentur nutzt aber weiterhin seine Archive.
«L'art sans art d'Henri Cartier-Bresson», wie Jean-Pierre Montier sein Standardwerk genannt hat, findet schon sehr früh öffentliche Anerkennung. Bereits 1946 widmet ihm das New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) eine erste Personale. 1979 reist die Retrospektive «Henri Cartier-Bresson photographe» durch wichtige Museen der Welt. 1981 erhält er den Grand Prix de la Photographie in Paris, und 1987 stellt das MoMA sein Frühwerk aus. Anlässlich seines 80. Geburtstags 1988 ehrt ihn das Centre national de la photographie in Paris. Und im Jahr 2002 schliesslich wird die «utilité publique» der Fondation Henri Cartier-Bresson durch den französischen Staat anerkannt.
«L'instant décisif» - die knappe Formel, die Henri Cartier-Bresson für seine Fotografie geprägt hat, lässt sich nicht eins zu eins auf Deutsch übersetzen: Der entscheidende Moment, der Entscheid des Moments und der Moment der Entscheidung könnten gleichermassen gemeint sein. Und all dies passt auch zu diesen Bildern. Mit dem schwarzen Rand des Negativs, den Henri Cartier-Bresson stets sichtbar beliess, wollte er wohl auch die Authentizität seiner Bilder unterstreichen. «So ist es gewesen» scheint da mit Roland Barthes unter jeder Aufnahme zu stehen.
Und doch: Wenn wir uns in die Fotografien von Henri Cartier-Bresson vertiefen, dann werden wir den Verdacht nicht los, dass es die da gezeigte Welt ohne seine Bilder vielleicht gar nicht gäbe. Oder jedenfalls hätte sie niemand gesehen. Es braucht nicht nur ein schnelles Auge und eine grosse Wachheit, um solche Bilder zu machen - es braucht auch einige Imaginationskraft. «La photo est une action immédiate; le dessin une méditation» wird Henri Cartier-Bresson oft zitiert. Seine Bilder aber scheinen dem widersprechen zu wollen, wirken sie doch oft wie Meditationen im Moment. Wenigstens liesse sich sagen, dass der Fotograf Cartier-Bresson im Moment das gefunden hat, was der Maler in der Zeichnung oder im Bild mit der Dauer konstruiert. Denn bei Cartier-Bresson ist jede Fotografie auch eine Welt, die im Sekundenbruchteil der Belichtung beginnt und ihr Ende findet.

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erschienen in NZZ, FEUILLETON, 6. August 2004 Nr. 181 43