Samuel Herzog
Die Lautstärke aufdrehen
Richard Hamilton im Kunstmuseum Winterthur (2002)
Das Kunstmuseum Winterthur eröffnet heute eine Ausstellung mit Druck-graphik und Multiples von Richard Hamilton. Der achtzigjährige Künstler hat die Pop-Art wesentlich mitgeprägt und auch gezeigt, dass es oft ge-nügt, die Dinge beim Namen zu nennen.
Mit einem kräftigen Ruck stösst er sich los und und rollt auf seinem Bürostuhl rückwärts durch den Ausstellungssaal, gleitet an seinen frühesten Graphiken aus den vierziger Jahren vorbei und kommt vor jenen Blättern allmählich zum Stillstand, die in den späten fünfziger Jahren im Zusammenhang mit seiner gemalten «Hommage à Chrysler Corp» entstanden sind. Das passt, denn Richard Hamilton hat selbst etwas von einer würdevollen Limousine, farblich auf jeden Fall. Fast alles an ihm ist blau oder silbern: die Hose, die Jeans-Jacke, das Hemd, die Adern unter seiner leicht pergamentenen Haut, der Bart, das Haar und die Augen, deren Blick immer ein wenig zu pendeln scheint zwischen Ernst und leichter Belustigung. Nur die blossen Füsse stecken in braunen Sandalen.
Das ist heute
Achtzig Jahre ist Richard Hamilton alt - und das sieht man ihm auch an. Wenn er jedoch von seinem Macintosh-Computer spricht, von den neuesten Software-Erfindungen dieser Firma oder von Druckern mit gigantischer Pixelleistung, dann glaubt man einem jungen Hacker gegenüberzustehen: Man sieht ihn direkt vor sich, wie er mit seinen langen Fingern lustvoll präzise durch die Datenmeere navigiert. Hamilton hat sich immer auf das konzentriert, was Gegenwart ist - 1956 schon, als er für die legendäre Londoner Ausstellung «This is Tomorrow» eine Arbeit beisteuern sollte. «Als ich vom Titel der Ausstellung hörte, bin ich ein wenig erschrocken: Wer weiss denn schon, was morgen ist - ich kann nur sagen, was heute ist.» Also hat er sich hingesetzt und eine Liste jener Dinge angefertigt, die seiner Meinung nach zu diesem Heute gehörten: Autos und Konservenbüchsen, Telefon und Tonbandgerät, Kino und Fernsehen, Geschichte und Comic, Werbung und stählerne Körper, Pin-Ups und die ersten Satellitenbilder der Erde. All dies hat er in eine kleine Collage gepackt und mit einem Titel versehen, der selbst ebenfalls ein Fundstück aus einer Zeitschrift war: «Just what is it that makes today's homes so different, so appealing?» Das kleine Bild wurde zu einer Inkunabel der Pop-Art und hat dieser Bewegung, die sich ab Ende der fünfziger Jahre gleichzeitig in Grossbritannien und Amerika auszubreiten begann, vielleicht gar den Namen gegeben - trägt doch der Bodybuilder im Zentrum der Collage einen riesigen Lutscher der Marke «Tootsie Pop».
