Samuel Herzog
Der ungläubige Lucio
Als der Gekreuzigte an Ostern zu seinen Jüngern zurückkehrte, wollte einer unter ihnen seinen Augen nicht trauen. Erst als er die Wundmale des Auferstandenen berührt hatte, glaubte er, was er sah. Dieser skeptische Jünger ist als der ungläubige Thomas in die Legenden eingegangen. Mit ähnlichen Zweifeln ist der Italiener Lucio Fontana (1899-1968) vor die gemalten Bilder seiner Zeit getreten: Auch er wollte seinen Augen nicht trauen und nicht glauben, was ihm da als Raum vorgeführt wurde - und also packte er ein Messer und schnitt in die Leinwand hinein. Mit dieser radikalen Geste verletzte er nicht nur die Bildoberfläche, sondern auch die in der abendländischen Malerei seit vielen Jahrhunderten unangetastete Konvention der räumlichen Illusion. Gleichzeitig aber fand der Künstler mit diesem simplen Trick einen Weg, durch das Medium Bild eine durchaus konkrete Raumerfahrung möglich zu machen. Das Problem des «Concetto spaziale» hat Lucio Fontana ein Leben lang auf vielfältige Weise beschäftigt: Mal hat er monochrome Leinwände mit Schnitten versehen oder abstrakte Gemälde gelöchert, mal hat er ganze «Teatrini» angefertigt oder in schweisstreibender Arbeit schwere Lehmkörper gewälzt. All dies lässt sich derzeit in einer Ausstellung im Museum Franz Gertsch in Burgdorf bewundern. Ja, wer sich vor dem totalen Weiss nicht fürchtet, der kann sogar durch eine Rekonstruktion jenes «Ambiente spaziale bianco» wandeln, das Fontana 1968 für die IV. Documenta in Kassel entworfen hat. Nebst diesem mehrheitlich wohlvertrauten Fontana lässt uns die Ausstellung aber auch noch den «unbekannten Fontana» entdecken - den Zeichner voluptuöser Frauenakte nämlich. Ganz am Ende der Schau machen diese Blätter deutlich, dass sich auch der ungläubige Lucio aller Skepsis zum Trotz doch manchmal mit sichtlichem Genuss im klassischen Illusionsraum ausgetobt hat.
© Pro Litteris
Lucio Fontana: «Frauenakt», 1964/65, Tusche auf Papier. (Bild Katalog)
Lucio Fontana. Museum Franz Gertsch, Burgdorf. 2004. Katalog: Der unbekannte Fontana (Hatje-Cantz-Verlag)
erschienen in NZZ, FEUILLETON, 5. Juni 2004 Nr. 128 48