Samuel Herzog

Alles auf die Spitze treiben

Theodora Vischer und Bernadette Walter über Dieter Roth (2003)

Bei Dieter Roth (1930-1998) war alles extrem - seine Arbeit als Künstler oder als Dichter genauso wie sein Leben. Die retrospektive Ausstellung «Roth-Zeit» im Schaulager Basel gibt derzeit einen Einblick in das zwischen völligem Chaos und eigenwilliger Ordnung ausgespannte Universum seines Schaffens. Samuel Herzog unterhielt sich mit Theodora Vischer, der Direktorin des Schaulagers, und mit Bernadette Walter, die das Roth-Projekt über Jahre hinweg begleitet hat.

Eigentlich würde man meinen, Dieter Roth sei mit seinen Arbeiten geradezu das Gegenteil eines Museumskünstlers - nun aber zeigt das Schaulager mit «Roth-Zeit» eine Retrospektive, der man eine gewisse Musealität nicht absprechen kann.
Theodora Vischer: Dieter Roth hat in den fünfziger Jahren schon seine ersten Ausstellungen realisiert - und bis zu seinem Tod eine schier endlose Vielzahl von solchen Projekten durchgeführt. Er hat auch schon recht früh angefangen, seine Ausstellungen selbst einzurichten. Die erste retrospektiv angelegte Schau war wohl «Grafik und Bücher u. a. m. aus den Jahren 1971-1979», die zuerst in der Staatsgalerie Stuttgart und 1980 im Kunstmuseum Luzern zu sehen war. In diese Schau integrierte er nebst den Grafiken und Büchern auch erstmals verschiedene Musikbilder, Objekte und kleine Installationen. Auf den Fotos dieser Schau begegnet uns erstmals die für alle späteren Ausstellungen von Roth so typische Vielfalt. In den folgenden Jahren hat Roth diese Art der Ausstellung weiterentwickelt. 1992 in Holderbank hat er diese Vielfalt dann erstmals in einem wirklich grossen Rahmen installiert - hier können wir dann auch von der Ausstellung als von einem Gesamtkunstwerk sprechen.
Bernadette Walter: Roth hat auch selbst immer wieder retrospektive Präsentationen seiner Werke zusammengestellt. Zuerst Grafik und Bücher, dann Frühwerke bei Marlene Frei oder seine Arbeiten der fünfziger Jahre 1995 im Kunstmuseum Solothurn («Dieter Roth: Werke 1951 bis 1961 und das Solothurner Wandbild»). Das waren auch museale Projekte in einem durchaus klassischen Sinn.
Aber gerade da scheint sich doch ein Widerspruch aufzutun. Da gibt es einerseits das enorm Flüchtige, Improvisierte oder manchmal gar bewusst Nachlässige, das vielen Arbeiten Roths anhaftet. Und andererseits beobachten wir schon sehr früh eine Tendenz zum retrospektiven Blick, eine gewisse Liebe zum musealen Raum mit all seinen Implikationen . . .
Vischer: Mit der Zeit, ich denke wohl im Verlauf der siebziger Jahre, ist der retrospektive Aspekt bei Roth auch immer mehr zu einer Strategie in seinem Schaffen geworden. So befremdend ist das nicht, hat das Retrospektive doch auch mit dem Autobiografischen oder Lebensbeschreibenden, mit Tagebuch oder Selbstporträt zu tun. Und das ist ein zentraler Themenkomplex, der in den siebziger Jahren erst wirklich deutlich manifest wird - selbst wenn er vorher immer schon mit präsent war. In den siebziger Jahren hat Roth begonnen, Werke zu realisieren, die um solche Themen kreisten. Und nur deshalb konnten spätere Ausstellungen wie die in Holderbank auch so ausgearbeitet sein. Holderbank war ein Wurf - und eine solche Ausstellung kann auch als ein Werk für sich gelten. - Ausserdem hat Roth relativ früh schon damit begonnen, seine Sammler sehr gezielt zu pflegen: Er stand im persönlichen Kontakt mit ihnen und hat sie bei ihren Ankäufen beraten. Alle grossen Roth-Sammlungen haben deshalb etwas sehr Repräsentatives - das hat Roth selbst so angelegt, indem er diese Sammlungen wie ein Konservator plante.