Das berühmte Stück gehört der Kunsthalle Tübingen, doch hat Hamilton 1991 einen Laserprint davon angefertigt, der nun Teil ist einer Ausstellung seines druckgraphischen Werks im Kunstmuseum Winterthur. Winterthur besitzt als einziges Museum sämtliche Multiples und die gesamten Drucke des Künstlers. Und das ist im Fall von Richard Hamilton ein grosser Schatz, denn er hat von Anfang an immer wieder mit Druckgraphik experimentiert, und auch die Arbeit an seinen Gemälden war oft von ganzen Reihen gedruckter Werke begleitet. «Ich wollte eine eigene Ästhetik entwickeln, und dabei war mir die Zeichnung weniger hilfreich als das Drucken. Die verschiedenen Techniken und ihre Eigenheiten gaben mir auch Ideen für das Malen - und sie erlaubten es mir, dem Zufall eine Chance zu geben», sagt Hamilton, und dann lässt ein Lächeln sein Gesicht noch schmaler erscheinen: «Ich habe mich einmal mit Jasper Johns über das Thema unterhalten, der mochte keine Drucke, weil sie verstärken, was man tut. Genau diese Verstärkung aber habe ich gesucht - it's like turning up the volume.» - Auch sonst gab es einige Differenzen zwischen dem Briten Hamilton und seinen amerikanischen Kollegen. Anlässlich seiner ersten USA-Reise im Jahr 1963 habe er all die Pop-Künstler dort getroffen und sei sich bewusst geworden, wie sehr er sich doch von ihnen unterschied: «Die Amerikaner tendierten stark zur Vulgarität und liessen nur diese gelten - ich aber interessierte mich auch für raffiniertere Dinge.» Aus diesem Geist heraus sind wohl auch all die Arbeiten entstanden, die mit den Möglichkeiten des assistierten Readymade experimentieren: die Hommagen an Duchamps «Grosses Glas» etwa, die zeichnerischen Rekonstruktionen von alten Pneus der Firma Dunlop oder die Transformationen von Werbemitteln der Pastis-Firma «Ricard» in Ascher und Karaffen oder eben Kunstwerke von «Richard» (Hamilton). Raffiniert ist auch die Reihe von Drucken, die der Künstler als Kommentare zum «Ulysses» von James Joyce angefertigt hat - treibt da doch die Kunst aller Epochen, von den Ägyptern bis zu Picasso, ein ausgeklügeltes Spiel der Referenzen.
Das ist Pop
Bei allem Raffinement jedoch behauptet sich das Vulgäre oder zumindest Populäre der Konsumwelt immer wieder als Ausgangspunkt von Hamiltons künstlerischen Überlegungen. 1957 lieferte er gar eine der wohl bekanntesten Definitionen von Pop-Art - in einem Brief an Peter und Alison Smithson: «Pop-Art ist: populär, vergänglich, zum Verbrauch, nicht aufwendig, massengefertigt, jung, witzig, sexy, trickreich, glamourös, das grosse Geschäft» - kurz: Pop-Art ist all das, was sich konsumieren lässt; was die Werbung anbietet. Hamilton beschränkt sich in seiner Arbeit jedoch nicht darauf, diese Pop-Welt in der Kunst zu Darstellung und kultureller Bedeutung zu bringen. Er kritisiert die Konsum-versprechen aber auch nicht, jedenfalls nicht direkt, sondern denkt das, was sich da so sehr als traumhafte Wirklichkeit anbietet, einfach ein Stück weiter. In den siebziger Jahren führt ihn dieses Weiterdenken etwa zu folgendem Schluss: Wo konsumiert wird, muss auch ausgeschieden werden.
Also macht sich der Künstler auf die Suche nach jenen Orten in der Werbewelt, wo dieser wenig attraktive, eigentlich aber unvermeidbare Folgeeffekt des Konsums sichtbar wird. Er findet die Anzeigen der Toilettenpapier-Firma Andrex: nymphenartige junge Frauen, die verträumt in saftigen Wäldern herumstehen und die im Vordergrund sichtbare Klopapierrolle in eine Aura von Naturromantik hüllen. In einer ersten Serie von Bearbeitungen dieser Anzeige genügen dem Künstler wenige Farbstriche, um eindeutig werden zu lassen, wie hier die irdische Realität des Exkrementierens in eine ganz und gar himmlische Angelegenheit voller latenter Erotik verwandelt wird. In einem nächsten Schritt ersetzt er dann das Papier durch eine kunstvoll geformte Kot-Wurst. In Winterthur ist diesem Thema ein ganzer Raum gewidmet. Hamilton gibt dazu keine Kommentare ab, kratzt sich bloss mit Nonchalance am Bärtchen: Manchmal genügt es eben, wenn man die Dinge einmal beim Namen nennt.
erschienen in NZZ, 31. August 2002, Zürcher Kultur S. 42