Samuel Herzog
Übersinnliche Liebkosungen
Retrospektive Fernand Khnopff in Brüssel (2004)
Fernand Khnopff (1858-1921) war einer der Hauptvertreter des belgischen Symbolismus. In den Königlich-Belgischen Kunstmuseen in Brüssel gibt es derzeit eine umfassende Retrospektive mit mehr als zweihundert Werken zu sehen, die ganz verschiedene Aspekte seines vielseitigen Schaffens beleuchtet.
Wenn Eltern in letzter Zeit vermehrt Ringe unter den Augen haben, dann hat das seinen Grund: Schleichen sie doch nächtens in die Zimmer ihrer Kinder, um dort bestimmte Bücher zu entwenden. Und dann sitzen sie stundenlang am Küchentisch, tief über die Seiten gebeugt, die rechte Hand fest um eine Tasse mit heisser Schokolade gekrallt. Dieses Phänomen, das gerne auch als Harry-Potter-Syndrom bezeichnet wird, entspringt wohl dem verständlichen Wunsch, nicht pausenlos auf eine Realität verpflichtet zu werden, die gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten doch allzu gern mit der Trockenheit eines Steuerberaters an unser Seelenleben herantritt.
Gegen die ästhetische Rationalisierung
Auch der Belgier Fernand Khnopff, der am 12. September 1858 auf dem Schloss seiner Grosseltern in Grembergen bei Dendermonde zur Welt kam, wäre wohl ein heimlicher Harry-Potter-Leser geworden. Das illustriert derzeit eine Ausstellung in den Königlich-Belgischen Kunstmuseen zu Brüssel, wo Khnopff mit einer umfassenden Retrospektive geehrt wird. Die Schau erschliesst zur Hauptsache die reichen Bestände des Hauses, wurde jedoch durch kapitale Leihgaben aus Europa und Übersee ergänzt. Die Exponate sind nach Themen geordnet und werden in einer Atmosphäre präsentiert, die vom Interieur der Wohnung des Künstlers und von den Ausstellungsräumen der Wiener Sezession inspiriert ist.
Fernand Khnopff wurde in eine Zeit hineingeboren, deren Anstrengungen sich ganz auf die Erfassung der äusseren Realität mit ihren verschiedenen Unzulänglichkeiten richtete. Wissenschaft und technischer Fortschritt nahmen der Welt immer mehr von ihrer Magie, in der Malerei bestimmte der Impressionismus das Feld, und in der Literatur mühte man sich um eine möglichst objektive Beschreibung der frühindustriellen Realität.
Dass Khnopff dann doch nicht zum Harry-Potter-Leser avant la lettre werden musste, hat mit dem Widerstand zu tun, der sich etwa in den 1880er Jahren gegen die ästhetische Rationalisierung der Welt zu regen begann. Künstler wie die Präraffaeliten, wie Odilon Redon, Puvis de Chavannes, Maurice Denis und andere Nabis, Literaten wie Mallarmé und Rimbaud weigerten sich, weiterhin das sichtbar Reale mit ihren Werken zu glorifizieren. Die eigentliche Wirklichkeit, so waren sie überzeugt, lässt sich nämlich ohnehin nicht in der sichtbaren Welt finden, sondern nur in der Seele, in den Ängsten und Phantasien, in Träumen und Empfindungen.
Zu diesen Symbolisten zählte auch Fernand Khnopff. Was für eine Wirklichkeit den Belgier interessierte, lässt sich in Brüssel an den verschiedensten Werken nachvollziehen. Da gibt es Porträts wie das Bildnis von Marguerite Khnopff aus dem Jahr 1887, in dem der Künstler seine Schwester als Salon-Muse darstellt - als eine der Zeit und auch den Bedingungen des Raumes enthobene Ikone. In Allegorien wie der «Stille» von 1890 versuchte Khnopff, die Versenkung in eine innere Welt durch eine raffinierte Irritation des Blicks sichtbar zu machen: Die junge Schönheit hat ein Auge direkt auf den Betrachter gerichtet, das andere aber schielt in eine höhere Welt.
Auch in «Memories (Lawn Tennis)» von 1889 machen schon die anatomischen Unbequemlichkeiten deutlich, dass es hier um eine Darstellung der Wirklichkeit hinter der sichtbaren Oberfläche geht. Da treffen sich sieben Damen zum Tennis auf einer grünen Wiese. Dass allerdings auch nur eine unter ihnen je einen Ball treffen könnte, scheint mehr als unwahrscheinlich: Halten sie sich doch allesamt eher wie Schaufensterpuppen denn wie Sportlerinnen. Ausserdem gibt es keinerlei Verbindung zwischen den sieben Frauen - keinerlei Gesten oder Blicke, ja nicht mal einen gemeinsamen Ball. Die Figuren sind vielmehr wie Papp-Kameradinnen ins Bild geschoben - ähnlich wie in der «Grande Jatte», die Seurat 1884-86 gemalt hat. Jeder Mensch ist auf sich alleine gestellt, ein Vereinzelter, ein Individuum, das auf keinerlei gesellschaftlichen Rückhalt zählen darf: «On n'a que soi», stand über dem Eingang zur Villa von Khnopff geschrieben.
