Samuel Herzog

Am Anfang fehlte das Wort

Grosse Retrospektive von Georgia O'Keeffe im Kunsthaus Zürich (2003)

Je länger wir nach ihnen suchen, desto mehr fehlen sie uns: die richtigen Worte, die wir der gegenwärtigen Ausstellung von Georgia O'Keeffe im Kunsthaus Zürich beigesellen könnten. Wäre ihre Malerei so explizit wie die Kunst einer Louise Bourgeois, dann könnten wir abtauchen in unsere Phantasien, uns im Assoziativen verfangen, uns suhlen im mehr oder minder kollektiv Halbbewussten. Wäre ihre Malerei umgekehrt so cool und oberflächlich wie die Bilder eines Alex Katz, dann könnten wir die Absenz des Emotionalen konstatieren, das Evidenz-Spiel der Pop-Art feiern. Doch die Malerei der Georgia O'Keeffe ist so, wie sie ist - nur unsere Gedanken wollen partout nicht dazu passen. Oder anders gesagt: Wie auch immer wir es anpacken, es kann nur das Falsche dabei herauskommen. Was wir schildern können, ist also einzig die Verkrampfung unseres Blicks, die verzweifelte Starre vor dem Bild.
Nehmen wir zum Beispiel die «Black Hills with Cedar» aus dem Jahre 1942: Zur Hauptsache füllen da zwei dunkle Hügel das Panoramaformat der Leinwand. Davor strecken sich uns zwei etwas niedrigere Kuppen rot und wulstig entgegen. In der Mitte ragt von unten her keck die Krone eines Baumes ins Bild, dessen Zweige mit eiförmigen Früchten besetzt sind. Schauen wir uns das Gemälde an - ist es nicht eindeutig zweideutig? Für einen männlichen Blick auf jeden Fall. Und wäre auch der Maler ein Mann, dann würde niemand daran zweifeln. Doch da warnt uns die Kuratorin Bice Curiger vor einer «sexuellen Überinterpretation», deren Opfer die Künstlerin immer wieder geworden sei. Nehmen wir uns also zurück, und schämen wir uns - denn es können nur Restbestände pubertärer Symbolik sein, in deren Turbulenzen unser assoziierender Blick da geraten ist.
Doch was sehen wir, wenn wir das nicht sehen, was wir nicht sehen sollen? Eine hügelige Landschaft, erfasst in einem für die Künstlerin typischen, sehr knappen Ausschnitt, der ziemlich kühn ist und an die Ästhetik von Fotografien erinnert. Und sonst? Ein eher stilisiertes, doch nicht wirklich konsequent durchornamentalisiertes Landschaftsbild - fast ein wenig ungeschickt gemalt, was vielleicht anrühren kann. Eigentlich aber ein Bild, an dem sich unser Blick ziemlich schnell einmal satt gesehen hat. Ist es also vielleicht doch vor allem die Doppeldeutigkeit, die dem Gemälde einen Reiz zu geben vermag. Oder sind wir schon wieder dabei, Material für eine wie auch immer lautende Diagnose abzusondern - ganz als wären wir hier mit einem Rorschachtest konfrontiert?
Ähnliche Zweifel packen uns vor vielen der mehr als siebzig Arbeiten, die Bice Curiger für diese Ausstellung hat zusammenbringen können. An der Inszenierung in den Kojen des frisch restaurierten Bührle-Saales liegt es nicht, denn die ist von unaufdringlicher Eleganz. Ja, vielleicht haben die Werke gar zu viel Platz, um zu atmen, vielleicht würden sie uns weniger Kopfzerbrechen bereiten, wenn sie ein wenig eingeengt wären - so wie in einer rauchigen Bar, in der anrüchige Witze erzählt werden, über die niemand so recht lachen will. Doch hier hängen die Gemälde nicht auf Plüschwänden, sondern auf neutralem Weiss - und nichts stellt sich ihnen oder uns in den Weg.
Da gibt es etwa die berühmten Blumenbilder, in denen die Blüten vom Bildrand überschnitten werden und wir also tief in das Innere dieser floralen Organismen blicken. Denkt man sich das Wollüstige, das latent Sexuelle weg - was bleibt dann ausser dem dekorativen Effekt? Oder nehmen wir eher abstrakte Gemälde wie «Jack-in-the-Pulpit No. VI» von 1930: eine längliche Form, umfangen von einem mehrschichtigen Futteral. Als Komposition ist auch dieses Werk eher anspruchslos - als erotische Chiffre aber nicht uninteressant.
Nicht immer laufen wir in dieser Ausstellung Gefahr, uns der «sexuellen Überinterpretation» schuldig zu machen. Zum Beispiel gibt es da einige Variationen über das Thema einer Tür oder eines Fensters in einer Wand. Stark geometrisierte Gemälde am Rand zur Abstraktion: Doch stammen sie aus den späten vierziger und fünfziger Jahren - aus einer Zeit also, in der auch die geometrische Abstraktion eine weit verbreitete Mode war. Für unseren heutigen Blick wirkt die prononcierte Schematisierung dieser Bilderreihe gar fast ein wenig unmotiviert. Und dann trifft man in Zürich natürlich auch auf eine ganze Reihe von Landschaften aus der langen Schaffenszeit der Künstlerin. Wüstenartige Ansichten, die oft auf wenige Farbnuancen reduziert sind - oder à la japonaise ganz auf die Kraft einer Solo-Linie vertrauen wie die wunderbare «Winter Road I» aus dem Jahr 1963. Ausserdem finden sich Himmelslandschaften wie die Serie mit dem Titel «Sky above the Flat White Cloud», die von der Idee her an die Wolkenbilder von O'Keeffe's Ehemann Alfred Stieglitz erinnert.
Als Georgia O'Keeffe 1986 im Alter von 99 Jahren starb, war sie längst schon eine Ikone der amerikanischen Kunst. Das hatte auch damit zu tun, dass einige ihrer Gemälde über Poster und Kunstdrucke schon relativ früh weltweite Verbreitung gefunden hatten - was auch illustriert, wie dekorativ ihre Malereien empfunden werden können. Originale indes hat man in Europa zumindest in den letzten Jahren immer nur vereinzelt im Rahmen grösserer Ausstellungen sehen können - im Kunsthaus Zürich etwa 1997 in der ebenfalls von Bice Curiger kuratierten Schau «Birth of the Cool». Die jetzige Präsentation aber tritt mit einem ganz anderen Anspruch auf: Hier wird das Gesamtwerk der Georgia O'Keeffe retrospektiv vor uns aufgefächert. Und gerade das provoziert offenbar eine gewisse Ratlosigkeit. Denn je länger wir die Konfrontation mit den Bildern suchen, desto mehr löst sich alles in einer Art stummen Wohlgefallens auf. Wir werden verführt, ja. Wir wissen bloss nicht, welche Rolle wir bei der Sache spielen - kein Wunder, dass uns da die richtigen Worte fehlen.

Georgia O'Keeffe. Kunsthaus Zürich. Bis 1. Februar 2004. Katalog mit Texten von Bice Curiger, Carter Ratcliff und Peter J. Schneemann. Hatje-Cantz-Verlag, Ostfildern-Ruit 2003. Fr. 65.- (Fr. 83.- im Buchhandel).



Was sehen wir, wenn wir nicht sehen, was wir nicht sehen sollen? Georgia O'Keeffe: «Black Hills with Cedar», 1942. (Bild Katalog)



erschienen in NZZ, FEUILLETON, 25. Oktober 2003 Nr. 248 43