Samuel Herzog

Stillstand des Stillstandes

Duane Hanson im Kunsthaus Zürich (2003)

Als wir sie das erste Mal sahen, da hat sie uns einen mächtigen Schrecken eingejagt: die Frau mit den bösen Augen, den Gummistiefeln und Einkaufstüten. Erst haben wir uns gefragt, was wohl so jemand in einem Museum macht - und dann kam der Schock, dass sie gar nicht lebendig, gar nicht real war. Auch als wir zum zweiten Mal in unserem Leben einer Plastik von Duane Hanson (1925-1996) begegnet sind, hat uns das Grausen gepackt: Denn nun war es eine Putzfrau, bei der wir uns fast schon entschuldigt hätten, weil wir über den frisch aufgewischten Boden getrampelt sind. Auch bei unserer dritten Begegnung noch gab es einen Moment der Irritation: passte der Museumswärter doch zu gut in das Ambiente.
Als wir dann aber fast über eine Alkoholikerin gestolpert wären, die, umringt von allerlei Müll, mit verhärmtem Gesicht und nackten Beinen in einer Ecke lag, da wussten wir schon: Das kann nur ein Duane Hanson sein. Seit vielen Jahren schon werden die Figuren des Amerikaners immer wieder gern etwa in thematische Ausstellungen aufgenommen, wo sie treu und verlässlich ihren Irritationsdienst verrichten. Und da Hanson vom Autounfallopfer über Polizisten, Künstler und Touristen bis zu Rockern und Wischfrauen den ganzen amerikanischen Alltag porträtiert hat, gibt es kaum ein Thema, zu dem nicht auch irgendeines seiner Werke passen würde.
Den Staub vom Rücken klopfen
Der irritierende Effekt dieser in einem aufwendigen Verfahren meist aus Kunstharz gefertigten Figuren rührt daher, dass sie sich aus einer gewissen Distanz nicht von lebendigen Zeitgenossen unterscheiden lassen - und selbst aus der Nähe wirkt vieles an ihnen so täuschend echt, dass wir uns etwa bei der Idee ertappen können, dem Bauarbeiter vor uns den Staub vom Rücken zu klopfen. Diese Täuschung ist natürlich dann am wirkungsvollsten, wenn wir nicht damit rechnen, getäuscht zu werden - wenn die Figuren also in einen Kontext eingebettet sind, in dem auch ihre lebendigen Doubles auftreten könnten.
Ganz anders wirken Hansons Schöpfungen indes, wenn sie in Gruppen erscheinen - so wie in der kleinen Retrospektive, die nach Stationen in Frankfurt, Stuttgart, Mailand, Rotterdam und Edinburg nun im Kunsthaus Zürich zu sehen ist. Um Überraschung geht es da nicht mehr: Der Fokus hat sich von der Beschäftigung mit der Irritation hin zur Bewunderung der Imitation verschoben. Und so tritt verstärkt hervor, was Hanson uns eigentlich überhaupt präsentiert: Es ist - sieht man von einigen Ausnahmen ab - das Gewöhnliche des Lebens schlechthin. Gleichgültig, ob seine Figuren nun Künstler sind oder Ärzte, ob sie in der Sonne liegen, auf Baustellen arbeiten oder auf einem Flohmarkt billige Bücher und Kunst zum halben Preis anbieten, stets sind sie in Momenten dargestellt, in denen ihre Aktivität zum Stillstand gekommen ist: So macht der Tourist mit der Kamera eben gerade kein Foto, hat der Mann auf dem Rasenmäher die Hände gerade mal nicht am Steuer, hat der Bodybuilder keine Hantel in Händen, die Putzfrau keinen Lappen . . .
Es ist eine gebremste Welt, die hier in die Plastik hinein gebremst wird, Stillstand des Stillstands sozusagen. Wir alle kennen diese Momente, in denen wir zwar da sind, doch gleichzeitig auch irgendwie nicht - Momente, in denen wir nachdenklich sind, ohne wirklich nachzudenken, aufmerksam, ohne wirklich etwas zu bemerken. Gerade weil sich Hanson darauf spezialisiert hat, diese so un-besonderen Momente zu skulpturalisieren, erscheinen seine Figuren auch nicht als Stereotype. So charakteristisch für das «Amerikanische» sie auf einen ersten Blick auch wirken mögen, eine Beschreibung dieses Alltags würde anders aussehen. Es ist die Leblosigkeit am Leben, die Langeweile hinter der Aufregung, die Sinnlosigkeit in jedem Ziel, die hier am Menschenbild vorgeführt wird. Vielleicht wirken Hansons Figuren gerade deshalb so unheimlich, weil uns diese Momente so vertraut und so unvertraut zugleich sind: Wir kennen sie, weil wir sie erleben, wir können sie jedoch nicht wirklich erfassen, nicht mit Bewusstsein durchdringen. In der Zürcher Ausstellung jedenfalls wirkt der Polizist, der gerade einen Schwarzen verprügelt, weit weniger unheimlich als der Cowboy im Eck, dem das Pferd davongelaufen ist und der jetzt untätig dasteht. Die Figurengruppe mit dem Polizisten ist die Darstellung einer Sache, einer Aktion. In der Cowboy-Figur aber ist ein Moment gespiegelt, der wegen seiner unspektakulären Intimität nicht für die Augen Dritter gedacht ist, auch weil wir uns selber darin seltsam fremd sind.
Mangel an Erzählung
In der Nachfolge von Duane Hanson haben verschiedene Künstler lebensecht wirkende Menschenfiguren geschaffen: Gavin Turk mit seinem Junkie oder seinem Popstar, Maurizio Cattelan mit seinem von einem Meteoriten erschlagenen Papst, Ron Mueck mit seinem toten Vater oder dem kauernden Riesen-Jungen, der an der letzten Biennale von Venedig zu sehen war. Im Unterschied zu Hansons Protagonisten, von denen einige wegen ihrer längst aus aller Mode gekommenen Kleidung heute manchmal etwas angestaubt wirken, treten diese Figuren zwar zeitgemässer auf, wirken aber weniger beunruhigend. Bei Cattelan und Turk steht die Aktion oder die Geste im Vordergrund, bei Mueck die Überzeichnung. Bei Hanson aber ist es ja gerade der Mangel an Erzählung, der uns das Gruseln lehrt: Seine Plastiken wirken wie eine plötzliche Stille am Radio - eine Leerstelle, die zu füllen wir uns nicht vorbereitet haben.



erschienen in NZZ, FEUILLETON, 22. März 2003, Nr. 68 61