Walter: Das hat ja bereits in den fünfziger Jahren angefangen. Damals schon hat er einzelne Werke, zum Beispiel Schnittbücher oder konstruktivistische Bilder und Objekte, ganz gezielt nach Hause in die Schweiz geschickt und seinen Eltern mitgeteilt: Diese Werke bleiben bei euch, die werden auf keinen Fall verkauft. Er hat sich also damals schon gewisse Werke sozusagen auf die Seite gelegt.
Vischer: Als wir die Ausstellung hier im Schaulager planten, haben wir uns natürlich gefragt, wie wir Roths Werk am ehesten gerecht werden könnten - schliesslich hat er in den letzten Jahren bis zu seinem Tod alle Ausstellungen selbst eingerichtet. Eine wichtige Frage war: Darf man Roths Werke überhaupt im Sinn einer klassischen Retrospektive auch museal präsentieren? Oder sollte man in jedem Fall eine Rekonstruktion oder Nachempfindung des Gesamtkunstwerk-Charakters seiner späten Ausstellungsinszenierungen in Holderbank, Wien oder Marseille anstreben? Ein entscheidender Hinweis war für mich die Sammlung der Roth-Foundation in Hamburg, die in einem ehemaligen Wohnhaus untergebracht ist: Dort hat Roth selbst die Sammlung seiner Werke in einer ganz und gar klassisch musealen Weise inszeniert.
Roth war also von Beginn weg auch sein eigener Sammler und Konservator seiner Werke. Damit hat er wohl auch wesentlich mitbestimmt, was wir heute von ihm sehen - und was nicht. Aber warum ist denn eine Retrospektive im Fall von Dieter Roth mehr noch ein Tagebuch als im Fall von anderen Künstlern?
Walter: Zum Beispiel weil er seine Werke über Jahrzehnte hinweg mitnimmt. Die grosse «Gartenskulptur» etwa, die hat er schon 1968 begonnen und dann immer wieder an neue Situationen angepasst - auf neue Ausstellungen und Orte reagiert. Dabei hat er sämtliche Veränderungen genau dokumentiert - seine eigenen Arbeiten an der Skulptur ebenso wie die seiner Mitarbeiter.
Vischer: Roth war ja auch ein unglaublich auf Ordnung und Systematik bedachter Mensch - auch wenn seine Arbeit manchmal auf einen ersten Blick äusserst chaotisch wirkt. Er hat zum Beispiel seine Werke in einer Kartei minuziös verzeichnet, alles in seiner Wohnung war beschriftet, seine Bibliothek wohlgeordnet . . .
Könnte man Roth einen Wanderkünstler nennen, der ein wenig auch wie ein Geschichtenerzähler mit seinem ganzen Rohmaterial von Ort zu Ort wandert und überall etwas Neues aus seinem Fundus heraus formuliert?
Vischer: Die Ausstellung, die wir hier im Schaulager zeigen, heisst ja nicht zufällig «Roth-Zeit». Ab den sechziger Jahren tritt die Zeit in den Werken von Dieter Roth immer wieder als Thema auf. Das Vergehen von Materialien ist denn auch ein Teil des Inhalts seines Werks. Das Anhäufen, das Sammeln von Dingen ist auch ein Anhäufen von Zeit. Und Zeit ist bei Roth immer auch Lebenszeit. Deshalb ist im Fall von Roth auch eine Retrospektive immer Teil des gesamten Werks. Mit einem Augenzwinkern könnte man sagen, dass diese «Roth-Zeit» ja auch eine gewisse Epoche vertritt. Was Roth gemacht hat, ist typisch für einen Künstler der Nachkriegszeit - gleichzeitig war er aber auch total eigenständig.
Aber diese «Roth-Zeit» ist ja auch irgendwie Roths eigene Zeit, seine eigene Welt, seine eigene Kunst-Kapsel.
Vischer: Kapsel würde ich nicht sagen. Er spielte ja mit dem, was in seiner Zeit vorhanden war.