Licht aus einer anderen Welt
Besonders eindrücklich äussert sich Khnopffs Suche nach dem Visionären gerade auch in jenen Bildern, die zunächst sehr stark der sichtbaren Wirklichkeit verpflichtet scheinen. So zum Beispiel in den verschiedenen Ansichten der Stadt Brügge, die 1904 entstehen - etwa in «Erinnerungen an Brügge. Der Eingang des Beginenhofes». Die Vermutung liegt nahe, dass Khnopff hier mit schwarzer Kreide und Pastell eine Wirkung erzielen wollte, die den Betrachter durchaus an Fotografie erinnern sollte: Der Ausschnitt ist für eine Zeichnung eher ungewohnt, die Details sind äusserst präzise, und ausserdem nutzt Khnopff die Struktur des Papiers, um eine Art Körnigkeit zu erzielen. An Fotos aus jener Zeit erinnert aber vor allem auch der Einsatz der Farbe: Die «Erinnerung an Brüssel» ist ja keine farbige Kreidezeichnung, sondern ein schwarzweisses Gemälde, das nachträglich koloriert worden ist - ganz so, wie das bei Fotografien jener Zeit üblich war.
Gerade weil die Zeichnung so stark an die Fotografie erinnert, wirkt es so, als dringe das farbige Licht aus einer unsichtbaren Quelle auf äusserst geheimnisvolle Weise in einzelne Bereiche des Bildes ein. Zu diesem Licht, das nur von übernatürlicher, weil sozusagen «überfotografischer» Herkunft sein kann, passt allerdings auch der Umstand, dass die Dinge hier zum grössten Teil nicht direkt, sondern nur als Spiegelbilder erscheinen - drei Viertel der Bildfläche werden vom Wasser des Kanals besetzt.
Wie sehr sich Khnopff bemühte, seine Bilder vieldeutig zu halten, illustriert in der Brüsseler Schau nicht zuletzt auch das wohl berühmteste Werk des Belgiers: «Des Caresses» («Liebkosungen») von 1896, das 1898 in der ersten Ausstellung der Wiener Sezession für Furore sorgte. Vor einer antikischen Landschaft sehen wir eine Sphinx mit Leopardenkörper und einen jungen Mann mit einem androgyn wirkenden Gesicht, der durch Brustschmuck und Stab als Hermaphrodit gekennzeichnet ist.
Die Sphinx schmiegt ihren Kopf liebevoll, fast verzückt an die Wange des Hermaphroditen. Dessen Augen hingegen blicken abwesend ins Leere, ganz als fühle er sich von der Situation gar nicht betroffen. Khnopff selbst hat versichert, bei seinem Gemälde handle es sich um eine einfache Allegorie - habe der Mensch doch immer die Wahl zwischen Vergnügen und Macht. Das lässt sich in dem Bild erkennen, wenn man der Sphinx das Vergnügen und dem Hermaphroditen die Macht zuschreibt. Davon abgesehen könnte es in dem Gemälde aber ebenso um Verführung und Bezauberung, Beherrschung und Widerstand, Zuneigung und Gefühlskälte, Körper und Geist, das Mysterium des Weiblichen (auch im Mann), das Animalische und Kulturelle gehen usw. Ja auch der Mythos von Ödipus ist nicht fern.
So lange wir uns auch damit beschäftigen: «Des Caresses» gibt, wie so viele Werke von Khnopff, immer nur jene Mysterien preis, die auch unsere eigenen sind. Eine Reise zu den Bildern von Fernand Khnopff ist deshalb immer auch eine Reise zu den eigenen Geheimnissen - verführen uns die Werke doch dazu, durch eher ungewohnte Fenster und Luken unserer Seele zu blicken, eher unvernünftige Gedanken zu denken. Und gerade darin hat der Belgier für sein Publikum vielleicht einen ganz ähnlichen Effekt wie für manche die Lektüre von Harry Potter am nächtlichen Küchentisch.
Licht aus übernatürlicher Quelle. Fernand Khnopff: «Erinnerungen an Brügge. Der Eingang des Beginenhofs», 1904. (Bild pd)
erschienen in NZZ, FEUILLETON, 19. Februar 2004 Nr. 41 45