Samuel Herzog
Die Wissenschaft muss weitergehen
Es gibt Probleme, an denen wir viele Jahre lang nagen, ohne sie wirklich zu erkennen. Und eines Tages dann nennt sie endlich jemand beim Namen - und mit einem Schlag ist alles ganz anders. So könnte es auch den Besuchern der Ausstellung gehen, die das Zürcher Künstlerduo Andres Lutz & Anders Guggisberg derzeit im Genfer Kunstraum attitudes präsentiert. «Durchblickstrudel» heisst der neue Begriff, den sie hier dem Publikum oder genauer der Presse schmackhaft machen wollen - wobei nicht etwa ein löchriges Gebäck gemeint ist, sondern eine «ecstasy of understanding». Für ihre Präsentation haben Lutz & Guggisberg ein paar crèmefarbene Stühle so aufgestellt, wie das für eine Pressekonferenz geschehen könnte. Mitten in diesen Stühlen haben sie mit Holzresten ein nervöses Knäuel konstruiert, in dem wir die von Blitzgewittern umzuckten Häupter sensationsgieriger Paparazzi erkennen können. Vor die so versammelten Medien haben die Künstler Stellwände gerückt, auf denen mit einer Vielzahl unterschiedlichster Bilder und Texte die Geschichte einer Forschungsreise erzählt wird. Im Zentrum der seltsamen, entfernt an Science-Fiction-Romane wie «Solaris» erinnernden Geschehnisse steht immer wieder die mysteriöse Ekstase der Erkenntnis. «Oh my God, I have the Durchblickstrudel - what can I do?» heisst es da zum Beispiel. Doch auch sonst scheint diese Expedition nicht ganz problemlos über die Bühne zu gehen: «We haven't found an explanation for it so far» deutet eine gewisse Ratlosigkeit an - und dann steht da plötzlich: «I had to eat Scott.» Das ist grausam, unerhört - doch die Wissenschaft muss weitergehen. Also verlassen wir diese Pressekonferenz und treten in den zweiten Raum der Ausstellung ein. Hier treffen wir auf einen geheimnisvollen, von Plasticplanen überspannten Haufen, daneben auf das zarte Modell einer futuristischen Raumstation - und auf der Wand dahinter versucht uns eine Wissenschafterin in einer grossen Videoprojektion ihre Arbeit zu erklären. Natürlich verstehen wir nicht viel, doch erzeugt die Mischung aus Bildern und Texten, Tönen und kleinen Modellen eine äusserst eigenartige Stimmung. Und so sind wir am Ende denn auch nicht ganz sicher: Haben wir es nun geschafft? Sind wir durch? Oder steht er uns erst noch bevor, der grosse «Durchblickstrudel»?
Andres Lutz & Anders Guggisberg. Kunstraum attitudes, Genf. Bis 6. März. Begleitheft zur Ausstellung gratis.
Schulze und Schulze auf der Achterbahn der Erkenntnis - Detailansicht der Genfer Installation des Künstlerduos Andres Lutz & Anders Guggisberg. (Bild her) © Pro Litteris
erschienen in NZZ, FEUILLETON, 7. Februar 2004 Nr. 31 46