Walter: Roth war auch ein Künstler, der mit sehr vielen anderen Menschen zusammengearbeitet hat. Mit den ganzen Wiener Aktionisten, mit Schriftstellern, Künstlern usw. Aber er hat sich natürlich nie irgendeiner Bewegung zuordnen lassen. Das war schon in den fünfziger Jahren so, als er sich mit den Zürcher Konkreten auseinandergesetzt hat. Er hat sich sehr in diese Sache vertieft, dann aber hat er sich auch sehr schnell wieder davon wegbewegt - und so hat er es eigentlich immer gemacht.
Vischer: Er hat sich immer wieder von neuem auf etwas eingelassen, eine Kunstrichtung, eine Idee, unbedingt mit einer gewissen Tiefe, hat diese selbständig weitergeführt, auf eine Spitze getrieben, bis der ursprüngliche Anlass oder die Idee in etwas anderes kippte - und dann ging er weiter zum Nächsten.
Kann man das an einem Beispiel verdeutlichen?
Vischer: Nehmen wir nochmals die Konkreten. Am Anfang realisiert Roth konkrete Arbeiten in einer geradezu schülerhaften Manier. Dann aber fängt er sehr schnell damit an, die Ordnungsregeln der geometrischen Kunst zu unterwandern. Op-Art-Elemente kommen hinzu, und er führt das Geometrische in ganz eigene, spielerische Geschichten über («Gummibandbild», «Kugelspiel», «Drehraster-Bild»), die nichts mehr mit den Intentionen der Konkreten zu tun haben.
Diese Unterwanderung wäre dann aber weniger ein Auf-die-Spitze-Treiben denn ein Verlassen der Orthodoxie zugunsten eines spielerischen Umgangs mit äusseren Zeichen etwa der konkreten Kunst.
Vischer: Schon, doch er hat sich sehr seriös mit der konkreten Kunst beschäftigt. Er hat nicht nur «appropriiert», er hat nicht nur die formalen Mittel übernommen, sondern er hat sich auch mit den Ideen dahinter auseinandergesetzt.
Sie haben Roth als einen typischen Künstler der Nachkriegszeit bezeichnet - inwiefern trifft das zu? Auf einen ersten Blick kann man ja in Roths Werk auch gewisse Ähnlichkeiten mit der Gruppe der Nouveaux Réalistes sehen.
Walter: Zu Anfang der sechziger Jahre war Jean Tinguely sicher wichtig für Roth. Aber die Nouveaux Réalistes waren ja eine Gruppe - und mit der hatte Roth gar nichts zu tun. Das Konzept der Nouveaux Réalistes allerdings (das Reagieren auf die Umwelt, das Integrieren der materiellen Umgebung in die Arbeit) entsprach ja den Zeichen der Zeit - und denen ist auch Roth gefolgt.
Aber es gab Kontakte mit der Pariser Gruppe?
Vischer: Roth hat sich immer dafür interessiert, mit bereits relativ bekannten Künstlern in Kontakt zu sein, sich mit ihnen zu messen. Er wollte sich immer mit jenen messen, die Erfolg hatten - und setzte alles daran, sie zu übertreffen. Er war sehr eifersüchtig und sehr ehrgeizig - das hat er auch selbst so gesagt. So jemand aber schliesst sich keiner Gruppe an. Künstlerfreunde allerdings hatte er viele - und er war immer gut vernetzt. Er ist ja sehr früh von Bern nach Kopenhagen und dann nach Island gezogen - das war in den späten fünfziger Jahren wirklich das Ende der Welt. Wohl hat er auch deshalb von Beginn weg einen so intensiven Briefkontakt mit andern Künstlern, aber auch seinen Eltern gepflegt. Ausserdem hat er sich bemüht, möglichst viel zu reisen, Kollegen zu besuchen und kleine Projekte mit ihnen zu realisieren. Das waren manchmal winzige Projekte - wichtig nur gerade für ihn und für die betreffende Umgebung. Später hat er dann längere Reisen gemacht, sich länger an gewissen Orten aufgehalten. Roth war wirklich ein globaler Künstler avant la lettre. - Roth hat Vernetzung als Strategie eingesetzt. Er wollte mit möglichst unterschiedlichen Leuten einen Austausch über Kunst, Ausstellungsmöglichkeiten, Projekte pflegen. Und er war ein Nomade.
Bei einigen Arbeiten von Roth glaubt man auch eine gewisse Verweigerung zu spüren, die sich in einer gehörigen Portion Ironie oder in einer gewissen Nachlässigkeit äussern kann.
Walter: Dem muss ich widersprechen: Roth war eigentlich ein Perfektionist. Jedenfalls hat er immer auch den Anspruch gehabt, etwas perfekt zu machen - und an diesem Anspruch ist er dann auch immer wieder einmal gescheitert, zum Beispiel bei seinen Musik-Performances. Aber er wollte sich eben auch von diesem Anspruch der Perfektion befreien. Er wollte sagen können: «Okay, ich kann nun mal nicht sehr gut Klavier spielen - und trotzdem oder gerade deshalb will ich mein Klavierspiel als künstlerische Form etablieren.»
Das ist aber wieder recht typisch für diese ganze Künstlergeneration: dieser Wunsch, etwa das Nicht-zeichnen-Können in sein Recht zu setzen, als legitime künstlerische Ausdrucksform zu etablieren. Ich denke etwa auch an Robert Filiou mit seinem «Bien fait - Mal fait - Pas fait».
Walter: Roth hat selbst immer wieder gesagt, er wolle das Nicht-Können etablieren.
Vischer: Dabei war Roth ja ein äusserst begabter Künstler - handwerklich auch. Bei Roth trifft auch zu, was der Volksmund sagt, dass Kunst vom Können kommt. Das sieht man etwa, wenn man seine ganz frühen Zeichnungen und Aquarelle ansieht - da ist eindeutig ein Talent am Werk. Und dann hat er sich ja ganz ernsthaft zum Grafiker ausbilden lassen. Dieses Talent und sein Ehrgeiz, mit den Grossen der Kunst in einen Wettstreit zu treten, haben seine Laufbahn bestimmt. Allerdings hat er auch immer wieder versucht, sich in diesem Bestreben nach Perfektion und Erfolg zu behindern. Da hat er sich immer wieder selbst gehemmt und sich gezwungen, gewisse Dinge nicht gut zu machen. Und aus diesem Nicht-Guten wiederum versuchte er dann etwas Eigenes zu machen. Das hat ihn sehr früh schon und dann sein ganzes Leben lang beschäftigt.
Walter: In gewissen Bereichen führte das Durchbrechen der Konvention zu neuen virtuosen Höhepunkten. Wenn man sich die zwei Dinge anschaut, die ihm vielleicht am meisten am Herzen gelegen sind, die Grafik und die Bücher, dann war er da ganz und gar Perfektionist. Und gerade im Bereich der grafischen Blätter war er virtuos wie kaum ein Zweiter seiner Generation.
Vischer: Das Prinzip, seinen eigenen Perfektionismus immer wieder zu durchbrechen, hat er als ein kreatives Mittel gesehen, neue Formen zu finden. Es bot ihm die Möglichkeit, formale oder inhaltliche Konventionen zu durchbrechen und wirklich etwas Neues zu finden. Dieses System wurde für ihn zu einem eigenen Weg.
Könnte man sagen, dass er - auf der Suche nach dem Neuen - die Dinge systematisch zu «Scheisse» werden liess? Schliesslich trägt ja auch ein grosser Werkkomplex von Roth diesen Titel.
Walter: Man muss einwenden, dass auch hinter der «Scheisse» ein ganzes Konzept steht. Zu Beginn der sechziger Jahre schreibt Roth Gedichte und findet sie «Scheisse». Also sagt er sich, dann nenne ich diese Anthologie eben «Scheisse». Natürlich war das «shocking», natürlich eine Provokation - gleichzeitig aber zieht er die Sache weiter. Denn «Scheisse» heisst ja ein gross angelegtes Buchprojekt, das er bis in die Mitte der siebziger Jahre hinein verfolgt. Von Band zu Band zieht er dieselben Gedichte weiter, verändert und verbessert sie. Dies spiegelt sich auch auf der Ebene der Titel wieder, die immer länger werden: von «Scheisse» über «Frische Scheisse» bis zu «Die die die die verdammte gesamte Kacke».
Wenn jemand ein Gedicht schreibt und es schlecht findet, dann kann er es ja auch einfach wegwerfen. Dieter Roth aber behält es und gibt ihm den Titel «Scheisse». Ja, damit nicht genug: Er beschäftigt sich geradezu wie besessen mit diesen schlechten Gedichten und arbeitet sie über mehrere Bände hinweg weiter aus. Liegt da irgendwo der entscheidende Punkt?
Vischer: Ein entscheidender Punkt ist sicher, dass es sich dabei durchaus um gute Gedichte handeln kann. Roth schreibt ein gutes Gedicht, und das stimmt ihn unzufrieden, denn er will ja über die Konvention des guten Gedichts hinauskommen - und deshalb sagt er «Scheisse».
Aber wird da nicht auch ein Problem sichtbar, das wir Theoretiker oder Kunstkonsumenten mit diesen Gedichten haben? Roth schreibt ein schlechtes Gedicht und nennt es «Scheisse». Aber es darf einfach nicht sein, dass da in der Kunst etwas von schlechter Qualität ist, deshalb sagen wir eben: Ja, eigentlich ist es ein gutes Gedicht, obwohl er es «Scheisse» genannt hat - er hat sozusagen ein gutes Gedicht wider Willen geschrieben. Was vielleicht auch nur heisst, das wir Rezipienten noch stark in jenen Konventionen verhaftet sind, die Roth mit seiner «Kacke» sprengen wollte.
Vischer: Man kann das so sehen. Ich denke aber, dass Roth diese Gedichte nicht nur «Scheisse» nannte, weil er etwa die von Hölderlin oder Heine besser fand. Es ging ihm um eine andere Qualität: Er fand seine Gedichte «Scheisse», eben weil sie einer Konvention entsprachen.
Spannender aber wäre es ja wohl, wenn diese Gedichte weder besonders gut wären noch besonders schlecht, sondern eben mittelmässig, wie so vieles auf dieser Welt. Die Frage ist nur, ob das denn in der Kunst einen Platz hätte.
Walter: Ich glaube, dass die Gedichte von sehr unterschiedlicher Qualität sind. Und das ist vielleicht typisch für Roth: diese Schwankungen in der Qualität. Es kommt alles ins Buch: die guten Gedichte genauso wie die schlechten oder die mittelmässigen.
Vischer: Das ist ein wichtiger Punkt: Quantität ist wichtiger als Qualität - das war eine zentrale Losung von Dieter Roth. Er hat keine Auswahl getroffen.
Wirklich nicht?
Vischer: Nein, das sieht man ja schon an der schieren Masse von Werken, die er hinterlassen hat. Sicher gab es für ihn gewisse Qualitätskriterien - aber ausgewählt hat er nicht.
Walter: Nehmen wir zum Beispiel «Flacher Abfall»: Da hat Roth einfach als Kriterium festgelegt, dass etwas nicht höher als einen Zentimeter sein dürfe - und hat dann über einen gewissen Zeitraum hinweg systematisch und täglich wirklich alles gesammelt, was diesem Kriterium entsprach.
Gut, aber was ist denn nun die Qualität von Roths Arbeit selbst?
Walter: Vielseitigkeit und Offenheit - seine Fähigkeit, auf Dinge einzugehen und zu reagieren, Neues auszuprobieren.
Vischer: Normalerweise hat ein Künstler in seinem Werk einen Höhepunkt - und wenn er diesen erreicht, dann kann er froh sein. Roth gehört zu den wenigen Künstlern dieser Welt, die viele Höhepunkte haben und ein langes, sich über fünfzig Jahre erstreckendes Werk. Das hat natürlich auch wieder damit zu tun, dass er immer alles auf die Spitze getrieben hat: Wenn er selbst in seiner Biografie an einen gewissen Punkt gelangt war oder sein Werk eine gewisse Perfektion erreicht hatte, dann musste er das wieder stoppen - und neu anfangen.

Roth-Zeit. Eine Dieter-Roth-Retrospektive. Schaulager, Basel. Bis 14. September. Anschliessend wird die Ausstellung im Museum Ludwig, Köln, und im MoMA Queens und im PS1 in New York gezeigt. Katalog Fr. 49.-.



© Pro Litteris
Systematik bis ins letzte Detail des Chaos. Dieter Roth: «Gartenskulptur», 1968-1996. (Bild her)



erschienen in NZZ, FEUILLETON, 9. August 2003 Nr. 182 58